Religionspädagogik : Wenn Lehrer sich nicht trauen, über Islamismus zu sprechen

Das Thema Islamismus ist an vielen Schulen fast ein Tabu, sagt Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Bei vielen Lehrerinnen und Lehrern gebe es eine Art Selbstzensur, aus Angst, Öl ins Feuer zu gießen und als islamfeindlich zu gelten. Das sei ein Fehler. Im Interview erklärt der Islamexperte und Religionspädagoge, wie Lehrerinnen und Lehrer diese Form des Extremismus thematisieren können, und vor allem, wie sie dafür die richtige Sprache finden.
ein Mädchen schaut in ein Lehrbuch für Iden islamischen Religionsunterricht
Nordrhein-Westfalen war das erste Bundesland, das den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht 2012 eingeführt hat.
©Oliver Berg/dpa

Schulportal: Viele Lehrkräfte haben Angst vor heftigen Reaktionen in der muslimischen Gemeinschaft, wenn sie das Thema Islamismus ansprechen. Das ist nach dem Mord an den französischen Lehrer Samuel Paty auch in Deutschland deutlich geworden. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?
Mouhanad Khorchide: Ja, diese Erfahrung kann ich bestätigen. Auch bei mir melden sich Lehrkräfte, die sich nicht trauen, das Thema Islamismus in der Schule anzusprechen. Es ist fast ein Tabu. Dabei gab es immer wieder Schülerinnen oder Schüler, die während der Schweigeminute für Samuel Paty den Klassenraum verlassen haben. Bei vielen Lehrerinnen und Lehrern gibt es da eine Art Selbstzensur, aus Angst, Öl ins Feuer zu gießen und als islamfeindlich zu gelten.

Mouhanad Khorchide
©Zentrums für Islamische Theologie

Es gibt ja auch muslimische Akteure in unserer Gesellschaft, die versuchen, jegliche Form der Kritik als pauschalen Angriff gegen den Islam zu bewerten.

Viele Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass muslimische Schülerinnen und Schüler sich sofort an den Pranger gestellt fühlen, wenn das Thema „Islamistischer Terror“ angesprochen wird. Dadurch wird das Thema in Schulen oft vermieden. Aus religionspädagogischer Sicht ist das ein fataler Fehler, denn die Schülerinnen und Schüler werden ja auch außerhalb der Schule damit konfrontiert, meist auf sehr emotionale Weise. Die Schule sollte ein Ort sein, an dem sie lernen, die Dinge zu reflektieren.

Und wie können Lehrkräfte das Thema Islamismus am besten ansprechen?
Zunächst einmal ist es wichtig, Themen wie „Gewalt im Namen des Islams“ unbedingt anzusprechen. Dabei kommt es vor allem auf die Sprache an. Wir müssen es vermeiden, solche Themen in einer Art und Weise anzusprechen, dass muslimische Schülerinnen und Schüler das Gefühl haben, sich für ihre Religion schämen zu müssen, oder sich mitschuldig fühlen. Gleichzeitig dürfen wir nicht in das andere Extrem verfallen und das Narrativ übernehmen, wonach die Diskriminierung der Muslime in der europäischen Mehrheitsgesellschaft für Gewalt und Radikalisierung verantwortlich ist.

In beiden Fällen geht es um die Schuldfrage – und das ist immer gefährlich und polarisierend. Ich nenne das eine „identitäre Sprache“, weil sie ein „Wir“ und „Ihr“ konstruiert: „wir“ die Opfer; „ihr“ die Täter. Das spaltet die Gesellschaft. Wir brauchen vielmehr eine integrative Sprache.

Wie sieht eine solche integrative Sprache aus?
Eine integrative Sprache erreicht man am besten, indem man das Phänomen an sich anspricht, ohne ihm eine spezifische Identität zu geben. Das heißt, wir reden zunächst allgemein über Gewalt, Meinungsfreiheit, Pluralität. Im zweiten Schritt schauen wir uns in der Klasse an, wie es damit im christlichen, im muslimischen oder im nichtreligiösen Kontext aussieht. Das Thema „Gewalt im Namen der Religion bzw. der Weltanschauung“ steht dabei im Vordergrund – nicht die Religion bzw. die Weltanschauung an sich.

Meist sind es in der Praxis ja nichtmuslimische Lehrkräfte, die darüber sprechen. Wenn diese dann versuchen, die muslimischen Schülerinnen und Schüler über den Islam aufzuklären und ihnen zu sagen, wie sie den Koran richtig lesen müssten, funktioniert das nicht. Das führt bei den Schülerinnen und Schülern eher dazu, ihre meist konservative oder unreflektierte Lesart zu verteidigen.

Wenn die Lehrkräfte aber zum Beispiel über Gewalt im Namen des Christentums sprechen, dann lassen sich dafür auch Textstellen in der Bibel finden, die heute anders – also nicht wortwörtlich, sondern historisch kritisch – interpretiert werden. Ähnliche Stellen lassen sich aber auch im Koran finden, und so kann man auch hier die Frage nach der heutigen Lesart des Korans in den Raum stellen. Das fruchtet eigentlich immer und führt zu offenen Lernprozessen, weil sich niemand in der Klasse in eine Verteidigungsrolle gedrängt fühlt. Alle reden stattdessen gleichberechtigt über das Problem.

Ist die Akzeptanz größer, wenn Kooperationspartner aus der muslimischen Gemeinschaft diese Themen in der Schule zur Sprache bringen?
Die Akzeptanz wäre sicher größer, wenn muslimische Lehrkräfte über den Islam reden würden. Die muslimischen Schülerinnen und Schüler hätten nicht das Gefühl, jemand von außerhalb ihrer Religion versuche, sie darüber zu belehren.

Aber gibt es genügend Lehrpersonen, die entsprechend pädagogisch und didaktisch ausgebildet sind und das Thema neutral ansprechen im Sinne der Demokratiebildung? Womöglich holen wir jemanden in die Schule, der wieder die Schuldfrage und die „Wir“-versus-„Ihr“-Rhetorik reproduziert.

Uns fehlt eine Handreichung für muslimische und nichtmuslimische Lehrkräfte für den Umgang mit solchen Themen. Wir am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster wollen eine solche Handreichung erarbeiten und den Schulen in einigen Wochen anbieten.

Gerade von Muslimen wird erwartet, sich verteidigend vor den Islam zu stellen. Andernfalls gilt man schnell als Nestbeschmutzer oder Verräter.

Doch auch eine Handreichung schützt Lehrkräfte nicht unbedingt vor Anfeindungen. Sie selbst, Herr Khorchide, wurden nach Veröffentlichung Ihrer Bücher als „islamophob“ beschimpft. Muss man das aushalten, wenn man diese Diskussion führt?
Wenn man als Muslim Kritik am Islam übt, wird das nicht von allen akzeptiert. Gerade von Muslimen wird erwartet, sich verteidigend vor den Islam zu stellen. Andernfalls gilt man schnell als Nestbeschmutzer oder Verräter.

Aber so kommen wir nicht weiter. Natürlich gibt es innerhalb der islamischen Theologie Positionen, die zum Teil menschenfeindlich sind, weil sie zum Beispiel Andersgläubige als Menschen zweiter Klasse diskreditieren. Solche Überzeugungen hören ja einige Schülerinnen und Schüler auch zu Hause, deshalb müssen diese auch angesprochen werden.

Es gibt in unserer Gesellschaft auch gutmeinende nichtmuslimische Menschen, die solche Probleme lieber unter den Teppich kehren, weil sie befürchten, dass Rechtspopulisten das nutzen könnten, um gegen Muslime Stimmung zu machen. Die Probleme werden dadurch aber nur noch größer – und somit auch die Angst vor dem Islam, was letztendlich den Rechtspopulisten nützt. Dem Islam ist also überhaupt nicht geholfen, wenn die Probleme verschwiegen werden.

Welche Rolle können islamische Religionslehrer spielen, wenn es darum geht, an Schulen Islamismus zu thematisieren?
Ich fände es wichtig, in Deutschland flächendeckend den islamischen Religionsunterricht einzuführen. Nordrhein-Westfalen war das erste Bundesland, das den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht 2012 eingeführt hat. Das ist kein langer Zeitraum, und in einigen Bundesländern gibt es diesen Unterricht immer noch nicht. Schülerinnen und Schüler, die sich stark mit ihrer Religion identifizieren, haben dort in der Schule keinen reflektierten Zugang zum Islam. Sie gehen ins Internet und schauen sich dort Videos und Foren an, die leider oft federführend von Islamisten oder Salafisten geleitet werden.

Das zeigt, wie wichtig der Religionsunterricht an Schulen ist. Dazu benötigen wir aber auch gut ausgebildete Religionslehrerinnen und Religionslehrer, die ein weltoffenes Islambild mitbringen. Dafür gibt es neben dem Zentrum für Islamische Theologie in Münster bundesweit inzwischen genügend Ausbildungsangebote.

Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, ihren Glauben rational zu reflektieren, um ihre Religiosität selbst als mündige und selbstbestimmte Subjekte zu verantworten.

Es fehlen aber auch aufgeklärte, liberale Studierende, die sich für diesen Studiengang bewerben. Nicht wenige, die Interesse für unseren Studiengang zeigen, haben ideologische Motive. Wir versuchen, die Studierenden während des Studiums aufzuklären, dass es nicht darum geht, zu missionieren oder den Koran zu verkünden. Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, ihren Glauben rational zu reflektieren, um ihre Religiosität selbst als mündige und selbstbestimmte Subjekte zu verantworten.

Welche Auswirkungen hat der Lockdown auf eine mögliche Radikalisierung der Schülerinnen und Schüler? Werden Parallelgesellschaften gestärkt, weil der Austausch mit Andersdenkenden zum Beispiel in der Schule fehlt?
Wir wissen, dass Isolation in der Regel nicht gesund ist. Durch die fehlenden sozialen Kontakte im Lockdown suchen die Schülerinnen und Schüler verstärkt im Internet nach virtuellen Kontakten – auch die religiösen Angebote in den Moscheen fehlen ja.

Genau darauf setzen die radikalen Gruppierungen. Die Strategien sind dabei sehr raffiniert. Zunächst wird etwas völlig Religionsneutrales in die digitalen Gruppen gepostet, etwa in Zusammenhang mit Sport oder Musik. Erst wenn sich die Fans dann nach einer Weile zugehörig fühlen zu der Gruppe, werden sie allmählich mit ideologischen Inhalten gefüttert.

Meine Erfahrung ist, dass Lehrkräfte in der aktuellen Situation oft überfordert sind, für Themen wie Islamismus bleibt in der Corona-Pandemie kaum Zeit. Die Diskussionen brauchen auch eine reale Begegnung in der Klasse. Und dort, wo Präsenzunterricht stattfindet, wird eine offene Diskussionsatmosphäre durch Maske und Abstandsregeln erschwert. Gleichzeitig bietet die Pandemie aber auch die Chance, Polarisierungen in der Gesellschaft zu überwinden und sich auf das Menschsein zu besinnen. Das Virus trifft uns alle und macht keine Unterscheidung zwischen Religionen oder sozialem Status. Dieser Herausforderung müssen wir uns gemeinsam stellen.

Zur Person

  • Mouhanad Khorchide (geb. 1971) ist seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik und seit 2011 Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster sowie Principal Investigator (PI) des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ an der WWU Münster. Er leitet das Projekt „Koran im Kontext der Barmherzigkeit“ im Rahmen dieses Exzellenzclusters.
  • Außerdem ist Mouhanad Khorchide Gründungsmitglied des 2015 gegründeten Muslimischen Forums Deutschland und der 2019 gegründeten Muslimischen Gemeinschaft NRW. Er beschäftigt sich mit der Vermittlung des Islams in europäischen Schulen und spricht sich für eine historisch-kritische Auslegung der islamischen religiösen Schriften und für eine humanistische Lesart des Koran aus.
  • Er ist Autor und Mitautor etlicher viel beachteter Bücher, zuletzt „Gottes falsche Anwälte. Der Verrat am Islam“ (2020), „Der andere Prophet. Jesus im Koran“ (2018), „Gottes Offenbarung in Menschenwort. Der Koran im Licht der Barmherzigkeit“ (2018), „Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus“ (2017), „Muslim sein in Deutschland. Deutsch – Arabisch“ (2016), „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“ (2015) und „Scharia – der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik“ (2013).

 

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An mehr als 350 Schulen in Bayern wird es vom kommenden Schuljahr an ein Wahlpflichtfach „Islamischer Unterricht“ geben. Das Kabinett beschloss am 23.Februar die Überführung des bisherigen landesweiten Modellversuchs in ein reguläres Schulfach.
Dieses soll für Schülerinnen und Schüler insbesondere muslimischen Glaubens künftig statt Religionslehre und neben Ethik wählbar sein. Es handelt sich um ein staatliches Angebot, bei dem staatliche Lehrkräfte in deutscher Sprache Wissen über die islamische Religion sowie eine grundlegende Werteorientierung „im Geiste der Werteordnung des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung“ vermitteln sollen. dpa