Krieg, Corona, Wirtschaftskrise : „Politische Bildung braucht genügend Raum in der Schule“

Nicht erst der Ukraine-Krieg konfrontiert viele Lehrende mit der Frage, wie sie politische Bildung interessant und wirkungsvoll vermitteln können. Die Politikwissenschaftlerin Sabine Achour von der Freien Universität Berlin erforschte in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) 2019 den Stellenwert politischer Bildung an Schulen. Vor allem an nichtgymnasialen Schulformen kommen demnach politische Themen zu kurz.

Schülerdemonstration gegen den Krieg in der Ukraine
Schülerinnen und Schüler bewegt der Krieg in der Ukraine. Das stellt auch Lehrkräfte vor Herausforderungen.
©Arne Dedert/dpa

Schulportal: Muss aus Ihrer Sicht gerade vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs der Stellenwert der politischen Bildung an Schulen gestärkt werden? Und wie können die Schulen dem gerecht werden?
Sabine Achour:
Der Ukraine-Krieg zeigt ein weiteres Mal die Bedeutung der politischen Bildung. Ihr sollte strukturell in der Schule immer genügend Raum zur Verfügung stehen. Zurzeit wechseln sich die Krisen ab: Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Coronakrise – verbunden mit Verschwörungsglauben, Antisemitismus, antiasiatischem Rassismus oder dem rechtspopulistischen Aufladen von Flucht und Migration. Wo politische Bildung keinen Raum erhält, können Schulen junge Menschen in diesen Krisen nicht begleiten.

Die Ukraine zeigt aber auch, dass politische Bildung nicht auf ein Fach beschränkt sein darf. Jede Lehrkraft muss in der Lage sein, auf aktuelle und vor allem auf bewegende Themen pädagogisch professionell und emotional unterstützend zu reagieren. Hier muss schließlich die politische Bildung bei Lehrkräften ebenso gestärkt werden wie bei den Lernenden.

Als Sie die Studie durchgeführt haben, war der Ukraine-Krieg in weiter Ferne. Welche politischen Debatten wurden damals geführt?
Vor dem Hintergrund des zunehmenden Rechtspopulismus und -extremismus, aber auch des Syrien-Kriegs sowie der Radikalisierungsdebatte rund um den sogenannten Islamischen Staat ging es darum, politische Bildung an Schulen zu stärken. Denn über die Institution Schule werden viele junge Menschen am ehesten erreicht. Dafür sollte der Status quo erhoben werden. Auf dieser Basis wurden dann die ersten Orientierungs- und Handlungsrahmen zur Demokratiebildung geschrieben und implementiert.

Wie sind Sie vorgegangen?
Tatsächlich ist es eine reine Erhebung unter Lernenden, obwohl die Sicht der Lehrenden sicher auch spannend gewesen wäre. Alle Kultusministerien, außer Bayern, hatten der Studie zugestimmt. Interessanterweise war das Interesse bei den Schulen so groß, dass wir irgendwann mit Blick auf die Teilnahme einen Schlussstrich ziehen mussten.

Das war eigentlich eines der schönsten Ergebnisse, ohne dass wir Ergebnisse auswerten mussten: dass ein breites Bewusstsein vorhanden ist, dass Schule an dieser Stelle einen gesellschaftlichen Auftrag hat, der mit Fragen politischer und Demokratiebildung zusammenhängt.

Es zog sich durch alle Ergebnisse, dass die soziokulturelle Ungleichheit mit den Angeboten politischer Bildung einhergeht.

Welche Unterschiede gibt es zwischen den Schulformen?
Man hatte es vielleicht schon anhand des Titels der Studie, „Wer hat, dem wird gegeben“, vermutet: Es zog sich durch alle Ergebnisse, dass die soziokulturelle Ungleichheit mit den Angeboten politischer Bildung einhergeht. An Gymnasien sind der Umfang und die Qualität der Angebote sehr viel höher – sowohl was das Fach betrifft als auch die demokratische Unterrichts- und Schulkultur. Durch die Bank weg zeigte sich, dass die Lernenden an Gymnasien, die bereits von zu Hause her privilegiert sind, in allen Feldern bessere Zugänge haben als an nichtgymnasialen Schulformen.

Welche Auswirkungen hat das?
Das spiegelte sich ganz klar in den erhobenen Einstellungen wider: Selbstwirksamkeit, Partizipationsbereitschaft und Demokratievertrauen sind bei diesen Jugendlichen stärker, menschenfeindliche Einstellungen hingegen weniger verbreitet.

Wie zeigten sich die Unterschiede nach Klassenstufen?
In der Oberstufe passiert deutlich mehr in Sachen politischer Bildung, bedingt durch die Kursstruktur, die mehr Zeit für politische Bildung bereithält. In dem Moment, in dem sich die Angebote quantitativ und qualitativ einander angeglichen haben, war es egal, um welche Schulform es sich handelte – die Einstellungen haben sich ebenfalls angeglichen. Daran zeigt sich, dass ein vergleichbares Angebot politischer Bildung für alle Schulformen wünschenswert wäre.

Sie haben aber nicht nur das Fach an sich untersucht.
Richtig. Uns interessierte auch der Stellenwert politischer Bilder und Demokratiebildung jenseits des Fachs. Wird antimuslimischer Rassismus oder Antisemitismus thematisiert? Gibt es Gedenkstättenfahrten oder eine Schülerzeitung? Wie aktiv ist die Schüler- und Schülerinnenvertretung? In einer Sonderauswertung zur Demokratiebildung konnten wir feststellen, dass es bei den Lernenden, die an fünf Angeboten im Jahr – zum Beispiel Exkursionen oder Gesprächsrunden mit politischen Akteuren – teilnehmen konnten, noch einmal signifikante Unterschiede gab hinsichtlich der demokratischen Einstellungen und der Partizipationsbereitschaft. Das zeigt: Schule kann wirksam sein, wenn es um die demokratische Haltung geht.

Was wünschen sich Schülerinnen und Schüler?
Ein schönes Zitat stammt von einem Lernenden, der auf den Fragebogen schrieb: „Demokratie ist Habibi“, also „Demokratie ist ein Schatz“. Wir haben konkret nach didaktischen Gütekriterien gefragt. Dabei kam heraus: Politische Bildung sollte aktuell, kontrovers und problemorientiert sein. Damit die Lernenden merken: Das hat etwas mit mir zu tun. Ist das der Fall, wird der Unterricht als spannender und weniger kompliziert empfunden. Die Erfahrung zeigt: Auch Schreiben oder Vortragen lernt sich besser anhand von Themen, die etwas mit mir oder der Gesellschaft zu tun haben.

Woran scheitert ein interessanter Politikunterricht in der Praxis?
In meinen Aus- und Fortbildungen für Lehrkräfte stelle ich oft fest, dass das Rad nicht neu erfunden werden muss. Die meisten wissen, wie ein spannender Unterricht aussehen kann. Aus Zeitgründen greifen einige Lehrende dann aber doch wieder auf Schulbücher zurück, die natürlich unaktuell und oft sehr institutionenkundlich sind. In Zeiten, in denen Daten so leicht zugänglich sind wie nie, erstaunt mich das. Lehrende sollten in Sachen Aktualität und Quellenrecherche schließlich ein Vorbild sein – auch mit Blick auf Fake News.

Was spricht für ein eigenes Fach Politik? Und was dagegen?
Für ein eigenes Fach spricht immer die Fachlichkeit. Die erlernten Fähigkeiten sind nicht nur wichtig im Hinblick auf die gymnasiale Oberstufe, sondern auch auf die Zeit nach der Schule. Wer keine politische Bildung genießt, kann auch einen Zeitungskommentar nur schwer einordnen. Die Hauptproblematik sind für die Gesellschaftswissenschaften immer die wenigen Stunden. Im schlechtesten Fall wird politische Bildung – oder ein anderes Fach – eine Stunde pro Woche angeboten.

Besser ist es dann, epochal zu unterrichten. Eine umfassendere Stundenanzahl erreicht man über die Integration mehrerer Fächer, wie Politik, Geschichte, Geografie und Ethik. Allerdings muss eine Lehrkraft alles unterrichten, was viele fachlich überfordert. Wir wissen auch, dass ein fachfremder Unterricht häufig kein guter Unterricht ist. Fortbildungen und ein Coaching könnten helfen, dass eine solche Vermengung nicht zu einem schlechten Unterricht führen muss.

Hat die Studie Veränderungen im Schulsystem angestoßen?
Ich habe die Studie in fast allen Bundesländern vorgestellt und wurde mehrfach vonseiten der Kultusministerien angefragt, wenn es um die Erneuerung von Lehrplänen, die Entwicklung von Orientierungs- und Handlungsrahmen zur Demokratiebildung oder um die Stärkung politischer Bildung insgesamt ging. Es ist ein Prozess, der noch andauert.

Zur Person

  • Sabine Achour ist seit Oktober 2018 Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
  • Ihr Forschungsschwerpunkt ist die politische Bildung in einer von Diversität, aber auch zunehmenden sozialen Ungleichheit geprägten Gesellschaft.
  • Sie ist Vorsitzende des Landesverbandes Berlin der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB)

Auf einen Blick

Für die Studie „Wer hat, dem wird gegeben: Politische Bildung an Schulen“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung haben Sabine Achour und ihre Mitautorin Susanne Wagner 3.378 Schülerinnen und Schüler aus allgemeinbildenden Schulen (Gymnasien, Schularten mit mehreren Bildungsgängen, Integrierten Gesamtschulen, Realschulen) und beruflichen Gymnasien, Berufsschulen, Berufsfachschulen und Fachoberschulen von insgesamt 99 Schulen befragt. Aus forschungspraktischen Gründen erfolgte die Ansprache nicht im Rahmen einer Zufallsauswahl, sondern über die Netzwerke der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Freien Universität Berlin. Aus diesen und weiteren Gründen – unter anderem der Nichtteilnahme eines ganzen Bundeslands – handelt es sich bei der Befragung nicht um eine repräsentative Erhebung.

Die Autorinnen vermuten, dass die Ergebnisse tendenziell eher „positiver“ ausgefallen sind, als dies im Rahmen einer repräsentativen Studie der Fall gewesen wäre, da die Teilnahme bereits ein gewisses Engagement der Schulen vermuten lässt. Trotz der fehlenden Repräsentativität vermitteln die dargestellten Ergebnisse dennoch aufschlussreiche Erkenntnisse und Hinweise auf den Stellenwert und die Wirkungsweise von politischer Bildung und Demokratiebildung an Schulen.

Zu den am stärksten vermittelten Inhalten im Unterricht gehörten „Demokratie in Deutschland“ sowie „Demokratische Werte“, wobei diese Inhalte – wie die meisten anderen genannten Themen – stärker an Gymnasien gelehrt wurden. Auch politische Veranstaltungen außerhalb des Politikunterrichts wurden in Gymnasien stärker besucht. So nahmen 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Schulversammlungen teil, während es an Schularten mit mehreren Bildungsgängen nur 55 Prozent waren. Ähnlich groß ist die Diskrepanz im Hinblick auf Schülerzeitungen. .