„4-plus-1-Modell“ : Ein Digitaltag pro Woche – wie können Schulen das umsetzen?

Nach den Herbstferien werden die Siebtklässlerinnen und Siebtklässler der Sekundarschule Bismark in Sachsen-Anhalt jeden zweiten Mittwoch im Monat von zu Hause aus lernen.  Den Digitaltag hat die Schule bereits im vergangenen Schuljahr eingeführt. Bei dem sogenannten „4-plus-1-Modell“ geht es vor allem darum, die digitalen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu stärken, so Schulleiterin Birgit Smirnow im Interview mit dem Deutschen Schulportal. Als Strategie gegen den akuten Lehrermangel, der in Sachsen-Anhalt besonders groß ist, sieht sie das Projekt allerdings nicht.

Schülerin vor Tablet beim Digitaltag zu Hause
Zunächst gibt es noch keine Benotung am Digitaltag. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich mit dieser Art des Lernens erst mal vertraut machen.
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Deutsches Schulportal: Frau Smirnow, wie müssen wir uns den Ablauf dieses Digitaltags vorstellen?
Birgit Smirnow: Die Schülerinnen und Schüler haben am Digitaltag sechs Stunden Unterricht, von 7.30 Uhr bis 13.10 Uhr. Entsprechend dem Stundenplan werden die Aufgaben freigeschaltet. Die Lehrerinnen und Lehrer nutzen dafür die Lernplattform Moodle, die auch gemeinsame Konferenzen möglich macht. Ansonsten gibt es einen internen Chat, über den die Schülerinnen und Schüler jederzeit mit der Lehrkraft kommunizieren können, etwa wenn sie Fragen haben oder etwas noch einmal erklärt haben wollen. Sämtliche Aufgaben sind an diesem Tag bis 18 Uhr verfügbar. Die Schülerinnen und Schüler können individuell entscheiden, wann sie welche Aufgaben lösen. Sie organisieren und strukturieren sich selbst und bestimmen eigenverantwortlich, in welchem Lerntempo sie arbeiten. Somit hat diese Form des Unterrichts nicht nur Einfluss auf die Erweiterung der digitalen Kompetenzen, sondern auch auf die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler.

Ein Digitaltag löst nicht das Problem des Lehrermangels

Sachsen-Anhalts Bildungsministerin Eva Feußner will die Vier-Tage-Woche jetzt als Modellprojekt an verschiedenen Schulen des Landes erproben. Geht es dabei auch darum, dem Lehrermangel etwas entgegenzusetzen, der in Ihrem Bundesland besonders groß ist?
Der Lehrermangel ist tatsächlich ein großes Problem und gefährdet unsere Bildungsstandards. Das „4-plus-1-Modell“ ist da aber keine Lösung. Jedenfalls nicht, wenn an der Qualität des digitalen Unterrichts keine Abstriche gemacht werden sollen. Denn auch diese Unterrichtsform erfordert eine intensive Betreuung der Schülerinnen und Schüler. Die Lehrkräfte brauchen viel Zeit, um den Unterricht vorzubereiten und die digitalen Aufgaben zu erstellen. Bis da Routine eintritt, wird es bestimmt zwei bis drei Jahre dauern. Erst dann könnten wir so einen Digitaltag auch mal einsetzen, wenn akuter Lehrermangel herrscht.

Wie ist das Projekt entstanden, welche Ziele verfolgen Sie?
Während der Corona-Pandemie haben wir gemerkt, wie groß der Nachholbedarf in Sachen digitales Lernen bei Schülerinnen und Schülern, aber auch bei den Lehrkräften ist. Auf beiden Seiten fehlten Vorkenntnisse. Während der Lockdowns konnten wir deshalb kaum auf den digitalen Unterricht ausweichen. Wir mussten stattdessen Arbeitsblätter scannen oder kopieren, die die Eltern dann abgeholt haben. So sollte es auf keinen Fall weitergehen. Uns war klar, dass wir die Schülerinnen und Schüler fit machen müssen für das digitale Lernen. Spätestens im Berufsleben sind sie ohnehin damit konfrontiert. Deshalb haben wir den Digitaltag eingeführt.

Schulleiterin Birgit Smirnow hat einen Digitaltag eingeführt
Schulleiterin Birgit Smirnow.
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Anwesenheitskontrolle ist unkompliziert

Welche Fächer werden digital unterrichtet? Und wie kontrollieren die Lehrkräfte, ob alle Schülerinnen und Schüler der Klasse auch wirklich mitmachen?
Wir haben geschaut, welche Kolleginnen und Kollegen sich in der Lage fühlen, das digitale Konzept umzusetzen. In diesem Schuljahr stehen die Fächer Russisch, Mathematik, Physik, Wirtschaft und Geschichte auf dem digitalen Stundenplan. Die Anwesenheitskontrolle ist recht unkompliziert. Die Lehrerinnen und Lehrer sehen ja, wer sich einloggt. Fehlt jemand, können sie per Chat nachfragen, was los ist. Wer gar nicht erreichbar ist, wird angerufen. Das machen wir auch beim regulären Unterricht so. Fehlt jemand unentschuldigt, wird nachgehakt.

Der Digitaltag findet nur alle zwei Wochen statt. Warum nicht jede Woche?
Wir wollen sichergehen, dass alle Schülerinnen und Schüler die Aufgaben verstehen und die richtigen Lösungen haben. Deshalb werden die Aufgaben in der Woche darauf im regulären Unterricht nachgearbeitet. Auf diese Weise bleibt niemand zurück.

Manche Eltern haben Vorbehalte

Wird die Online-Arbeit der Schülerinnen und Schüler bewertet?
Zunächst wird es keine Benotung geben. Wir wollen die Schülerinnen und Schüler nicht zusätzlich unter Druck setzen. Sie sollen sich erst mal mit dieser neuen Art des Lernens vertraut machen. Wenn jemand aber richtig gut ist, dann gibt es natürlich auch ein positives Feedback.

Was sagen die Eltern dazu, dass ihre Kinder einen Tag in der Woche von zu Hause aus lernen sollen?
Wir haben unser Projekt vorab auf einem Elternabend vorgestellt. Und auch die technischen Voraussetzungen erfragt, uns erkundigt, welche Endgeräte die Eltern zu Hause haben, wie es mit dem Internet aussieht. Einige äußerten Vorbehalte. Sie waren sich nicht sicher, ob ihre Kinder allein zu Hause auch tatsächlich am Unterricht teilnehmen würden. Andere sagten, dass sie ihre Kinder nicht ohne Aufsicht an die Technik zu Hause lassen würden. Denen boten wir an, dass ihre Kinder im PC-Raum der Schule arbeiten können. Dort werden sie beaufsichtigt. Hilfe müssen sie allerdings digital erfragen, wie alle anderen zu Hause auch.

Was, wenn es zu Hause keinen Computer gibt?
Seit der Corona-Pandemie gibt es für sozial benachteiligte Familien die Möglichkeit, sich Geräte auszuleihen. Unsere Schule hat für diese Fälle zehn Geräte zur Verfügung. Das reicht aus.

Die Vorbereitung des Digitalunterrichts ist arbeitsintensiv

Wie haben die Kolleginnen und Kollegen auf das Projekt reagiert?
Die meisten müssen sich erst mal mit dieser neuen Art des Unterrichts zurechtfinden. Viele sind offen, einige zurückhaltend. Digitalen Unterricht vorzubereiten ist zunächst sehr arbeitsintensiv. Die Schülerinnen und Schüler müssen gezielt auf diese Form des Unterrichts vorbereitet werden und lernen, wie sie die Aufgaben bearbeiten und hochladen können. Zudem ist es wichtig, dass die Lehrkräfte die digitalen Aufgaben vielfältig in einer ansprechenden Qualität gestalten, sodass die Schülerinnen und Schüler motiviert werden, diese zu bearbeiten. Das können unter anderem Lückentexte sein, die sie ergänzen müssen, Experimente, die sie aufbauen und deren Ergebnisse sie dokumentieren, oder kurze Videosequenzen, die die Schülerinnen und Schüler drehen sollen. Ich gehe aber davon aus, dass sich alle Lehrerinnen und Lehrer einarbeiten werden. Schließlich gilt das Prinzip des lebenslangen Lernens nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für jede Lehrkraft.

Wie unterstützen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen dabei, sich einzuarbeiten?
Die Zeit während der Pandemie nutzten vier Kolleginnen, um sich intensiv fortzubilden. Sie sind jetzt sehr fit in der Vorbereitung und Durchführung des digitalen Unterrichts. Diese Kolleginnen wurden zu Multiplikatorinnen und bieten nun jeden Montag eine digitale Sprechstunde an, um ihr Wissen weiterzugeben und Fragen der anderen Kolleginnen und Kollegen zu beantworten.

Schulleiterin zieht erstes positives Fazit

Den Digitaltag gibt es an Ihrer Schule schon im zweiten Jahr. Wie ist das Fazit nach dem ersten Jahr?
Unser Fazit ist durchweg positiv. Die Schülerinnen und Schüler sind dem digitalen Lernen gegenüber viel offener geworden. Anfängliche Ängste konnten schnell abgebaut werden – auch bei den Eltern. Und noch etwas haben wir festgestellt: Die Kinder haben nach ersten Berührungsängsten ganz selbstverständlich mit den Lehrerinnen und Lehrern online kommuniziert. Es gab intensive Einzelgespräche, in denen sie ihre Fragen stellen und Erklärungen einholen konnten. Dafür war oft sogar mehr Zeit als im normalen Unterricht.

Tauschen Sie sich mit anderen Schulen aus, die ähnliche Modelle erproben?
In unserer Region haben wir jetzt ein Netzwerk mit zwölf Schulen gegründet, um neue Formen des Lernens und/oder der Unterrichtsorganisation zu erproben. Jede Schule, die ein solches Modell umsetzt, macht es ein bisschen anders. In Netzwerktreffen erfolgt ein regelmäßiger Austausch, Erfahrungen werden weitergegeben und die erreichten Ergebnisse dargestellt. Das hilft jeder Schule dabei, das eigene Modell fortlaufend zu verbessern. Darüber hinaus muss vor allem auch in der Lehrerbildung endlich auf die Erfordernisse des digitalen Lernens reagiert werden. Noch ist das nicht der Fall. Das muss sich jetzt sehr schnell ändern.

Mehr zum Thema

  • Das Bildungsministerium in Sachsen-Anhalt erprobt in diesem Schuljahr ein Modell mit vier Präsenz-Unterrichtstagen pro Woche und einem Tag fürs Distanzlernen oder einem Praxistag im Unternehmen. Ziel ist es, neue Modelle zur Unterrichtsorganisation an den Schulen zu entwickeln.
  • Konkret soll das „4-plus-1-Modell“ an zwölf Sekundar- und Gemeinschaftsschulen umgesetzt werden. Eine davon ist die Sekundarschule in Bismark. Die Schülerinnen und Schüler an den zwölf Schulen sollen an vier Tagen in den Schulen unterrichtet werden. Mit dem fünften Tag soll dem Ministeriumssprecher zufolge relativ kreativ umgegangen werden. Digitales Lernen über Apps oder das Moodle-Portal seien ebenso möglich wie Besuche in Unternehmen und Praxislerntage. Das Modellprojekt soll über ein Schuljahr laufen und dann ausgewertet werden.
  • Die Vorstellung des Projekts im Sommer stieß bei Lehrerverbänden auf Kritik. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) nannte das Modell „eine Bankrotterklärung des Landes Sachsen-Anhalt im Bildungsbereich“. Der Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Torsten Wahl, kritisierte: „Hier wird eindeutig Lebens- und Lernzeit auf Kosten der Schülerinnen und Schüler vergeudet. Ein solcher Tag muss sehr gut in die Unterrichtsarbeit eingeplant, vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet werden. Ein Distanzlerntag bedeutet jedoch für die Lehrkräfte eine enorme zusätzliche Belastung.“
  • Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, erklärte: „Wir haben nicht nur den Verdacht, dass da ein Sparmodell schrittweise auf leisen Sohlen eingeführt werden soll, sondern auch, dass dadurch die Unterrichtsausfallstatistik massiv geschönt werden soll.“ Distanzunterricht möge in der Oberstufe, wo Jugendliche selbstständiges Arbeiten gewohnt seien, zeitweise funktionieren. Jüngere Schülerinnen und Schüler bräuchten aber den Präsenzunterricht.