Psychologe : Wie Lehrkräfte mit Kindern über den Krieg sprechen können

Aktualisierung: Nach den überraschenden Hamas-Großangriffen in der Nacht zum 08. Oktober 2023 hat Israels Ministerpräsident Netanjahu am Sonntag den Kriegszustand ausgerufen. Kinder und Jugendliche sind seither in den Medien mit Bildern von Gewalt und Terror konfrontiert. Wie kann Schule darauf reagieren?

Am 25. Februar 2022, kurz nach dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine, hatten wir mit dem Psychologen Klaus Seifried darüber gesprochen, wie Schulen den Krieg thematisieren können. Worüber können und sollten Lehrkräfte mit den Schülerinnen und Schülern sprechen? Wie kann Schule Sicherheit geben? Klaus Seifried hat viele Jahre in Berlin als Schulpsychologe gearbeitet hat. Außerdem hatten wir eine Sammlung mit Links und Anregungen zusammengestellt, die Lehrkräften helfen können, im Unterricht mit dem Thema Krieg umzugehen.

Nach den überraschenden Großangriffen militanter Palästinenser hat Israels Ministerpräsident Netanjahu den Kriegszustand ausgerufen.
©Ilia Yefimovich/dpa

Deutsches Schulportal: Wie sollte der Krieg in der Ukraine in der Schule thematisiert werden?
Klaus Seifried: Das Allerwichtigste in Krisenzeiten ist, dass die Erwachsenen – die Eltern an erster Stelle, aber auch die Lehrerinnen und Lehrer – den Kindern Orientierung und Sicherheit geben. Dazu gehören verlässliche Alltagsstrukturen genauso wie Zeit für Gespräche. Lehrkräfte müssen sensibel sein für die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler, und es muss Raum für Gespräche geben. Dabei kann es um ihre Ängste gehen, aber auch um objektive Informationen. Lehrerinnen und Lehrer sollten aber immer darauf achten, nicht noch zusätzlich zu dramatisieren, weil das Ängste verstärkt. Daher ist es auch eher nicht geeignet, gleich eine Vollversammlung einzuberufen.

Wichtig ist, dass die Lehrkräfte sich Zeit nehmen, aufmerksam beobachten und auf Fragen und Ängste der Kinder eingehen, ihnen aber auch Hoffnung geben.

Wie können Lehrkräfte denn mit Schülerinnen und Schülern über den Krieg sprechen?
Natürlich ist das altersabhängig. Gut ist, wenn sich die Lehrkräfte dazu austauschen und schauen, wie die Kolleginnen und Kollegen mit dem Thema umgehen. Hier ist Teamarbeit sehr wichtig. Nicht alle müssen sich jede Frage und jede Antwort neu überlegen. Da sehe ich auch die Schulleitung gefordert, gemeinsam mit dem Kollegium zu überlegen, wie das Thema in welcher Klassenstufe behandelt werden kann. In den oberen Klassen können Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel in Politikwissenschaft die Geschichte der Ukraine seit dem Mauerfall thematisieren.

Durch solche Absprachen kann außerdem sichergestellt werden, dass nicht alle unkoordiniert darüber sprechen, und der Schulalltag trotzdem weiter stattfinden kann.

Aktivität gibt ein Stück Sicherheit in Krisen

Worauf kommt es speziell an den Grundschulen an?
Das Allerwichtigste in der Grundschule sind stabile Beziehungsangebote. Wichtig ist, dass die Lehrkräfte sich Zeit nehmen, aufmerksam beobachten und auf Fragen und Ängste der Kinder eingehen, ihnen aber auch Hoffnung geben. Manche Kinder haben vielleicht gar nichts mitbekommen, andere haben stundenlang zu Hause die Bilder vom Krieg gesehen. Dann brauchen sie auf jeden Fall Orientierung.

Sollten Lehrerinnen und Lehrer von sich aus in den Klassen das Thema anschneiden oder warten, bis Schülerinnen und Schüler mit ihren Fragen kommen?
Lehrerinnen und Lehrer können erst mal mit offenen Fragen auf die Kinder zugehen: „Wie geht es euch heute?“ „Gibt es ein aktuelles Thema?“ Wenn die Kinder darauf erst einmal nicht reagieren, ist es nicht unbedingt notwendig, in der Grundschule über den Krieg zu sprechen. Wenn die Kinder das aber selbst mitbringen, und wenn man spürt, dass Spannung in der Gruppe ist, dann ist es wichtig, über den Krieg in der Klasse zu sprechen.

Kinder sind durch Corona-Pandemie ängstlicher geworden

Viele Kinder haben in so einer Situation den Impuls, helfen zu wollen und aktiv zu sein. Wie können Lehrkräfte diesem Bedürfnis entgegenkommen, was können sie mit ihrer Klasse konkret machen?
Das ist ein wichtiges Thema, denn das Beste gegen Ängste ist, die Ich-Stärke auszubauen und etwas zu tun. Jugendliche könnten jetzt – so wie sie es für den Umweltschutz gemacht haben – für Frieden demonstrieren und Friedensaktionen organisieren. Dieses Handeln gibt ein Stück Sicherheit in Krisen. Das ist aber eher ein Weg für Jugendliche an weiterführenden Schulen, nicht für Grundschulen.

Aber es gibt längerfristig auch andere Handlungsoptionen. Schulen können Patenschaften und Austausch mit Schulen in der Ukraine initiieren. Oder Klassen können Päckchen für Schulen in der Ukraine packen. Aber dafür ist es jetzt natürlich noch zu früh.

Lehrerinnen und Lehrer haben die Aufgabe, Kinder zu stärken, und nicht die eigenen Ängste auf sie zu projizieren.

Wie ehrlich müssen Lehrkräfte sein, wenn sie Fragen beantworten? Wie können sie zum Beispiel auf die Frage reagieren, ob der Krieg auch nach Deutschland kommen kann?
Da sollten Erwachsene immer ehrlich sein und zugeben: „Das kann ich nicht sagen.“ Aber sie können auch ergänzen: „Wir tun alles, damit das nicht passiert.“

Wieweit dürfen oder sollen Lehrkräfte den Kindern ihre eigene Unsicherheit und Angst zeigen?
Lehrerinnen und Lehrer haben die Aufgabe, Kinder zu stärken, und nicht die eigenen Ängste auf sie zu projizieren. Ein Beispiel dazu aus dem Alltag: Ein kleines Kind will aufs Gerüst klettern. Die eine Mutter sagt: „Tritt dahin, dahin und dahin, und ich halte Dich, wenn Du runterfällst.“ Und die andere Mutter sagt: „Oh Gott, pass auf, da kannst Du runterfallen.“ Diese Haltung lähmt das Kind und fördert und verstärkt seine eigenen Ängste. Aufgabe von uns Erwachsenen ist, Kindern die Ängste zu nehmen, ihnen Mut und Perspektiven für die Zukunft zu geben.

Gerade in der aktuellen Situation ist das besonders wichtig, denn die Pandemie hat die Ängstlichkeit bei Jugendlichen ohnehin verdoppelt, wie die aktuelle Copsy-Studie gezeigt hat. Zukunftsängste, depressive Symptome, all das hat sich deutlich verstärkt. Und darauf setzt sich jetzt noch die Kriegsangst.

Auch für Schulen und Lehrkräfte ist die Auseinandersetzung mit dem Krieg eine Ausnahmesituation. Wie können sie sich stärken in dieser Situation?
Hier sollte sich das Kollegium gegenseitig Halt geben. Wenn die Ängste sehr massiv sind, kann das auch ein Thema für eine Supervision sein. Aber in der Regel ist das kollegial zu bewältigen.

Zur Person

Klaus Seifried
©Markus Waechter
  • Klaus Seifried ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Lehrer.
  • Er arbeitete zwölf Jahre als Lehrer und 26 Jahre als Schulpsychologe.
  • Von 2003 bis 2016 war er Leiter des Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrums (SIBUZ) Tempelhof-Schöneberg in Berlin.
  • Seit 1996 ist er im Bundesvorstand der Sektion Schulpsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP).
  • Seit 2016 ist Klaus Seifried freiberuflich tätig.
  • klausseifried.de

„Über Krieg reden" auf dem Campus des Deutschen Schulpreises

Wie können Lehrerinnen und Lehrer in der Schule mit den Fragen und Unsicherheiten von Kindern und Jugendlichen umgehen? Wie können Informationen altersadäquat vermittelt werden? Was sind verlässliche Quellen und wie kann vor diesem Hintergrund ein kritisch-reflektierter Umgang in den Sozialen Medien im Unterricht thematisiert werden?

Expertinnen und Experten aus den Bereichen Kinder- und Jugendpsychologie, Schulpraxis und Journalismus gaben nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine in einem Live-Panel am 1. März 2022 auf dem Campus des Deutschen Schulpreises Einblicke und beantworten Fragen. Mit diesem Angebot unterstützt die Robert Bosch Stiftung Lehrkräfte dabei, Kinder und Jugendliche in dieser Zeit zu begleiten und sich des Themas im Unterricht anzunehmen. Mit dabei waren:

  • Mirko Drotschmann, Mr.Wissen2go
  • Hendrik Haverkamp, Evangelisch Stiftisches Gymnasium Gütersloh
  • Julian Schmitz, Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie Universität Leipzig
  • Leonie von Glahn und Julia Roispich, Schülersprecherinnen der BBS Osterholz-Scharmbeck
  • Moderation: Johannes Büchs, TV-Moderator

Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und steht hier als Video zur Verfügung. Die Fragen und Antworten zum Thema Krieg in der Schule können zudem hier nachgelesen werden.

Mehr zum Thema

Auf Youtube beantwortet MrWissen2go aktuelle Fragen zum Angriff auf Israel.

  • Multiperspektivische Bildungsvideos zum palästinensisch-israelischen Konflikt und Begleitmaterial für den Unterricht gibt es hier.
  • Die meisten Landesinstitute für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung haben Links und Hinweise zusammengestellt, wie Lehrkräfte die Themen Krieg und Flucht vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs im Unterricht behandeln können. Eine umfangreiche Sammlung gibt es zum Beispiel beim Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz. Auf der Seite gibt es auch Hinweise dazu, wie Lehrkräfte Sorgen und Ängsten der Schülerinnen und Schülern begegnen können. Das Landesinstitut Hamburg hat eine Sammlung für Grundschule bis Oberstufe/Berufsschule zusammengestellt. Eine umfangreiche Materialsammlung bietet auch die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
  • Auf dem Deutschen Bildungsserver gibt es ein Dossier mit verschiedenen Materialien zum Thema.
  • Auch die Datenbank Mundo hat Links und Material zum Thematisieren des Kriegs in der Ukraine im Unterricht zusammengestellt.
  • Die Stiftung Bildung hat zwei Angebote für den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine im schulischen Kontext: Zum einen hat sie Links und Anregungen zusammengestellt, wie Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher und Eltern über das Thema kindgerecht sprechen können. Außerdem gibt es ein Patenschaftsprogramm, das auch für Kinder aus der Ukraine gilt.
  • Unicef hat Unterrichtsmaterial zum Thema Kinder und Krieg zusammengestellt. Hier liegt der Fokus vor allem auf Flüchtlingskindern.
  • Um Kinder für FakeNews zu sensibilisieren ist eine Stunde mit einem der Journalisten von LieDetectors zu empfehlen.
  • Die Servicestelle Jugendschutz vom Verband junger Medienmacher Sachsen-Anhalt hat hier einige Punkte zusammengestellt, die Erwachsene beim Gespräch über den Krieg beachten sollten.