Projekt „Herausforderung“ : „Nur eingreifen, wenn es unbedingt erforderlich ist“

Bundesweit gibt es bereits mehr als 50 Schulen, die in der Sekundar­stufe I das Projekt „Heraus­forderungen“ umsetzen. Zwei bis drei Wochen lang versuchen dabei Schülerinnen und Schüler, ein Ziel zu erreichen, das sie sich selbst gesetzt haben: mit dem Long­board von Berlin an die Ostsee zu fahren etwa oder zu Fuß die Alpen zu überqueren. Der Pädagoge Markus Görlich möchte diesen Ansatz weiter­entwickeln. Im Februar hatte er gemeinsam mit Margret Rasfeld von der Initiative „Schule im Aufbruch“ den ersten Bundes­kongress zum Projekt „Heraus­forderung“ veranstaltet. Im Interview mit dem Schulportal erklärt Görlich, wie die Umsetzung am besten gelingt und warum das Konzept in die Lehrer­aus­bildung integriert werden sollte.

Schüler sitzen auf einer Wiese und studieren eine Karte
Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern der Heinz-Brandt-Schule machte sich mit dem Longboard auf den Weg von Berlin bis an die Ostsee.
©Lars Rettberg (Die Deutsche Schulakademie)

Schulportal: Herr Görlich, bisher haben rund 50 Schulen sogenannte Heraus­forderungen durch­geführt. Welche gemeinsamen Erfahrungen haben alle gemacht – unabhängig davon, wie sie das Projekt an ihrer Schule im Einzelnen umgesetzt haben?
Markus Görlich: Alle machen die Erfahrung, dass man Schülerinnen und Schülern mehr zutrauen kann, dass man sie besser los­lassen kann. Sie erleben, dass das Selbst­vertrauen der Kinder und Jugendlichen gestärkt wird und dass sie mit Frust und Unsicher­heit besser umgehen können. Und sie sehen, dass Schülerinnen und Schüler emotionale Erfahrungen machen, über die sie auch Jahre später noch detailliert berichten können.

Was lernen Eltern und Lehrer?
Die Eltern lernen, dass ihre Kinder Erfahrungen machen, die für sie als Kinder noch ganz normal waren – sich ohne Aufsicht draußen zu bewegen, eigene Projekte allein umsetzen zum Beispiel. Und auch die Lehrerinnen und Lehrer verändern ihre Rolle. Sie sind nicht mehr die „Ansager“, müssen den Schülern viel mehr zutrauen, Fragen stellen statt Antworten geben, sich zurück­nehmen, nicht gleich eingreifen.

Begleiterinnen und Begleiter müssen ausgebildet werden

Das Projekt kommt nicht ohne Begleiterinnen und Begleiter aus – wer kann das sein, und wie findet man sie?
Ideale Begleiter sind Studierende, zum Beispiel aus dem pädagogischen Bereich. Doch auch Eltern anderer Mit­schüler oder Mit­arbeiter aus Unter­nehmen können die Kinder und Jugendlichen begleiten. Und natürlich Lehrerinnen und Lehrer. Ob Letztere dabei sind oder Externe – das muss jede Schule selbst entscheiden.

Müssen diese Begleiterinnen und Begleiter vor­bereitet werden?
Unbedingt. Die Ausbildung der Begleiterinnen und Begleiter ist ganz wichtig – damit steht und fällt das Projekt „Heraus­forderung“.

Wie sieht diese Ausbildung aus, was sollte sie umfassen?
Zunächst müssen die Begleiterinnen und Begleiter die Anforderungen erfüllen, die an jeden Jugend­leiter gestellt werden. Dazu gehören ein erweitertes Führungs­zeugnis, ein Erste-Hilfe-Kurs sowie die Teil­nahme an einer Gewalt­präventions­schulung. Darüber hinaus ist es ganz wichtig, dass sie lernen, sich zurück­zu­halten, nur einzu­greifen, wenn es unbedingt erforderlich ist – etwa, um die Sicher­heit der Kinder und Jugendlichen zu gewähr­leisten.

Wie kann man das lernen?
Die potenziellen Begleiterinnen und Begleiter durch­laufen ihrerseits eine verkürzte Heraus­forderung. Sie erleben auf diese Weise, wie Schülerinnen und Schüler sich fühlen, welche Probleme auftreten können, etwa bei der Kommunikation, oder wie ehrlich man mit­einander umgehen muss, damit es klappt, wenn der vorgesehene Plan mal nicht funktioniert.

Das Projekt „Herausforderung“ in die Lehrer­ausbildung integrieren

Sie plädieren auch dafür, das Projekt „Heraus­forderung“ in die Lehrer­aus­bildung zu integrieren. Warum?
Im Lehramtsstudium fehlen viele praktische Aspekte der Arbeit eines künftigen Lehrers, einer künftigen Lehrerin. Klassen­management, Handeln bei Konflikten, Regeln auf­stellen – all das lernen die meisten erst, wenn sie dann wirklich vor der Klasse stehen. Das ist zu spät und über­fordert viele. Es müsste bereits im Studium ein entsprechendes Pflicht­modul geben. In diesem Rahmen könnte die Begleitung des Projekts „Heraus­forderung“ als praktisches Beispiel dienen. Das hat noch einen weiteren positiven Aspekt: Studierende können sich gleich selbst überprüfen, ob der Lehrer­beruf der richtige für sie ist.

Mehr zum Thema

  • Vor zwölf Jahren haben die Winterhuder Reformschule, Hamburg, und die Evangelische Schule Berlin Zentrum mit dem Projekt „Herausforderung“ begonnen. Inzwischen sind über 50 Schulen dabei.
  • Das Schulportal hat das Projekt „Herausforderung“ der Heinz-Brandt-Sekundarschule in Berlin – Preisträgerschule des Deutschen Schulpreises – in einem Video aufbereitet. Zusätzlich gibt es das Material, das die Schule zum Konzept erarbeitet hat, zum Downloaden.

Zur Person

  • Markus Görlich, 27, studierte Lehramt für Mathematik und Chemie, zurzeit arbeitet er halbtags als Lehrer an einem Potsdamer Gymnasium.
  • Markus Görlich ist dabei, ein Netzwerk von Schulen aufzubauen, um Menschen zusammen­zu­bringen, die bereits Erfahrungen mit dem Projekt „Heraus­forderung“ haben oder es umsetzen wollen. Ziel ist, das Projekt auf mehr und mehr Schulen auszu­weiten.
  • Im Februar hatte Markus Görlich gemeinsam mit Margret Rasfeld von der Initiative „Schule im Aufbruch“ den ersten Bundes­kongress zum Projekt „Heraus­forderung“ in Berlin veranstaltet.