Expertenstimme

Bildungsgerechtigkeit : „Ungleiches ungleich behandeln“

In der Corona-Pandemie wird besonders deutlich, wie unterschiedlich die Startbedingungen für Schülerinnen und Schüler sind und wie stark ihr Bildungserfolg vom sozioökonomischen Hintergrund der Familie abhängt. In seinem Gastbeitrag für das Schulportal erläutert Erziehungswissenschaftler Jakob Erichsen, wie die pädagogische Unterstützung in der Schule aussehen kann, um die ungleichen Voraussetzungen zu kompensieren. Er plädiert dafür, Ungleiches ungleich zu behandeln, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen.

Jakob Erichsen
Ungleiches ungleich verteilen Gießkanne
Die Ressource der pädagogischen Unterstützung wird beim Gießkannenprinzip undifferenziert über alle gleich verteilt.
©Crotography/Getty Images

Ende Januar 2021 hat eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragte Kommission Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungleichheit im deutschen Schulsystem vorgelegt. In der medialen Debatte wurde dabei insbesondere eine langfristige Perspektive hervorgehoben und zum Grundsatz erklärt: „Ungleiches ungleich behandeln“. Die dahinterstehende Idee, besonders viele Ressourcen sowohl für benachteiligte Schulen als auch für benachteiligte Schülerinnen und Schüler aufzubringen, klingt bestechend einfach, ist in der Umsetzung aber schwierig und wird kontrovers diskutiert.

Mit diesem Prinzip wird die Frage gestellt, wie Ressourcen verteilt werden sollen. Die Perspektive, die hier eingenommen wird, ist die Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit. Die Kontroverse um das Prinzip kann beispielhaft an einem Gut diskutiert werden, das begrenzt verfügbar ist, dessen Relevanz für den schulischen Erfolg aber kaum zu hoch eingeschätzt werden kann: die professionelle pädagogische Begleitung durch kompetente Lehrkräfte. Schematisch vereinfacht ist es nämlich so, dass wenn X besonders viel davon bekommt, für Y weniger übrig bleibt.

Idealtypisch kann man in demokratischen Gesellschaften drei Varianten unterscheiden, in denen das Verhältnis von professioneller pädagogischer Unterstützung und tatsächlichem Bedarf organisiert wird.

Typ 1: Das Gießkannenprinzip

Das „Gießkannenprinzip“ bedeutet, dass alle dasselbe zur selben Zeit im selben Raum bekommen. Die Ressource der pädagogischen Unterstützung wird hier undifferenziert über alle gleich verteilt.

Das ist das Konzept, das von zahlreichen Befürworterinnen und Befürwortern des individualisierten Unterrichts als ein Übel angeführt wird, das es zu überwinden gilt. Kritisiert wird das Prinzip unter anderem, weil es sich an einem imaginierten Leistungsmittel orientiert. Damit kann es allen, die nicht zu dieser Mitte gehören, nicht gerecht werden. Die Leistungsschwachen steigen aus, und die Leistungsstarken langweilen sich.

Typ 2: Der individualisierte Unterricht

Das Modell des „individualisierten Unterrichts“ zielt darauf ab, alle Kinder und Jugendlichen individuell zu fördern und den Unterricht so aufzubauen, dass Klassen binnendifferenziert unterrichtet werden. Alle Kinder sollen dort abgeholt werden, wo sie stehen, und dabei unterstützt werden, ihr volles Potenzial zu entfalten. Im Mittelpunkt dieses Modells steht das Individuum, das bestmöglich gefördert werden soll. Die Ressource der pädagogischen Unterstützung wird hier zeitlich weiterhin gleich verteilt. Alle Kinder bekommen gleich viel pädagogische Aufmerksamkeit, differenziert wird lediglich inhaltlich: Die Leistungsstarken erhalten andere Aufgaben als die Leistungsschwachen.

Das Konzept des individualisierten Unterrichts bemüht sich darum, Verschiedenheit in der schulischen Praxis anzuerkennen und trotzdem dem Prinzip der Gleichbehandlung gerecht zu werden. Gleichbehandlung hat aber nicht automatisch kompensatorische Effekte. Sie löst nicht die empirisch gut belegten Leistungsdifferenzen zwischen Kindern aus sozial benachteiligten Familien und Kindern aus privilegierten Elternhäusern auf. Im Gegenteil: Selbst wenn man von der empirisch nicht gestützten Annahme ausgeht, dass alle Kinder in gleichem Maße von der individuellen Betreuung profitieren, führt dies lediglich zur Zementierung des Abstands, der zum Start der Schullaufbahn bestand.

Da wir aus der empirischen Forschung wissen, dass Kinder aus sozial privilegierten Familien mit deutlichen Startvorteilen in die Schulen kommen, bleibt das Kernproblem der sozialen Ungleichheit bestehen: Askriptive, von vorherein zugeschriebene Faktoren haben entscheidenden Einfluss auf den schulischen Erfolg und damit auf die Verteilung von Lebenschancen. Dies steht in einem eklatanten Widerspruch zu den normativen Leitbildern einer demokratischen Leistungsgesellschaft.

Typ 3: Ungleiches ungleich behandeln

Im dritten Typ werden weiterhin alle gefördert, die am wenigsten Bevorteilten allerdings am meisten. Die Ressource der pädagogische Unterstützung kommt also weiterhin allen zugute. Auch um die begünstigten Kinder kümmern sich die Lehrkräfte, allerdings weniger als um die benachteiligten Kinder. Nach diesem schulpolitischen Leitprinzip werden Entscheidungen so getroffen, dass sie den am wenigsten Bevorteilten am meisten nutzen.

Die große Stärke dieses Prinzips ist, dass es sich um gesellschaftliche Annäherung bemüht und damit aussichtsreich gegen die immer weiter auseinanderklaffende Schere der sozialen Ungleichheit wirken kann. Es ist ein Modell, das sich nicht ausschließlich am individuellen Vorankommen orientiert, sondern die gesellschaftspolitische Kompensationsaufgabe der Schule ernst nimmt.

Angesichts massiver sozialer Ungleichheiten und damit verbundener Probleme sollten wir nicht vergessen, dass die Förderung von Gleichheit durch Ungleichbehandlung, gerade in der Schule, ein Zugewinn an Freiheit für viele benachteiligte Kinder und Jugendliche verspricht. Bestenfalls eröffnen sich für diese Kinder neue Lebenschancen in Form von erweiterten Bildungs- und Berufsoptionen, die ihnen ohne die kompensatorische Ungleichbehandlung nicht offenständen.

Die praktische Umsetzung des Prinzips ist allerdings konfliktträchtig. Wie und auf welcher Grundlage soll entschieden werden, wer wie viel pädagogische Unterstützung erhält? Zählt die gezeigte Leistung als Kriterium oder der sozioökonomische Hintergrund? Und wenn die weniger bevorteilten Kinder wirklich mehr bekommen: Wo kommen diese Ressourcen her? Werden zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer eingestellt, oder wird der pädagogische Unterstützungsaufwand für die privilegierten Kinder reduziert?

Corona-Pandemie als Chance, Ideen für mehr Chancengerechtigkeit umzusetzen

Sollte das Prinzip „Ungleiches ungleich behandeln“ überhaupt auf einzelne Schülerinnen und Schüler angewendet werden? Oder wäre es sinnvoller, das Prinzip auf Schulen anzuwenden? Würde man damit Schulen in schwieriger Lage stärken, sie attraktiver machen und damit langfristig vielleicht sogar bestehenden Segregationstendenzen entgegenwirken? Eine Idee, die in zahlreichen Debatten bereits diskutiert wird – zum Beispiel, wenn überlegt wird, Schulen in besonders herausfordernden Lagen mit mehr Personal auszustatten.

Im Kontext von Corona-Pandemie und Homeschooling ist das seit Jahrzehnten bestehende Problem der sozialen Ungleichheit erneut in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt. Es ist zu wünschen, dass einige der nun eingebrachten Lösungsvorschläge in die Zeit nach der Corona-Pandemie gerettet und ernsthaft diskutiert werden. Sich vom Prinzip der Gleichbehandlung zu verabschieden ist ein diskussionswürdiger und komplexer Vorschlag, um mehr Chancengerechtigkeit zu ermöglichen.

Zur Person

  • Jakob Erichsen promoviert derzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin in Erziehungswissenschaften.
  • Er beschäftigt sich mit den Themen soziale Ungleichheit, Meritokratie, Elitebildung und mit der Frage, welche Rolle Zukunftserwartung in bildungspolitischen Debatten spielt.
  • Als Student war er Mitgründer des Vereins Kreidestaub – einer bundesweiten Initiative von Studierenden aus dem Bildungsbereich.
  • Darüber hinaus ist er Mitinitiator vom „Prinzip Lernreise“. Dieses neue Format für die Lehr­amtsausbildung schickt Studierende auf selbst organisierte Reisen zu den interessantesten Schulen Deutschlands und diskutiert praxisnah, was eine gute Schule ausmacht.