Kindesmissbrauch : Sexuelle Gewalt und Schule: Was Lehrkräfte wissen müssen

Im Rahmen des „Europäischen Tages zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt“ am 18. November 2023 startete der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) am 13. November die Aktionswoche für mehr Schutz von Kindern und Jugendlichen. Beim diesjährigen Europäischen Tag rückt mit dem Motto „making the circle of trust truly safe for children“ das Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Familie oder im sozialen Nahfeld in den Vordergrund. Es soll darauf aufmerksam machen, dass gerade im engsten Vertrauenskreis Missbrauch am häufigsten stattfindet – obwohl gerade dort Kinder und Jugendliche sich sicher fühlen sollten. „Circle of trust“ („Kreis des Vertrauens“) meint dabei Familienmitglieder ebenso wie Personen aus dem sozialen Umfeld wie Lehrkräfte oder Trainerinnen und Trainer. Um auf das Thema sexuelle Gewalt in Familien und dem sozialem Nahfeld aufmerksam zu machen, gibt es vom 15. bis 21. November 2021 eine Reihe von Aktionen auf den Social-Media-Kanälen des UBSKM.

Was sind Anzeichen für sexuellen Missbrauch und sexuelle Gewalt? Wie können Lehrkräfte helfen? Was sollten sie vermeiden? Das Schulportal sprach dazu im November 2018 mit Ursula Schele. Sie war selbst Lehrerin und kümmert sich seit drei Jahrzehnten um die Opfer von sexueller Gewalt und sexuellem Missbrauch. Im Interview spricht die Autorin des Buchs „Sexualisierte Gewalt und Schule“ über „Mitschnacker“, Täterinnen und falsche Vorwürfe.

Trost bei sexueller Gewalt: Eine Person umschließt mit ihren Händen die Hände einer anderen Person
Kinder und Jugendliche, die Opfer von sexueller Gewalt oder sexuellem Missbrauch geworden sind, brauchen kompetente Hilfe und Unterstützung.
©Getty Images

Sexuelle Gewalt: Kinder können unbewusst mit Anorexie und Bulimie reagieren

Schulportal: Woran können Lehrkräfte merken, dass eine Schülerin oder ein Schüler Opfer sexuellen Missbrauchs ist?
Ursula Schele: Es gibt Verhaltensweise und Symptome, die besonders deutlich sind. Dazu gehören zum Beispiel ein stark sexualisiertes oder ein altersmäßig völlig unangemessenes sexuelles Verhalten, totale Übermüdung – viele Missbrauchsfälle werden abends und nachts verübt –, sowie Ess- und Magersucht. Manche Kinder fressen sich einen Schutzschild an und machen sich unattraktiv, um den Täter fernzuhalten. Oder sie machen sich zum Strich in der Landschaft, damit sie nichts Sexuelles mehr an sich haben. Diese Strategien wählen die Jungen und Mädchen natürlich unbewusst, sie sind aber durchaus recht häufig.

Welchen Unterschied gibt es bei den Geschlechtern?
Mädchen „implodieren” eher. Sie richten Aggression gegen sich selbst, sie schnitzen, sie zeigen selbstverletzendes Verhalten. Jungen „explodieren” häufiger. Sie werden aggressiv, gehen selbst grenzverletzend vor und imitieren so eher Täterverhalten. Sie werden aber gerade nicht automatisch zum Täter, das ist eine ganz wichtige Unterscheidung. Aus Opfer werden Täter – diesen Automatismus gibt es nicht.

Sie haben besonders deutliche Anzeichen dafür genannt, dass ein Kind oder ein Jugendlicher eventuell Probleme hat oder sogar sexuell missbraucht wird. Welche Symptome sind weniger intensiv, können aber dennoch ein Anzeichen sein?
Es gibt eine ganze Menge Möglichkeiten, wachsam zu sein – wenn Mädchen und Jungen plötzlich nicht mehr lachen, auf einmal immer ganz ernst sind oder in sich gekehrt, wenn sie sich verhüllen, sich nicht mehr zeigen, mehrere Lagen Kleidung übereinander tragen oder sehr schreckhaft sind.

Manche Opfer zeigen keine Anzeichen für Missbrauch

Ist es auch möglich, dass sich das Verhalten betroffener Kinder und Jugendlicher gar nicht ändert?
Das kommt sogar ziemlich häufig vor. Ungefähr 40 Prozent der Mädchen und Jungen, die sexuellen Missbrauch erleiden, zeigen keine psychosomatischen Folgeerscheinungen. Sie tragen so viele Schutz- und Resilienzfaktoren in sich, dass sie nach außen hin nicht auffällig werden.

Das bedeutet umgekehrt, dass man bei 60 Prozent der betroffenen Kinder Symptome beobachten kann. Genügen diese Hinweise überhaupt für einen konkreten Verdacht?
Eine Garantie sind diese Signale nie. Man kann nicht einfach nur aufgrund von Symptomen sagen: Das ist sexueller Missbrauch. Man braucht immer auch eine Aussage des Kindes, um es schützen zu können. Nur anhand einer Symptomatik können die Strafverfolgungsbehörden nicht aktiv werden. In der Regel gibt es leider keine klare Spurenlage. Wenn ein Kind sagt: „Gestern ist es wieder passiert”, müssen die Lehrkräfte schnell handeln, zum Beispiel Spuren sichern lassen. Das versuchen wir den Lehrerinnen und Lehrern beizubringen.

Was können Lehrkräfte tun, wenn sie bemerken, dass sich eine Schülerin oder ein Schüler auffällig verändert hat?
Wichtig ist, Ruhe zu bewahren und nicht in Panik zu verfallen. Die Lehrkraft sollte sich mit einer Person aus dem Kollegium, die das Kind auch kennt, austauschen. Sind ihr die Anzeichen auch aufgefallen? Dann kann man vorsichtig den Kontakt zum Kind intensivieren und dem Kind Gesprächsangebote machen. Sagen Sie aber nie: Ich habe den Eindruck, du wirst sexuell missbraucht. Viel besser ist: Ich habe das Gefühl, du hast Probleme – du kannst mit mir über alles reden.

Ursula Scheele
Ursula Schele war früher selbst Lehrerin und engagiert sich seit vielen Jahren für Betroffene, die sexuelle Gewalt und sexuellen Missbrauch erleiden müssen oder mussten.
©Thomas Eisenkraetzer

Was ist, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer sich dieser Situation nicht gewachsen fühlt?
Lehrkräfte können sich jederzeit, und das ist mir ganz wichtig zu sagen, an das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch” wenden. Wer eine vage Vermutung hat, kann sich hier anonym und kostenlos jederzeit fachlich beraten lassen. Wichtig zu wissen ist außerdem, dass Lehrkräfte nach dem Bundeskinderschutzgesetz einen Rechtsanspruch auf Beratung haben. Sie sind in solch schwierigen Fällen nicht allein – sie können sich jederzeit fachlich beraten und unterstützen lassen.

Von wem?
Die offizielle Bezeichnung dieser erfahrenen Fachkräfte ist in jeder Kommune und in jedem Bundesland anders geregelt. Die meisten sind bei den spezialisierten Fachberatungsstellen, den Kinderschutzzentren und manchmal auch bei den Jugendämtern angesiedelt. Es gibt fast überall in Deutschland ein relativ gut aufgebautes Hilfesystem – keine Lehrkraft muss damit alleine sein. Was Lehrerinnen und Lehrer in diesem Zusammenhang aber noch wissen müssen: Wenn sie einen Verdacht auf Kindeswohlgefährdung haben, wenn das Kind geschlagen, misshandelt, vernachlässigt oder missbraucht wird, dann haben sie mittlerweile eine Meldepflicht. Das bedeutet, dass sie sich immer auch an ihre Schulleitung wenden müssen.

Wie können Lehrkräfte dem betroffenen Kind behutsam erklären, dass noch Dritte hinzugezogen werden müssen?
Wenn ein Kind kommt und sagt: „Mir ist das und das passiert, aber Sie dürfen mit niemandem darüber reden”, dann muss die Lehrkraft ganz deutlich sagen: „Du kannst nochmal eine Nacht darüber schlafen, aber was dir passiert, ist verboten und schwerwiegend, wir müssen Hilfe für dich organisieren.”

Blaming the victim: Die Kinder haben keine Mitschuld

Sie haben gerade erklärt, welche ersten Schritte Lehrkräfte unternehmen können. Was sollten sie explizit nicht tun?
Falsch ist auf jeden Fall, dem Kind Vorwürfe zu machen. „Blaming the victim“ heißt das. Das tun viele leider automatisch: Warum kommst du jetzt erst? Warum hast du nicht früher was gesagt? Warum bist du denn auch mit dem Mann mitgegangen? Alles, was das Kind beschuldigt, muss unbedingt vermieden werden. Denn der Täter hat das Tatgeschehen immer so inszeniert, dass das Kind ohnehin den Eindruck hat, mitgemacht oder den ersten Schritt gemacht zu haben. Deswegen machen sich die Betroffenen sowieso unheimliche Mitschuldvorwürfe und haben große Angst davor, dass andere Menschen das wiederholen und in dieselbe Kerbe schlagen. Daher ist es ganz wichtig, dass die Lehrkraft als Erstes sagt: „Ich bin froh, dass du dich mir anvertraut hast, wir werden gemeinsam einen Weg finden, ich werde nichts gegen deinen Willen tun.” Gerade der letzte Punkt ist immens wichtig.

Warum?
Sexueller Missbrauch ist einer der härtesten Formen der Fremdbestimmung. Betroffene dürfen im Hilfeprozess deshalb nicht wieder fremdbestimmt werden, sondern sollten selbst zu handelnden Personen werden. Das hängt aber vom Alter ab und davon, wie viel Mitverantwortung für den Weg die Kinder tragen können. Trotzdem darf man nicht gegen den erklärten Willen des Kindes agieren, insbesondere wenn der Straftäter ein Familienmitglied ist, was ja sehr häufig der Fall ist. Es gibt natürlich auch Fremdtäter, wir nennen sie hier im Norden „Mitschnacker“, aber die sind die absoluten Ausnahmen.

Zuwendung und Geschenke statt Gewalt und Druck

In Ihrem Buch raten Sie deshalb auch von dem seit Generationen wiederholten Mantra „Geh nicht mit Fremden mit!“ ab. Welchen Satz kann man Kindern stattdessen mit auf den Weg geben?
„Tu nichts, was du nicht möchtest.” Und: „Du darfst „Nein“ sagen.” Der allerwichtigste Satz, der übrigens auch schon für ganz kleine Kinder zentral sein sollte, ist aber: „Egal was passiert, ich bin immer auf deiner Seite und werde dir helfen.” Denn es ist leider so, dass sich ganz, ganz viele Mädchen und Jungen erstmal niemandem anvertrauen oder erst sehr spät oder nur in sehr kleinen Portionen. Wir sind aber darauf angewiesen, dass die Kinder sprechen oder den Impuls haben zu sagen: Ich möchte aus dieser Situation heraus. Denn sie sind häufig sehr ambivalent, weil der Täter oder die Täterin in der Regel nicht mit brutaler Gewalt oder mit massivem Druck vorgegangen ist, sondern häufig mit Anerkennung, mit Zeit, mit Geschenken, mit Zuwendung, mit Aufmerksamkeit, und so weiter. Sie gehen immer geplant und sehr strategisch vor.

Sie habe gerade zum ersten Mal eine „Täterin“ erwähnt…
Das Thema ist seit ungefähr zwanzig Jahren öffentlich. Wir gehen davon aus, dass wir es mit einem Anteil von etwa 20 Prozent Täterinnen zu tun haben. Die Hälfte davon sind Frauen, die völlig unabhängig von einem männlichen Einfluss Kinder sexuell missbrauchen. Die anderen rund zehn Prozent sind Mittäterinnen. Sie missbrauchen Kinder als Paar, agieren im Bereich der organisierten Kriminalität oder sie wissen, dass ein Kind sexuell missbraucht wird und tun nichts dagegen. Sie können theoretisch der unterlassenen Hilfeleistung beschuldigt werden, was aber so gut wie nie passiert.

Allmählich sickert ein, dass auch Jungen Opfer sind.
Ursula Schele, Geschäftsführerin des PETZE-Instituts

Ist die Tatsache, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen Kinder missbrauchen, in den Köpfen der Öffentlichkeit angekommen?
Nein, so gut wie gar nicht. Allmählich sickert ein, dass auch Jungen Opfer sind. Mädchen sein, Frau sein, Opfer sein – das ist ja sehr bekannt: Es gibt eine Art „Opferkultur” und auch ein Reden darüber. Jungen, die sexuell missbraucht worden sind, haben nochmal zusätzlich Hürden zu überwinden.

Seit zehn Jahren ist öffentlich bekannt, dass Pädagogen der Odenwald-Schule ihre Schüler missbraucht haben.
Damit ist es deutlicher geworden. Das hat einen Riesenschub gegeben für das Thema „Jungen als Opfer”. Wir haben aber noch keine so prominenten Fälle mit Frauen als Täterinnen. Es gibt natürlich ein paar und einige davon sind auch öffentlich geworden, aber das ist immer noch die ziemliche Ausnahme.


Weiterlesen? Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews mit Ursula Schele: Ein bis zwei Kinder pro Klasse sind Missbrauchsopfer


Auf einen Blick

0800 22 55 530

Unter dieser Nummer ist das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch bundesweit, kostenfrei und anonym erreichbar.

Weitere Informationen gibt es hier: www.hilfetelefon-missbrauch.de

Zur Person

Cover Sexualisierte Gewalt und Schule
Margit Miosga/Ursula Schele: „Sexualisierte Gewalt und Schule”, Beltz Verlag.
©Beltz Verlag
  • Ursula Schele ist Lehrerin, Bildungsreferentin und Fachberaterin für das Thema „Sexualisierte Gewalt” sowie Geschäftsführerin des PETZE-Instituts für Gewaltprävention.
  • Das Institut widmet sich dem Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch und bietet Präventionsschulungen an.
  • Beim PETZE-Institut ist Ursula Schele unter anderem zuständig für Fortbildungen, Fachtagungen und Elternarbeit.
  • Mehr Informationen finden Sie auf der Website des PETZE-Instituts.
  • Der Beltz Verlag hat jetzt das Buch „Sexualisierte Gewalt und Schule“ von Ursula Schele und der Journalistin Margit Miosga veröffentlicht.