Zukunftskompetenzen trainieren : Wie eine Schule Deeper Learning erprobt

Das Gymnasium in Ellental ist eine von acht Pilotschulen in Baden-Württemberg, die mit ihren Schülerinnen und Schülern eine neue Lern- und Lehrform ausprobiert. Deeper Learning vereint verschiedene Ansätze wie interdisziplinäres, projektorientiertes, selbstorganisiertes und ko-konstruktives Lernen und soll Jugendliche auf die Lösung der Probleme der Zukunft vorbereiten. Das Schulportal hat sich vor Ort angesehen, wie das vertiefte Lernen in der Praxis aussieht und wie es das Lernen der Jugendlichen und auch die Rolle der Lehrkraft verändert.

Die Schülerinnen des Deeper-Learning-Kurses treffen sich mit ihren Lernbegleiterinnen in der Bibliothek.
©Chiara Bellamoli
Schüler in der Sitzecke
In der Sitzecke der Bibliothek tauschen sich die Schülerinnen und Schüler über ihre Erfahrungen mit der neuen Lernform aus.
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Das Ellentalgymnasium liegt in der Nähe von Stuttgart.
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Lehrerin Nicole Stockmann schreitet etwa zehn Meter in der lichtdurchfluteten Bibliothek ab, während die Gruppe ihrer Schülerinnen am Ausgangspunkt stehen bleibt. „Stellt euch vor, ihr steht an der Startlinie und ich am Ziel des Projekts, wie weit seid ihr auf dieser Strecke?“, ruft sie ihnen zu. Die Mädchen schauen sich an, gehen zögerlich nach vorn – drei Schritte, vier, oder vielleicht doch wieder einen Schritt zurück? Am Ende bleiben alle irgendwo in der ersten Hälfte der Strecke stehen. In den vergangenen zwei Wochen haben sie für sich allein oder in kleinen Teams zu Hause an ihrer Aufgabe gearbeitet, nur alle 14 Tage treffen sie sich alle gemeinsam zum Austausch untereinander und mit ihren beiden Lernbegleiterinnen Nicole Stockmann und Andrea Borowski.

Die Schülerinnen lernen am Gymnasium im Ellental nordwestlich von Stuttgart. Die Schule gehört zu einem Netzwerk von acht Schulen in Baden-Württemberg, die sich am Pilotprojekt „Deeper Learning“ beteiligen. Die Schulen werden dabei wissenschaftlich begleitet von Anne Sliwka, Professorin der Universität Heidelberg, und von Britta Klopsch vom Karlsruher Institut für Technologie. Unterstützt wird das Netzwerk von der Robert Bosch Stiftung.

Was bedeutet Deeper Learning?

Deeper Learning ist eine neue Lehr- und Lernform, die ursprünglich aus den USA stammt. Dabei geht es nicht allein um Wissensaneignung, sondern um vertieftes Lernen durch Forschen und Handeln. Das Lernsetting ist interdisziplinär und zielt auf eine ko-konstruktive und ko-kreative Problemlösung. Die viel zitierten Zukunftskompetenzen Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität sollen beim Deeper Learning gefördert werden.

Wie kann das in der Praxis aussehen, wie erleben Schülerinnen und Schüler die neue Pädagogik und wie verändert sich die Arbeit der Lehrkräfte?

Am Ellentalgymnasium treffen sich die Schülerinnen der elften Klasse an diesem Nachmittag zu ihrem Seminarkurs „Climate Change Conference“. Es ist der zweite Kurs, in dem die Schule die neue Pädagogik ausprobiert. In diesem Fall haben sich nur Mädchen in den freiwilligen Kurs eingeschrieben. Es gehörte Mut dazu, denn niemand hat Erfahrung mit dieser Art des Lernens, und am Ende gibt es eine abiturrelevante Note.

Schulleiterin Nicole Stockmann ist zufällig auf das Deeper Learning gestoßen.
©Chiara Bellamoli

„Der Notendruck der Schülerinnen und Schüler beim Abitur macht es an Gymnasien in der Kursstufe etwas schwerer, solche innovativen Formate auszuprobieren, aber wir wollen beweisen, dass es trotzdem geht“, sagt Nicole Stockmann, Lehrerin und zugleich Schulleiterin. Eher zufällig sei das Kollegium auf einer Tagung auf das Deeper Learning gestoßen. „Wir hatten sofort das Gefühl, das passt zu uns“, sagt Stockmann. Fächerübergreifendes und digitales Lernen – zwei wichtige Elemente des neuen Ansatzes werden ohnehin schon im Fach NwT (Naturwissenschaft und Technik) in der Sekundarstufe I praktiziert. Doch Deeper Learning geht noch viel weiter. „Wir Lehrkräfte bestimmen nicht mehr, was und wie die Schüler und Schülerinnen lernen, das machen sie weitgehend selbst, die klassische Unterrichtsvorbereitung fällt weg, stattdessen reagieren wir als Lernbegleiter auf das, was von den Jugendlichen kommt“, sagt Stockmann.

Das falle gar nicht so leicht, sie sei froh, dass sie mit ihrer Kollegin Andrea Borowski den Kurs im Team begleitet, so können sie sich immer wieder beraten, gemeinsam nächste Schritte überlegen.

Die Jugendlichen bestimmen beim Deeper Learning ihre Themen selbst

Im Seminarkurs „Climate Change Conference“ haben die Schülerinnen im Alter zwischen 16 und 17 Jahren die Themen gewählt, die sie vertiefen wollen. Fest steht: Der Kurs verbindet die drei Fächer Englisch, Geografie und Biologie. Die Arbeitssprache ist Englisch, das übergeordnete Thema lautet Klimawandel. 75 Prozent der Kurszeit finden in der Schule statt, der andere Teil findet an einem selbstgewählten Lernort statt. Am Ende steht eine Konferenz, die die Schülerinnen gemeinsam organisieren. In welchem Rahmen, mit welchen Beteiligten, mit welcher Zielsetzung – alles ist offen.

Wichtig war, dass sich die Schülerinnen schon im Schuljahr zuvor auf die Themen festlegten, damit die Lernbegleiterinnen Texte, Videos oder Ansprechpersonen bereitstellen, die die Jugendlichen in ihrem Prozess unterstützen könnten.

Die 16-jährige Nika will sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf den Ski-Tourismus in Österreich beschäftigen. „Es war nicht so leicht, ein Thema zu finden, das man auch bewältigen kann“, sagt sie. Sie habe einige Ideen wieder verworfen, der Ski-Tourismus in Österreich schließlich sei überschaubar gewesen und auch näher an ihrem eigenen Leben dran. Schon seit sie klein ist, fährt sie regelmäßig nach Österreich in den Ski-Urlaub und hat selbst die Veränderungen beobachten können.

Schülerinnen beim Arbeiten
Sofie überlegt gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen, wie sie den Konferenzraum einrichten.
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Panel, Catering, Speaker - die Planung der Konferenz kann beginnen.
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Sofie will sich in das Thema Klimagerechtigkeit und indigene Völker vertiefen. „Ich finde es total spannend, was wir von indigenen Völkern über ein Leben im Einklang mit der Natur lernen können“, sagt sie. Gleichzeitig würden diese besonders unter den Folgen der Umweltzerstörung von außen leiden.

Am Ende des Kurses steht ein gemeinsames Ergebnis

Andere Schülerinnen haben Themen wie Fast Fashion, vegane Ernährung oder die Klimapolitik von US-Präsident Biden gewählt. Die Schwerpunkte könnten kaum unterschiedlicher sein, trotzdem arbeiten sie alle an einem gemeinsamen Ganzen: der Konferenz. Das Ziel muss von Anfang an mitgedacht werden. Die Schülerinnen wollen dafür Speaker einladen, eine Paneldiskussion organisieren, am Ende eine Petition verabschieden, eine gemeinsame Protestaktion machen oder Informationsmaterial erstellen. Das haben sie noch nicht genau festgelegt. Bisher steht lediglich das Datum im Juni.

Im selbstorganisierten Lernen zu Hause haben sie bereits Exposés erarbeitet für ihre Schwerpunktthemen und erste wissenschaftliche Texte dazu gelesen, all das in englischer Sprache. Der nächste Schritt ist die Facharbeit, davor haben die Mädchen Respekt, schließlich haben sie noch nie eine wissenschaftliche Arbeit in einer Länge von 10 bis 20 Seiten geschrieben und keine Erfahrung, wie lange sie dafür brauchen, erst recht in einer Fremdsprache. Sie alle haben sich digitale Zeitpläne erstellt und ein Reflexionstagebuch, so können die Lernbegleiterinnen jederzeit sehen, wo die einzelnen Schülerinnen gerade stehen, auch wenn sie nicht in der Schule arbeiten.

Die Arbeit mit den digitalen Tools ist für die Lehrkräfte und für die Schülerinnen und Schüler kein Problem, das Gymnasium ist eine der sogenannten 40 Tabletschulen. Alle Schülerinnen und Schüler ab der neunten Klasse wurden mit iPads ausgestattet. Der routinierte Umgang damit kommt ihnen beim Deeper Learning zugute.

An diesem Montag sitzen die Schülerinnen in der Bibliothek zusammen und entwerfen Themenräume für ihre geplante Konferenz. Um ins kreative Arbeiten zu kommen, erhalten sie bunte Stifte und große weiße Blätter. Erst will niemand den Anfang machen, dann sprudeln die Ideen. Nika möchte, dass die Konferenzteilnehmenden am Eingang des Raumes einen QR-Code scannen und an einer Umfrage teilnehmen. An der Wand könnte ein Video laufen, an einem anderen Tisch vielleicht eine Bowl mit spannenden Fakten auf gefalteten Zetteln. Auf jeden Fall sollen die Besucherinnen und Besucher des Raumes selbst aktiv werden können. Am Ende der 90 Minuten präsentieren die Teams einander gegenseitig ihre Skizzen. „Es ist sehr interessant, aber auch sehr herausfordernd, ich hoffe, dass es sich am Ende auch lohnt“, sagt Hannah.

Lernbegleiterin Andrea Borowski spricht mit zwei Schülerinnen darüber, wo sie jetzt stehen.
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Das Deeper Learning ist intensiver als andere Lernformen, die die Jugendlichen erlebt haben

Andrea Borowski kann die Unsicherheit verstehen. So ist es, wenn man etwas zum ersten Mal ausprobiert, das ging ihr selbst nicht anders. Ihren ersten Deeper-Learning-Kurs begleitete sie zusammen mit ihrem Kollegen Marco Heinzmann. Es fiel ihnen nicht leicht, den Schülerinnen und Schülern komplett freie Hand zu lassen und darauf zu vertrauen, dass am Ende ein gutes Ergebnis herauskommt. In diesem ersten Kurs ging es darum, digitale Escape-Rooms zum Thema Klimawandel zu erstellen. Die Schülerinnen und Schüler hatten die Inhalte bestimmt und Aufgaben selbst entwickelt, das Design und auch die Programmierung übernommen. „Wir waren ganz überrascht, wie toll und vielfältig die Ergebnisse am Ende waren“, sagt Andrea Borowski. Auch die Schülerinnen und Schüler selbst waren überrascht darüber, was sie zustande bringen können.

Fynn hat den Deeper Learning Kurs schon absolviert und war überrascht über die guten Ergebnisse.
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Nico fühlte sich motiviert, weil er mit seinem Team in der Umsetzung der Aufgabe so frei war.
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„Wir waren völlig frei, hatten keine Grenzen“, sagt Nico. „Das war eine neue Erfahrung. Wir waren total motiviert, wollten zuerst ganz viel, haben dann aber schnell gemerkt, dass das nicht alles zu schaffen ist, dass wir unser Vorhaben reduzieren müssen“, erzählt er. Zu dritt hätten sie einen Escape-Room kreiert, in dem es darum ging, in einer verlassenen Stadt herauszufinden, welche Katastrophe dort passiert sein könnte. „Wir haben dann schnell gemerkt, wo die Stärken der Teammitglieder lagen. Der eine hat an den Fragen gearbeitet, der andere an der technischen Umsetzung, der Nächste am Design.“

Sofia hat sich in der Schule nie so produktiv gefühlt wie beim Deeper Learning.
©Chiara Bellamoli

Sofia erzählt, wie sie dabei gelernt hat, ein langfristiges Projekt wie dieses zu planen. „Am Anfang haben wir viel Zeit vertrödelt, haben uns ewig unterhalten und sind immer wieder abgeschweift“, erzählt sie. Dann hätten sie plötzlich Panik bekommen, es gab schließlich eine Deadline. Von da an sei die Zusammenarbeit richtig intensiv geworden. „Wir haben uns auch abends, an den Wochenenden oder in den Ferien per Zoom getroffen“, sagt Sofia. Das sei so kreativ und so produktiv gewesen, wie sie es vorher noch nie erlebt hatte.

Und wie erleben die Lehrkräfte das neue Lehren mit Deeper Learning? „Man kann nicht auf Routinen oder bereits erstellte Unterrichtsvorbereitungen zurückgreifen, das macht es herausfordernd, aber auch unglaublich erfüllend. Ich freu mich sehr auf das Ausprobieren von neuen Deeper-Learning-Einheiten“, sagt Lehrer Marco Heinzmann.

Online-Veranstaltungen zum Deeper Learning

Sie möchten mit Ihren Kolleginnen und Kollegen Deeper Learning ausprobieren und ein Deeper Learning-Unterrichtsvorhaben umsetzen? Wir freuen uns darauf, Sie dabei zu unterstützen! In fünf aufeinander aufbauenden Modulen begleiten wir Sie in der Vorbereitung Ihrer Unterrichtseinheit. Anmeldeschluss ist am 10. April um 20 Uhr.

Online-Veranstaltung 11. April 2024 | 16:30 Uhr

Deeper Learning gestalten: innovative Praxis an der eigenen Schule umsetzen

Zur Anmeldung

In dem Video erklärt Bildungsforscherin Anne Sliwka das Phasenmodell des Deeper Learning, die Lehr-Lernprozesse, die Lernziele sowie die veränderte Rolle von Lehrkräften.

Das Pilotprojekt „Deeper Learning“

Das Pilotprojekt Deeper Learning wird unterstützt von der Robert Bosch Stiftung. Das übergeordnete Ziel des Projekts ist es, durch Deeper Learning den Unterricht an deutschen Sekundarschulen weiterzuentwickeln. Um eine „next practice“ anzustoßen, die begleitend beforscht werden kann, geschieht dies zunächst exemplarisch in einem Entwicklungsnetzwerk von acht Schulen in Baden-Württemberg. Das Pilotvorhaben wird gemeinsam von den Professorinnen für Schulpädagogik der Universität Heidelberg (Anne Sliwka) und dem Karlsruher Institut für Technologie (Britta Klopsch) geleitet.