Gebrüder-Grimm-Schule : Mit einer lebendigen Lobkultur zum Erfolg
Die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm stand vor dem Aus, kämpfte um ihr Überleben. Zehn Jahre später ist die Grundschule in Nordrhein-Westfalen Hauptpreisträger des Deutschen Schulpreises 2019. Wie hat sie den Weg aus der Krise geschafft? Mit einer lebendigen Lobkultur, die von Herzen kommt.
Lesen und Schreiben fällt Marek* schwer. Er ist in der dritten Klasse, und noch immer sind die Buchstaben und Ziffern für ihn wie ein Code, den er nicht richtig entziffern kann. An seiner alten Schule kam Marek deswegen nicht zurecht. Als die Probleme immer größer wurden, wechselte er an die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm, die jetzt als Hauptpreisträger des Deutschen Schulpreises 2019 ausgezeichnet worden ist.
„Der Junge hat eine absolute Teilhochbegabung“, sagt Frank Wagner, der die Grundschule im Hammer Stadtteil Bockum-Hövel seit mehr als zehn Jahren leitet. Mareks Talent ist ungewöhnlich: „Er würde den ganzen Tag unseren Parkplatz pflastern, wenn es nötig wäre. Marek würde auch dafür sorgen, dass bei den Autos rechtzeitig die Reifen gewechselt werden. Das ist kein Witz. Marek macht das wirklich, er spielt nicht. Wenn es heißt, die Hütte auf dem Schulhof muss repariert werden, dann sagt er: ,Okay, wir brauchen Farben und Feile`, und dann legt er los.‘“
Gebrüder-Grimm-Schule stärkt das Selbstwertgefühl ihrer Kinder
Marek muss später einen Betrieb führen – davon ist Frank Wagner überzeugt. Er ist skeptisch, ob der Junge es überhaupt bis zum Realschulabschluss schafft. Umso wichtiger sei es, ihn jetzt schon in seinen Fähigkeiten zu bestärken. „Er muss wissen, dass er gut ist. Es darf nicht passieren, dass ihn seine schulische Entwicklung deprimiert und sein Selbstwertgefühl in den Keller geht“, sagt Wagner und fügt hinzu: „Es ist so wichtig, dass wir die Kinder immer wieder motivieren und loben und dabei echt und authentisch sind. Es darf nicht gespielt oder gestellt sein. Dazu gehört auch, dass wir mal sagen: ,Hey, das war jetzt nicht so gut.‘“
Positive Verstärkung ist ein zentrales Element im pädagogischen Alltag der Gebrüder-Grimm-Schule. Das war nicht immer so. Vor rund einem Jahrzehnt, Frank Wagner war noch nicht lange Schulleiter, überlegte die Stadtverwaltung, die Gebrüder-Grimm-Schule zu schließen und das Schulgebäude fortan als Stadtteilzentrum zu nutzen. Nicht ohne Grund: Das Schulgebäude war in einem schlechten Zustand, das Kollegium überaltert, die Schülerzahlen im Keller. Immer weniger Eltern meldeten ihre Kinder hier an. Lieber schickten sie ihre Jungen und Mädchen an die zwei katholischen Schulen in direkter Nachbarschaft. „Wir haben buchstäblich ums Überleben gekämpft“, sagt Wagner. Zusammen mit seinem Team stellte er die Gebrüder-Grimm-Schule auf den Kopf, um sie zu retten.
„Lachen – Leisten – Lesen“ heißt das Leitmotiv der Schule
Viele Ressourcen hatten sie dafür nicht. Der Haushalt der Stadt Hamm ist klamm, die finanziellen Mittel, die der Schule zur Verfügung stehen, extrem knapp. Das Kollegium musste Ideen und Konzepte entwerfen, die möglichst wenig kosten, aber maximal effizient sind. Früh im Schulentwicklungsprozess konzipierte das Team der Gebrüder-Grimm-Schule deshalb eine neue Lobkultur und verankerte das neue gemeinsame Verständnis auch im Leitbild: „Lachen – Leisten – Lesen“. „Das war der erste Hebel, um an alle ranzukommen“, sagt Wagner. „Dieses Lachen – unsere Kinder brauchen es. Sie können nur lernen, wenn es ihnen einigermaßen gut geht.“ Viele der rund 220 Jungen und Mädchen, die die Gebrüder-Grimm-Schule Hamm besuchen, kommen aus alleinerziehenden Elternhäusern, erhalten Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, haben sonderpädagogischen Förderbedarf oder einen Migrationshintergrund. „Die Kinder haben daheim genug Probleme. Statt mit ihnen zu schimpfen, weil sie schon wieder keine Sportsachen dabei haben, versuchen wir als Schule, ihre vielen tollen Potenziale zu fördern“, so Wagner.
Die Lernkultur der Gebrüder-Grimm-Schule ist von Wertschätzung geprägt
Wie ernst die Gebrüder-Grimm-Schule es damit meint, ist inzwischen überall im Schulhaus sichtbar. An den Wänden hängen kleine Spiegel mit Aufschriften wie „Du bist schön, so wie du bist“ oder „Du bist wertvoll“. Auf dem Monitor in der Elternlounge – ein Treffpunkt für Mütter und Väter im Schulfoyer – steht in großen Lettern die Frage: „Heute schon gelobt?“ Und die Box in Frank Wagners Büro enthält viele kleine Motivationskärtchen mit der Aufforderung „Nimm ein Kompliment und verschenke es!“ (einige Komplimentekärtchen gibt es hier zum Download).
Herzstück der Lobkultur sind allerdings die Lobbriefe. Die Kinder werden damit für herausragende Leistungen oder für ein besonders positives Verhalten im Schulalltag gelobt. Zwei Besonderheiten prägen das Konzept der Lobbriefe: Zum einen ist maßgeblich, dass es keine festgeschriebenen Kriterien gibt. Die Kinder erfahren, dass scheinbare Kleinigkeiten, wie zum Beispiel das Aufheben heruntergefallener Jacken im Flur oder das zielorientierte Verfassen einer Geschichte, bedeutsam sind. Zum anderen können die Jungen und Mädchen der Gebrüder-Grimm-Schule im Schülerparlament selbst Vorschläge einreichen, welches Kind einen Lobbrief verdient hat. Die Kinder stimmen dann über die Vorschläge ab und schreiben die Briefe. Auch die Lehrkräfte verfassen und verteilen Lobbriefe an die Schülerinnen und Schüler. Sie achten außerdem darauf, dass jedes Kind im Laufe des Schuljahres einen solchen Brief erhält.
Die Lobbriefe werden entweder nach Hause geschickt – „damit auch gute Nachrichten aus der Schule im Briefkasten liegen“, so Wagner – oder im monatlichen „Treffpunkt Grimm“ vor der ganzen Schulgemeinschaft vorgelesen. Längst hat die Lobbriefkultur eine Eigendynamik entwickelt: Die Schülerinnen und Schüler schreiben sich auch untereinander Lobbriefe und die Leistungsbereitschaft ist in allen Bereichen deutlich gestiegen.
Frank Wagner hofft, mit einer wertschätzenden Haltung, wie sie auf allen Ebenen an der Gebrüder-Grimm-Schule gelebt wird, „die Gesellschaft verändern zu können“. Hat er eigentlich selbst schon einen Lobbrief erhalten? „Nein“, antwortet Wagner, „ich brauche auch keinen. Ich kriege von den Kindern genug Wertschätzung.“
Auf einen Blick
- Die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm ist Hauptpreisträger des Deutschen Schulpreises 2019.
- An der Grundschule lernen derzeit 225 Schülerinnen und Schüler in insgesamt acht Klassen.
- „Lachen – Leisten – Lesen“ ist das Leitmotiv der Schule. In der Laudatio der Schulpreis-Jury heißt es über die drei Begriffe: „Sie stehen für Emotionalität, Intelligenz und erschließendes Verstehen, die den Schulalltag durchdringen. In diesem Motto spiegelt sich die pädagogische Haltung des Kollegiums.“
- Wie sieht ein Schultag an der Gebrüder-Grimm-Schule aus? Begleiten Sie die Klasse 4b und lesen Sie hier das Porträt der Siegerschule.
*Name von der Redaktion geändert