Evaluation : Welche Fragen sollten Schulen sich jetzt stellen?

Während des Lockdowns haben Schulen viel experimentiert. Jetzt ist es an der Zeit, diese Erfahrungen auszuwerten. Was haben die Kinder und Jugendlichen gelernt, welche Instrumente haben sich beim Distanzlernen bewährt, was sollte verändert werden, und welche Maßnahmen kann man in Zukunft lieber ganz lassen? Das Schulportal hat mit Günter Klein, Direktor des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW), darüber gesprochen, warum gerade jetzt die Selbstevaluation so wichtig ist und wo die Schulen dabei Unterstützung bekommen. Eine Beispielbefragung ist im Download zu finden.
Schülerinnen und Schüler auf dem Schulweg
Wenn die Schülerinnen und Schüler wieder in den Präsenzunterricht kommen, geht es zunächst um die Evaluation des Online-Unterrichts.
©Hauke-Christian Dittrich/dpa

Schulportal: Viele Schulen haben in den vergangenen Wochen Konzepte für den Distanzunterricht entwickelt. Doch wie finden sie heraus, ob diese auch tatsächlich funktioniert haben und wo Nachbesserungen nötig sind?
Günter Klein:
Bei einer so disruptiven Entwicklung, wie wir sie jetzt mit dem Distanz- und Wechselunterricht erleben, muss man sich immer wieder fragen, wie gut die pädagogischen Ziele erreicht werden. Wie gut kommen die Schülerinnen und Schüler mit der Situation zurecht, wie verläuft der individuelle Lernprozess?

Günter Klein
Günter Klein
©privat

Dabei ist es wichtig, immer wieder auch auf die Lernentwicklung zu schauen, das heißt, die Lernstandserhebung sollte wiederholt stattfinden. Nur so kann man sehen, ob ein Lernzuwachs in bestimmten Kompetenzbereichen stattfindet, ob die Entwicklung stagniert oder ob es sogar einen Rückschritt gibt.

Zudem müssen wir uns fragen, welche Qualitätsstandards es für den Distanzunterricht gibt und wie gut sie erreicht werden. Wir wissen zum Beispiel, dass eine stabile Lehrer-Schüler-Beziehung für das Lernen essenziell ist. Wie gut klappt diese Beziehung auch im Distanzunterricht? Sich diese Frage unerschrocken zu stellen ist wichtig, denn nur so wird deutlich, wo es Änderungsbedarf gibt. Evaluationen sind da ausgesprochen wertvoll und Ausdruck eines professionellen Verhältnisses zur eigenen Praxis.

Oft sind Schulen während der Corona-Pandemie schon damit überfordert, den täglichen Betrieb aufrechtzuerhalten. Was würden Sie Schulen raten, um hier den Aufwand gering zu halten, ohne dass die Evaluation unter den Tisch fällt?
Zunächst würde ich raten, zu schauen, welche Angebote es von den Landesinstituten schon gibt. In der Regel stellen alle Landesinstitute geeignete Evaluationsinstrumente zur Verfügung, die auch digital eingesetzt werden können. Das bedeutet wenig Aufwand, weil auch der Prozess der Auswertung und Ergebnisaufbereitung weitgehend automatisiert läuft. Zudem genügen diese Instrumente bestimmten Qualitätsstandards. Natürlich ist es auch sinnvoll, wenn Schulen eigene Instrumente entwickeln. Aber in einer Situation, in der die Schulen sehr gefordert sind, würde ich empfehlen, nach bereits vorhandenen Instrumenten zu schauen. In Baden-Württemberg haben wir zum Beispiel beim IBBW ein Befragungsportal eingerichtet, auf dem es verschiedene Fragebögen zum Download gibt, auch aktuell zum Distanzunterricht.

Gerade wenn Schulen unter hohem Druck arbeiten müssen, sollten sie darauf achten, wie sie ihre Energie zielgerichtet einsetzen.

Evaluation sollte gerade in schwierigen Situationen nicht als lästiger Mehraufwand gesehen werden. Im Gegenteil: Gerade wenn Schulen unter hohem Druck arbeiten müssen, sollten sie darauf achten, wie sie ihre Energie zielgerichtet einsetzen. Die Rückmeldungen geben Aufschluss darüber, was sich lohnt und was man anders machen oder auch weglassen könnte.

Häufig wird der Begriff „Evaluation“ damit assoziiert, dass es darum geht, Schwächen und Probleme aufzuzeigen. Das ist aber nur ein Teil. Evaluation zeigt vor allem auch Erfolge, Stärken, Dinge, die sich sehr bewährt haben. Das ist für das Selbstbewusstsein der Schulen und für den zielgerichteten Einsatz von Ressourcen von immenser Bedeutung.

Wie können Schulen am besten vorgehen? Welche Fragen sind jetzt wichtig?
Am Anfang einer jeden Evaluation steht eine Frage: Was möchte ich eigentlich erfahren, wo bin ich mir nicht sicher? Das können ganz unterschiedliche Dinge sein. Im Rahmen des Distanzunterrichts geht es auch um den Kern der pädagogischen Arbeit. Corona hat uns gezeigt, worauf es in der Pädagogik tatsächlich ankommt: individualisiertes Lernen, Verlässlichkeit und Struktur, genaues Hinschauen, sprich pädagogische Diagnostik, und gezieltes formatives Feedback sowie vor allem Beziehungsarbeit. Das alles könnte und sollte Gegenstand einer Reflexion sein. Wir wissen zudem, dass für das Distanzlernen dieselben Prinzipien guten Unterrichts gelten wie für den Präsenzunterricht. Entscheidend sind die Tiefenstrukturen, nicht die sichtbaren Strukturen. Sind die Aufgaben tatsächlich anregend, fordern sie zum vertieften Nachdenken oder sind es reine Wiederholungsaufgaben? Inwieweit gebe ich Feedback und unterstütze Lernprozesse? Wir wissen auch, dass ein klar strukturierter Unterricht ein Erfolgsfaktor für die Wirksamkeit ist. Das gilt auch für das Distanzlernen – gerade für Kinder, deren Selbstregulation noch schwach ausgeprägt ist. Das sind nur einige Beispiele, die auch bei der Evaluation eine Rolle spielen können.

Welche Gruppen sollten bei der Evaluation einbezogen werden?
Man sollte immer diejenigen befragen, die etwas zum Gegenstand der Frage sagen können. Eltern zum Präsenzunterricht zu befragen macht wenig Sinn, weil sie nicht dabei sind. Aber Eltern im Rahmen des Distanzunterrichts zu befragen, wie sie ihr Kind im Unterricht zu Hause erleben, wie gut es mit den Aufgaben klarkommt etc., ist sehr sinnvoll. Schülerinnen und Schüler können zum Beispiel sehr gut beantworten, ob die angebotenen Hilfestellungen ausreichend sind oder ob die Aufgaben wirklich anregend sind. Und Lehrerinnen und Lehrer können darüber Auskunft geben, wo es etwa an technischen Möglichkeiten fehlt, wie der Kontakt zu den Eltern klappt, und zu vielem mehr. Auch Schulleitungen sollten befragt werden. Ich empfehle sehr, nicht nur eine Gruppe zu befragen. Erst aus der Mehrperspektivität ergibt sich ein gehaltvolles Gesamtbild.

Welche Frageformen eignen sich am besten?
Wenn Sie von einem Thema noch wenige Vorstellungen haben und erst mal herausfinden wollen, wo Sie besonders hinschauen müssen, sind offene Fragen immer hilfreich. Man muss aber bedenken, dass der Aufwand bei der Auswertung bei offenen Fragen besonders hoch ist, auch wenn diese inhaltlich gehaltvoller sein können. Wenn Sie eine gezielte vertiefte Rückmeldung wollen, dann sind geschlossene Fragen, zum Beispiel mit einer Ratingskala, hilfreich. Geschlossene Fragen können auf Knopfdruck ausgewertet werden. Die Digitalisierung hat uns da einen Quantensprung ermöglicht. Es gibt zudem sehr einfache und auch digitale Feedbackinstrumente, die nur wenige Minuten Zeit benötigen und sofort das Ergebnis zeigen. Natürlich sollte man auch beachten, dass lange Fragebögen beim Ausfüllen nicht immer motivierend sind. Ich empfehle deshalb, auch im Sinne der Datensparsamkeit, grundsätzlich nur das zu fragen, was auch in Handlungen umgesetzt werden kann.

Wo gibt es diese Instrumente für Evaluation und Feedback, und wie können Schulen bei der Auswahl dort beraten lassen?
Wie schon gesagt: Die Landesinstitute bieten geeignete Instrumente an. Wir haben uns über die Bundesländer hinweg auf einen Kooperationsverbund verständigt. Alle Instrumente, die in dem einen Land entwickelt werden, stehen grundsätzlich auch allen anderen zur Verfügung. Teilweise werden Instrumente auch gemeinsam entwickelt – dabei haben wir uns auf gewisse Qualitätskriterien verständigt. Hinzu kommen sehr spezielle Instrumente, wie beispielsweise VERA (der Name VERA steht für Vergleichsarbeiten in der 3. und 8. Jahrgangsstufe) vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB). Das Institut stellt alte Aufgaben der Vergleichsarbeiten zum freiwilligen Einsatz zur Verfügung.

Und an der Universität Tübingen wurden beispielsweise sehr gute Instrumente für Schülerbefragungen entwickelt, die wir auf unserem Portal mit anbieten. Es gibt also ein breites Angebot.

Schulen können sich in den jeweiligen Landesinstituten beraten lassen, welches Instrument für den gewünschten Aspekt passend ist. Auch für Schulen, die eigene Instrumente entwickeln wollen, gibt es Hinweise, was dabei beachtet werden sollte, damit die Antworten dann tatsächlich aussagekräftig sind.

Wie unterscheidet man bei der Evaluation am besten, was für den Unterricht unter Pandemiebedingungen gut ist und was für die Zukunft im Normalbetrieb?
Das sind tatsächlich zwei unterschiedliche Fragestellungen: In dem einen Fall geht es darum, wie der Distanzunterricht jetzt weitergeht, in dem anderen Fall steht die Frage im Vordergrund, welche Erfahrungen aus der Corona-Pandemie positiv waren und was wir davon beibehalten wollen.

Die letztere Frage ist dringend notwendig, sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch auf der Ebene der Schule. In den vergangenen Wochen wurde sehr viel Geld in das System gepumpt, um es digital arbeitsfähig zu machen. Es wäre furchtbar, wenn wir nach Corona überspitzt sagen würden, wir gehen jetzt zurück an die Tafel. Wir sollten uns jetzt schon fragen, was auch unabhängig von der Pandemiesituation sinnvoll ist. Wir könnten beispielsweise Einführungsphasen in Distanz- und Vertiefungsphasen im Präsenzunterricht kombinieren. Oder geeignete digitale Trainingsprogramme für eine gezielte individuelle Förderung nutzen. Oder Lehrkräfte könnten sich in Videokonferenzen von Schülerarbeitsgruppen für ein paar Minuten einschalten und Fragen beantworten. Es wäre unverantwortlich, wenn wir all diese Erfahrungen jetzt nicht konsolidieren würden.

Es wäre unverantwortlich, wenn wir all diese Erfahrungen jetzt nicht konsolidieren würden.

Wie stellt man sicher, dass die Ergebnisse solcher Befragungen auch tatsächlich in die weitere Schulentwicklung einfließen und nicht in Schubladen verschwinden?
Jede Schule sollte sich klarmachen, was sie als hilfreich erfahren hat – auch im Umgang mit digitalen Medien. Das sollte dann auch in einem Schulprogramm oder Schulcurriculum fixiert werden. Und dann ist es wichtig, nach einem gewissen Zeitraum wieder zu evaluieren, ob die erwünschten Effekte tatsächlich erreicht wurden. Schulen sollten auch genau überlegen, an welcher Stelle sie Unterstützungsbedarf haben und wie dieser organisiert werden kann – intern, extern oder durch Netzwerke. Zudem ist auch die politische Ebene gefragt. Rechtliche Einschränkungen im Regelbetrieb müssten neu diskutiert werden.