Umfrage : Wie Förderschulen die Corona-Krise bewältigen
Fernunterricht nach den Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler zu gestalten ist an Förderschulen eine besonders große Herausforderung. Das zeigt auch eine Umfrage an der Universität Würzburg, die während der Corona-Krise unter Lehrkräften an Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung durchgeführt wurde. Und am Beispiel der Mosaikschule in Marburg lässt sich sehen, wie gut der Einsatz digitaler Medien auch an Förderschulen funktionieren kann.

Auf die Frage, was denn am wichtigsten gewesen sei in den Wochen der Schulschließung, muss Susanne Geller nicht lange überlegen: „Immer in Kontakt zu bleiben“, sagt die Schulleiterin der Mosaikschule im hessischen Marburg, einer Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. Bis die ersten der insgesamt 82 Schülerinnen und Schüler Mitte Mai wieder in den Präsenzunterricht zurückkehren konnten, haben die Lehrkräfte mit den Kindern und Eltern viel telefoniert und über Video kommuniziert. „Und dort, wo die Erreichbarkeit schwierig oder die Eltern ihre Kinder nicht unterstützen können, haben sie auch die ,Rotkäppchen-Tour‘ gemacht“, erzählt Susanne Geller. Wie Rotkäppchen der Großmutter Brot und Wein vorbeibringt, sind sie von Kind zu Kind gefahren und haben individuell zusammengestellte Lernmaterialen übergeben.
Die Kinder und Jugendlichen mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sind in besonderem Maße auf den persönlichen Kontakt zu den Lehrkräften angewiesen. Den Präsenz- durch Fernunterricht zu ersetzen ist hier noch schwieriger als an anderen Schulen. „Allein die Konzentrationsspanne ist im Videounterricht deutlich kürzer“, so die Erfahrung der Schulleiterin.
Videounterricht funktioniert auch mit gehörlosen Kindern
Um mit den Schülerinnen und Schülern wenigstens in Sichtkontakt zu bleiben, wurden in der Mosaikschule die interaktiven Tafeln mit Webcams ausgestattet, sodass die Lehrkraft auch bei den Kindern zu Hause zu sehen war. „Bei einem gehörlosen Schüler konnten wir auch die Assistenz dazuschalten, die für ihn gebärdet hat“, erzählt Susanne Geller.

Dass das Lernen zu Hause an der Mosaikschule überhaupt funktioniert, liegt vor allem daran, dass die Förderschule schon vor der Corona-Krise verstärkt digitale Medien im Unterricht eingesetzt hat und die Schülerinnen und Schüler gewohnt sind, mit interaktiven Tafeln, Lerncomputern und Tablets zu arbeiten. Teilweise haben sie die Geräte auch schon vorher zum selbstständigen Lernen mit nach Hause genommen. Die Schule hat ein eigenes Medienkonzept entwickelt, in dem festgelegt ist, welche Medien didaktisch und methodisch im Unterricht eingesetzt werden können. Die digitalen Medien ermöglichen es den Kindern, im eigenen Tempo zu lernen, und erleichtern die unterstützte Kommunikation.
Auch Christoph Ratz hält den Einsatz digitaler Medien an Förderschulen für wichtig und sinnvoll. Der Professor für Pädagogik bei geistiger Behinderung an der bayerischen Universität Würzburg weiß aber, dass die meisten Schulen hierzulande weniger weit entwickelt sind als die Mosaikschule. Und das zeigt auch eine Befragung, die Ratz und sein Team in Anlehnung an das Deutsche Schulbarometer Spezial zur Corona-Krise unter Lehrkräften von Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung in Bayern durchgeführt hat. Mehr als 400 ausgefüllte Fragebögen zu den Erfahrungen während der Schulschließungen bekam er zurück. Die Ergebnisse der Befragung liegen dem Schulportal exklusiv vor.
Demnach machten die Lehrkräfte von Förderschulen für geistige Entwicklung in den meisten Bereichen erheblich mehr Defizite aus als die Lehrerinnen und Lehrer an anderen Schulen. „Wie unter einem Brennglas werden an Förderschulen alle von der Corona-Krise ausgelösten Probleme besonders sichtbar“, sagt Ratz. So sahen 62 Prozent der Förderschullehrkräfte die mangelnde digitale Ausstattung als größtes Problem. Bei anderen Schularten waren es nur 28 Prozent.
Deutlich schwieriger als an anderen Schulen ist offenbar auch die Förderung von Schülerinnen und Schülern aus sozial schwierigem Umfeld: 61 Prozent der Lehrkräfte von Förderschulen sahen darin eine Herausforderung, bei anderen Schulen waren es 13 Prozent. Und mit 57 Prozent – gegenüber 14 Prozent an anderen Schulen – wurde der fehlende persönliche Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern als problematisch betrachtet. Für Ratz ist das wenig erstaunlich: „Je größer die Einschränkung ist, desto wichtiger ist die Präsenz.“
Fehlender persönlicher Kontakt zu den Kindern ist an Förderschulen besonders problematisch
Für die meisten Förderschulen war wie auch bei der Mosaikschule das Telefon der am meisten genutzte Kommunikationsweg, um den Kontakt zu halten. Da deutlich weniger Kinder in einer Förderklasse als in einer regulären Klasse sind, sei der damit verbundene Zeitaufwand eher machbar, sagt Ratz. 85 Prozent haben während der Schulschließungen über das Telefon kommuniziert – an Grundschulen waren es 54 Prozent, an Gymnasien nur 27 Prozent. Hier wurden für die Kommunikation digitale Plattformen stärker genutzt.
Positiv überrascht ist Ratz darüber, wie häufig trotz der schlechten Ausstattung viele Förderschulen dennoch digitale Medien eingesetzt haben, um den Unterricht fortzuführen. Zwar wurden an den Förderschulen die meisten Aufgaben auf Papier übermittelt, aber immerhin nutzte mehr als jede dritte Lehrkraft demnach auch digitale Angebote oder Apps, und 26 Prozent stellten die Aufgaben auf digitalen Lernplattformen ein.
Ratz ist auch davon überzeugt, dass noch mehr Lehrkräfte an Förderschulen mit digitalen Plattformen arbeiten würden, wenn diese barrierefrei wären. „Die gängigen Lernplattformen sind aber nicht auf Förderschulen ausgerichtet. Sie basieren im Wesentlichen auf Schriftsprache und sind damit für die meisten Schülerinnen und Schüler mit geistiger Behinderung ungeeignet, weil viele nicht lesen können“, erklärt er. Eine Bedienung über Piktogramme ist aber zum Beispiel nicht vorgesehen. Ratz plant daher jetzt, an seinem Lehrstuhl auf der Basis von „Moodle“ eine digitale Lernplattform speziell für die Bedürfnisse von Förderschulen zu entwickeln. Noch sind die Fördergelder dafür aber nicht bewilligt.
Digitale Lernplattformen für Förderschulen brauchen niedrigschwelligen Einstieg
Eine Lernplattform mit einem niedrigschwelligen Einstieg sei auch nicht nur für Förderschulen wichtig. Letztlich müsse sie überall genutzt werden, wenn man Inklusion ernst nehme. An einer inklusiven Schule könne man ja nicht mit zwei unterschiedlichen Lernplattformen arbeiten. „Ausgangspunkt muss immer das schwächste Glied sein“, betont Ratz.
In der Corona-Krise kann Susanne Geller von der Mosaikschule davon aber nicht viel spüren. Sie hätte sich da mehr Unterstützung gewünscht. Bei der Planung der Wiedereröffnung von Schulen seien in Hessen die Förderschulen zuerst gar nicht berücksichtigt worden. „Es ist schon erschütternd, dass in Zeiten, in denen alle über Inklusion sprechen, Förderschulen nicht mitgedacht werden.“ Und jetzt seien sie in der Umsetzung der vielen Auflagen auch weitgehend auf sich allein gestellt.
Das fängt schon mit dem Transport zur Schule an. Wenn die Kinder nicht in der Lage sind, Abstandsregeln einzuhalten, können sie nicht im Bus fahren, und es muss eine alternative Transportmöglichkeit für sie gefunden werden. Andernfalls müssen sie weiterhin zu Hause bleiben.
In den Klassenräumen ist die Einhaltung der Hygieneregeln ebenfalls eine große Herausforderung. Bei der Mosaikschule sitzen nun drei bis vier Schülerinnen und Schüler in einem Raum. Jedes Kind hat zwei Tische. An einem arbeitet es, auf dem zweiten daneben stehen seine Arbeitsmaterialien. So soll gewährleistet werden, dass sich die Kinder möglichst wenig im Raum bewegen. „Wir haben extra für jedes Kind eigene Stifte angeschafft, damit nichts gemischt wird“, erklärt Susanne Geller. Die Kinder einer Klasse sind in zwei bis drei Teilgruppen aufgeteilt. Über die Webcam kann eine Teilgruppe aber Kontakt zu einer anderen in einem anderen Raum aufnehmen.

An den Förderschulen wird es noch länger dauern, bis wieder Normalität einkehrt
Von Montag bis Donnerstag sind die Kinder jetzt wieder vormittags in der Schule. Am Freitag gibt es weiterhin Fernunterricht – für die Kinder, die zu einer Risikogruppe gehören und noch nicht wieder in die Schule zurückkehren können. Der Fernunterricht findet für sie bei Bedarf dann sogar in einer Eins-zu-eins-Betreuung statt.
Bis an den Förderschulen der Präsenzunterricht wieder wie vor der Corona-Krise läuft, wird wohl noch mehr Zeit vergehen als an anderen Schulen. „Eine so hohe Belastung über einen so langen Zeitraum macht etwas mit den Kindern“, so die Überzeugung von Susanne Geller, „es wird schon einige Zeit dauern, das wieder aufzufangen.“
Auch Christoph Ratz geht davon aus, dass einige Förderschulkinder noch für längere Zeit nicht in den Präsenzunterricht zurückkehren werden, weil sie zu einer Risikogruppe gehören. Und er glaubt, dass in Zukunft überhaupt mehr Kinder aus Sorge vor ansteckenden Krankheiten häufiger zu Hause bleiben werden. Für ihn ein weiterer Grund, besonders an Förderschulen digitalen Unterricht voranzubringen.