Praxiskonzepte : Selbstorganisiertes Lernen im Stresstest

Die Schulen sind während der Corona-Krise auf Herausforderungen gestoßen, die sie auch nach der Schulöffnung weiter beschäftigen werden. Die meisten Lehrkräfte wollen künftig ihre Schülerinnen und Schüler stärker dazu befähigen, selbst ihren Lernprozess zu planen. Das Schulportal hat an zwei Schulen mit besonderen Konzepten zur Eigenverantwortung nachgefragt, wie das selbstständige Lernen während der Pandemie funktioniert hat und wie die Erfahrungen für die künftige Schulentwicklung genutzt werden können.

Schüler arbeitet am Laptop
An der Freiherr-vom-Stein-Schule sind es die Schülerinnen und Schüler gewohnt, selbstständig mit digitalen Lernplattformen zu arbeiten.
©Lars Rettberg

Welche Erfahrungen nehmen Lehrerinnen und Lehrer aus der Corona-Krise für die Schulentwicklung mit? An erster Stelle steht das Ziel, die Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler für den Lernprozess zu stärken. Das hatte das „Deutsche Schulbarometer Spezial“ zur Corona-Krise ergeben. 67 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer wollen die Fähigkeit zum selbstständigen Lernen stärker fördern.

Für viele Schülerinnen und Schüler war offenbar herausfordernd, das Lernen zu Hause weitgehend selbst zu organisieren, sich Ziele zu stecken und Aufgaben eigenständig zu bearbeiten. Waren Schulen, die in ihren Konzepten schon vorher stark auf das eigenverantwortliche Lernen setzten, hier im Vorteil? Haben sich diese Konzepte auch während der Schulschließung bewährt?

Bewusstseinswandel bei den Eltern durch den Fernunterricht

Die Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster hat ein Lernsystem entwickelt, das die Schülerinnen und Schüler befähigt, ihren Lernprozess im eigenen Tempo und mit eigener Zielsetzung selbst zu organisieren. Bei der Schulanmeldung können die Eltern und Kinder wählen zwischen sogenannten „Selbstlernklassen“ und Klassen mit herkömmlichem Unterricht. „Diese Wahlmöglichkeit ist wichtig, denn in der Gesellschaft ist das eigenverantwortliche Lernen immer noch mit Angst behaftet“, sagt Lars Ziervogel, der stellvertretende Leiter der Schule. Viele Eltern würden den Kinder nicht zutrauen, dass sie sich selbst steuern können. Entscheidungen würden ihnen weitgehend abgenommen, bis hin zur Kleidung. Die Corona-Krise habe da jedoch einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft ausgelöst. „Viele Eltern haben sich zu Hause darüber geärgert, dass ihre Kinder nicht selbstständig gelernt haben, dass sie immer daneben sitzen und erklären mussten, was zu tun ist“, sagt Ziervogel. Jetzt sei der Wunsch auch bei den Eltern da, dass die Eigenverantwortung der Kinder in den „Normalklassen“ gestärkt wird. Diesen Schwung will die Schule nutzen, vor allem, um in diesen Klassen das selbstständige Lernen zu stärken. Zum Beispiel, indem die Kompetenzen im Umgang mit digitalen und analogen Medien gestärkt werden. Denn das ist eine wichtige Voraussetzung.

Eines sei während der Schulschließung ganz deutlich geworden, so Ziervogel. Die Schülerinnen und Schüler aus den Selbstlernklassen hätten weitaus weniger Probleme mit der Situation gehabt, einige hätten die Zeit sogar genossen. „Vor allem sich selbst zu motivieren, fällt offenbar jenen Kindern leichter, die es gewohnt sind, fächerübergreifend an selbst gewählten Projekten zu arbeiten“, sagt Ziervogel.

Ein Wahlthema für die Selbstlernklassen hieß zum Beispiel „Heldinnen und Helden“. Die Schülerinnen und Schüler konnten völlig frei entscheiden, wie sie das Thema interpretieren und in welcher Form sie das Ergebnis präsentieren. Die Materialien suchten sie sich selbst. Eine Schülerin etwa hatte Krankenschwestern im nahegelegenen Krankenhaus interviewt und darüber geschrieben, ein anderer Schüler die Mondlandung in seinem Kinderzimmer komplett nachgestellt und dazu ein Video aufgenommen. Und wo haben sich Schwächen in dem Selbstlernkonzept gezeigt? „Ich wünsche mir eine noch bessere Kommunikation mit den Eltern und Schülerinnen und Schülern über digitale Wege“, sagt Ziervogel. Es gebe zwar E-Mail-Kontakte und digitale Lernräume, doch es sei noch keine Selbstverständlichkeit, dass jeder Schüler, jede Schülerin dort auch regelmäßig reinschaut.

Auch bei der Leistungsrückmeldung sieht Ziervogel noch eine große Baustelle. In der Corona-Krise hätten Noten keine Rolle gespielt, es sei deutlich geworden, dass die Schülerinnen und Schüler gerade für das selbstständige Lernen andere Rückmeldungen benötigen. Dabei gehe es eben nicht nur um die Rückmeldung, wo sie im Lernstoff stehen, sondern auch um Feedback zu den Kompetenzen, die für das eigenverantwortliche Lernen wichtig sind. Vor allem die Entwicklung und Ziele stärker sichtbar zu machen, sei hierbei ein großes Ziel. „Und zwar in einer Sprache, die die Kinder verstehen“, sagt Ziervogel. 

Das vollständige Konzept mit Materialien der Freiherr-vom-Stein-Schule in Neumünster finden Sie hier.

Aufgaben sind nicht immer selbsterklärend

Auch das Evangelische Schulzentrum Martinschule in Greifswald, die 2018 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde, hat seit Jahren Abläufe entwickelt, die es den Schülerinnen und Schüler erleichtern sollen, den Lernprozess in die eigene Hand zu nehmen. Das Schulzentrum hat sich von einer ehemaligen Förderschule zu einer inklusiven Schule entwickelt – individualisiertes Lernen mit Zielvereinbarungen und persönlichem Feedback ist ohnehin oberstes Gebot, um der Vielfalt gerecht zu werden.

Im normalen Schulbetrieb spielen regelmäßige Gespräche zwischen Lehrkräften, Kindern und Eltern eine wesentliche Rolle. Während der Corona-Pandemie war dieser direkte Austausch – trotz vieler Telefongespräche und Videokonferenzen –so aber nicht möglich. Auch die direkte Hilfestellung, wenn ein Kind nicht selbstständig weiterkam, war im Fernunterricht ausgeschlossen. „Wir mussten während der Schulschließung feststellen, dass unsere Materialien zum Selbstlernen zu Hause nicht so gut funktionieren wie in der Schule“, sagt der Schulleiter Benjamin Skladny. „Wer die Aufgabe nicht verstanden hat, ist frustriert. In der Schule können Lehrkräfte darauf reagieren, sie sehen im Vorbeigehen, wenn ein Kind überfordert ist. Doch im Fernunterricht melden sich die Kinder dann schlimmstenfalls gar nicht mehr zurück.“

Vor allem die jüngeren Schülerinnen und Schüler hätten oft eine Einweisung benötigt, die Materialien seien offenbar weniger selbsterklärend als gedacht. „Wir werden unsere Aufgabenformate weiterentwickeln, sodass für die Schülerinnen und Schüler auch ohne Hilfe schnell erkennbar ist, was erwartet wird“, sagt Skladny. Auch einige Eltern seien während der Schulschließung verunsichert gewesen. „Viele fragten nach, ob sie helfen sollen oder ob die Kinder weiterhin eigenverantwortlich arbeiten sollen wie in der Schule“, erzählt Skladny. Die Corona-Krise habe vor allem deutlich gemacht, dass das Konzept über starke persönliche Beziehungen funktioniere. Schülerinnen und Schüler seien motivierter, wenn sie mit anderen zusammen lernen. Videokonferenzen könnten zwar helfen, aber den direkten Kontakt nicht ersetzen. „Deshalb haben wir seit dem 18. Mai alle Schülerinnen und Schüler jeden Tag für mindestens 2,5 Stunden zurück in die Martinschule geholt“, sagt der Schulleiter.

Das vollständige Konzept des Evangelischen Schulzentrums Martinschule in Greifswald finden Sie hier.

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