Schulrecht : Digitale Klassenarbeiten sollten eine Ausnahme sein

Die meisten Schülerinnen und Schüler haben in diesem Jahr bislang nur zu Hause gelernt. Jetzt stehen in vielen Schulen wieder Klassenarbeiten an. Können die auch im Distanzunterricht geschrieben werden? Welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein? Welche alternativen Prüfungsformate gibt es? Regelmäßig beantwortet Schulrechtsexperte Thomas Böhm auf dem Schulportal die wichtigsten Fragen zum Schulrecht – diesmal zu digitalen Klassenarbeiten und Prüfungen.

Schulrecht Paragraf vor Schultafel
Im Schulalltag stehen Lehrkräfte immer wieder vor Situationen, in denen die Rechtslage kompliziert ist. Unser Schulrechtsexperte bietet Aufklärung.

Deutsches Schulportal: Im ersten Lockdown war noch vom Distanzlernen die Rede, die dabei erbrachten Leistungen sollten möglichst nicht oder nur eingeschränkt in die Bewertung einfließen. Jetzt heißt es oft Distanzunterricht, zum Beispiel in der zweiten Verordnung zur befristeten Änderung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen in Nordrhein-Westfalen. Ist damit der Distanzunterricht dem Präsenzunterricht rechtlich gleichgestellt? Können dadurch auch die im Distanzunterricht vermittelten Lerninhalte genauso abgefragt werden wie die, die im Präsenzunterricht behandelt wurden?
Thomas Böhm: Der Distanzunterricht ist dem Präsenzunterricht gleichgestellt im Hinblick auf die Erfüllung der Schulpflicht. Die Teilnahme ist nicht freiwillig, sondern verpflichtend. Daher müssen auch die Eltern für eine Teilnahme ihrer Kinder am Distanzunterricht sorgen. Dieser dient den Bildungszielen, muss sich an den Lehrplänen und schulinternen Vorgaben orientieren und soll inhaltlich und methodisch mit dem Präsenzunterricht verknüpft werden. Aus dieser Gleichstellung mit dem Präsenzunterricht ergibt sich, dass die im Distanzunterricht vermittelten Lerninhalte Gegenstand von Leistungsbewertungen sein können. Allerdings gibt es andere Schwerpunktsetzungen bei den Lerninhalten, und die Leistungsbewertung kann im Distanzunterricht nicht uneingeschränkt erfolgen.

Warum nicht?
Schon bei den vermittelten Inhalten gibt es eine andere Schwerpunktsetzung. Vertiefen, Üben und Wiederholen spielen eine größere Rolle als im Präsenzunterricht. Die digitale Vermittlung neuer Inhalte ist im Digitalunterricht allerdings meistens schwieriger als im Präsenzunterricht. Das gilt insbesondere für jüngere Schülerinnen und Schüler. Die genannte Verordnung in Nordrhein-Westfalen sieht daher vor, dass die Lehrkräfte bei der Erarbeitung neuer Themen das Alter der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen müssen. Bei der Leistungsbewertung spielen daher auch die Beteiligung und der Erfolg beim Vertiefen, Üben und Wiederholen eine größere Rolle als im Präsenzunterricht.

Referate können im Distanzunterricht eine gute Alternative zu Klassenarbeiten sein

Die NRW-Verordnung sieht vor, dass Klassenarbeiten und Prüfungen in der Regel im Präsenzunterricht stattfinden sollen. Es heißt aber auch: „Daneben sind weitere in den Unterrichtsvorgaben vorgesehene und für den Distanzunterricht geeignete Formen der Leistungsüberprüfung möglich.“ Wie können solche Prüfungen aussehen?
Gemeint sind damit Leistungsüberprüfungen, die auch im Präsenzunterricht möglich sind. Die Erstellung entsprechender Aufgaben braucht aber keine Beaufsichtigung durch eine Lehrkraft. Dazu gehören beispielsweise Referate und Präsentationen, Protokolle und längerfristige Schulaufgaben, etwa die Dokumentation zu einem Thema.

Sind dann digitale Klassenarbeiten aus Ihrer Sicht gar nicht möglich im Distanzunterricht?
Klassenarbeiten sollten im Distanzunterricht nur in Ausnahmefällen geschrieben werden, da es nicht möglich ist, Täuschungen zu verhindern. Die Lehrkräfte können nur im Nachhinein feststellen, ob es Hinweise auf eine Täuschung gibt. Solche Hinweise können zum Beispiel in einem gegenüber dem bisherigen Sprachniveau außerordentlich verbesserten Ausdrucksvermögen oder einer für die Schülerin oder den Schüler völlig untypischen souveränen Beherrschung des Stoffes bestehen. Es müsste dann durch eine mündliche Überprüfung oder eine Wiederholung der schriftlichen Arbeit in Präsenz festgestellt werden, ob eine Täuschung vorliegt. Das ist alles sehr aufwendig und unsicher. Klassenarbeiten und Klausuren sollten daher auch dann in Präsenz geschrieben werden, wenn der Präsenzunterricht teilweise oder vollständig ausgesetzt ist.

Digitale Prüfungen sind eine Herausforderung für den Datenschutz

Ist es mit dem Datenschutz vereinbar, wenn Lehrkräfte wollen, dass Schülerinnen und Schüler bei einer digitalen Prüfung die Kamera einschalten?
Der „Orientierungshilfe Videokonferenzsysteme“ zufolge kann die Datenverarbeitung bei Videokonferenzen möglich sein. Voraussetzung ist, dass die Verarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in der Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Der Unterricht der Schülerinnen und Schüler beruht auf der Schulpflicht, aus der sich die Verpflichtung des Staates ergibt, Unterricht zu erteilen. Diese Aufgabe kann der Staat bei Schulschließungen durch Videokonferenzunterricht erfüllen. Bei einer digitalen Leistungskontrolle oder Prüfung scheint es mir also erforderlich zu sein, dass die Kamera eingeschaltet ist. Es ist sonst keinerlei Kontrolle möglich, ob die Leistung eigenständig erbracht wurde. Es geht darum, die Schülerinnen und Schüler in der Situation beobachten zu können, nicht darum, das Bild aufzuzeichnen.

Die Kinder haben im Distanzunterricht ganz unterschiedliche Lernbedingungen. Sind vor diesem Hintergrund digitale Prüfungen überhaupt möglich?
Die ohnehin vorhandene Chancenungleichheit wird im Distanzunterricht in der Tat noch verschärft, weil die Lernbedingungen zu Hause nicht gleich sind. Das führt aber nicht zur Rechtswidrigkeit einer Prüfung, in der die im Distanzunterricht vermittelten Inhalte abgefragt werden, da die Schule für diese Chancenungleichheit nicht verantwortlich ist. Die Schule darf auch keine Noten anheben, um die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen auszugleichen, da die Leistungsbewertung dann willkürlich würde. Die Schule ist aber verpflichtet, die Chancengleichheit zu fördern, soweit ihr das möglich ist. Wenn sie zum Beispiel über digitale Endgeräte verfügt, kann sie diese Schülerinnen und Schülern, die keine oder keine geeigneten Endgeräte besitzen, zur Verfügung stellen. Schülerinnen und Schüler müssen außerdem die Möglichkeit bekommen, in Räumen der Schule am Distanzunterricht teilzunehmen, wenn dabei die Corona-Hygieneregeln eingehalten werden.

Porträt Thomas Böhm, Experte für Schulrecht
Experte für Schulrecht: Thomas Böhm
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  • Thomas Böhm hat Rechtswissenschaft, Anglistik und Pädagogik in Bonn und Bochum studiert.
  • Er ist Dozent für Schulrecht und Rechtskunde am Institut für Lehrerfortbildung in Essen-Werden und führt bundesweit Seminare für Lehrkräfte und Schulleitungen durch.
  • Thomas Böhm ist Gründungsherausgeber der Zeitschrift „SchulRecht“.

Mehr zum Thema

  • Die Leistungsbewertung im Fernunterricht stellt Schulen vor große Herausforderungen. Auf dem Digitalen Impuls der Deutschen Schulakademie vom 9. Februar 2021 haben Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis über mögliche Lösungen diskutiert. Thomas Toczkowski und Matthias Wysocki, zwei Lehrer der Schiller-Schule in Bochum, haben dabei Prüfungsformate vorgestellt, mit denen sie arbeiten. Die Dokumentation des gesamten Digitalen Impulses „Prüfungsformate für den Distanzunterricht” finden Sie hier.
  • Auch das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur, das im Dezember 2020 überwiegend von Lehrkräften und weiteren Beteiligten rund um Schule, Lehrerbildung und Mediendidaktik gegründet wurde, stellt Ideen und Beispiele für neue Prüfungsformate vor, die lernförderlich gestaltet sind, auch im Distanzunterricht funktionieren und Alternativen zu digitalen Klassenarbeiten sein können.