Neue Prüfungsformate : „Das musterhafte Auswendiglernen und Abfragen ist nicht sinnstiftend“

Nach der Klassenarbeit ist vor der Klassenarbeit. Im Schnitt schreiben Schülerinnen und Schüler in 32 von 40 Schulwochen mindestens eine Arbeit. Für Lehrkräfte bedeutet das einen enormen Korrekturaufwand, für viele Kinder und Jugendliche auch eine psychische Belastung, wie eine aktuelle Befragung von Schulleitungen im Auftrag der Robert Bosch Stiftung zeigt. Außerdem fokussieren klassische Prüfungsformate meist auf musterhaftes Auswendiglernen, kritisiert Hendrik Haverkamp, Lehrer an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen und Mitgründer des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur. Im Interview mit dem Schulportal erklärt er, wie alternative Prüfungsformate aussehen und wieso davon alle profitieren.

Kind mit Stift beim Lernen als Symbol für Prüfungsformate
Schülerinnen und Schüler schreiben im Schnitt an 32 von 40 Schulwochen im Jahr mindestens eine Klassenarbeit oder einen Test.
©Marijan Murat/dpa

Deutsches Schulportal: Was ist das Ziel des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur?
Hendrik Haverkamp: Zum zweijährigen Bestehen des Instituts im Dezember haben wir folgendes Leitbild formuliert: „Das Institut setzt sich theoretisch fundiert und mit empathischem Blick auf Lernende und Lernprozesse für eine gesellschaftlich relevante entwicklungsorientierte Lernkultur mit sinngebenden Prüfungen ein.“

Was heißt das genau?
Das musterhafte Auswendiglernen und Abfragen von Schulstoff ist nicht sinnstiftend und bereitet Schülerinnen und Schüler auch nicht auf das Berufsleben vor. Aber wenn wir die Prüfungskultur ändern, muss sich auch die Lernkultur ändern, denn beide sind eng miteinander verwoben.

Und mit empathischem Blick meinen wir, dass die traditionelle Prüfungskultur eine große psychische Belastung für die Schülerinnen und Schüler darstellt. Wir sind überzeugt, dass andere Prüfungsformate die Schülerinnen und Schüler entlasten können.

Lernziele für das 21. Jahrhundert wie Kommunikation und Kollaboration spielen in der traditionellen Prüfungskultur überhaupt keine Rolle. Im Gegenteil: Wenn Schülerinnen und Schüler während einer Prüfung kommunizieren oder kooperieren, sind das Täuschungshandlungen.

Prüfungsformate mit mehr Flexibilität

Wie kann ein Prüfungsformat konkret aussehen, wenn man an diesen Schiebereglern dreht?
Ich erkläre das mal an einem Beispiel aus meiner Schule: Eine achte Klasse sollte eine Argumentation schreiben. Ein Thema dabei war vegetarische Ernährung. Die Schülerinnen und Schüler konnten in zwei Räumen arbeiten: im Klassenraum und in der Schulbibliothek. Sie durften alle Hilfsmittel nutzen, zum Beispiel im Internet recherchieren oder ihre Aufzeichnungen aus dem Unterricht nutzen. Im Klassenraum haben sich die Schülerinnen und Schüler ausgetauscht, hier fand Kommunikation und Kollaboration statt. Es gab angeregte Diskussionen, die Schülerinnen und Schüler haben ihre Argumente vorgetragen und sich mit anderen Standpunkten auseinandergesetzt. So wurde vor allem das kritische Denken angeregt. Die Schulbibliothek war der Raum der Stille, wo sie dann für sich allein die Arbeit geschrieben haben. Die Schülerinnen und Schüler hatten einen halben Schulvormittag Zeit für die Arbeit und konnten in dieser Zeit zwischen den Räumen wechseln.

Ein anderes Beispiel: In der Oberstufe haben wir eine klassische Klausur geschrieben, die Schülerinnen und Schüler hatten in den ersten zehn Minuten aber Zeit, sich auszutauschen, bevor sie in eine normale Prüfungssituation gegangen sind. So ein Test-Talk unterstützt die Schülerinnen und Schüler sehr.

Welche Rolle sollten digitale Medien in der Prüfungspraxis spielen?
Wir leben in einer Kultur der Digitalität, und das sollte sich auch in den Prüfungen widerspiegeln. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall, in der Schule dominiert das Analoge. Wenn ein Projektmanager einen Auftrag bekommt, würde er sich doch auch nicht für 90 Minuten mit einem Blatt Papier und einem Stift in sein Büro einschließen, sich nicht mit Kolleginnen und Kollegen absprechen, nicht im Internet recherchieren und nicht seinen Rechner nutzen. Aber das verlangen wir von unseren Schülerinnen und Schülern.

In einer Abschlussprüfung im Fach Englisch der Mittelschule in Bayern mussten Schülerinnen und Schüler zum Beispiel eine E-Mail über 100 Wörter schreiben. Sie sollten sie auf einem Blatt Papier in gut leserlicher Handschrift verfassen und dabei auf die äußere Form achten. Da wird die ganze Absurdität deutlich.

Aber es geht auch nicht darum, dass Prüfungen nun nicht mehr Hand, sondern nur noch am Laptop geschrieben werden. Wichtig ist nicht die Form, sondern die inhaltliche Veränderung. Aufgaben einfach vom Papier auf die digitale Lernplattform zu übertragen, ist keine Weiterentwicklung. Denkbar ist dabei auch eine Mischung aus Analog und Digital.

ChatGPT auch für Prüfungsformate nutzen

Wie könnte das aussehen?
Wieder ein Beispiel aus meiner Schule: Schülerinnen und Schüler sollten eine Charakterisierung einer jugendlichen Figur aus einem Buch anfertigen – eigentlich eine klassische Aufgabe. Sie sollten sich dabei auch überlegen, welche Gegenstände für die Person wichtig sein könnten, und diese in eine fiktive Zeitkapsel legen. Dann sollten sie sich überlegen, was passieren würde, wenn die Person die Zeitkapsel nach 40 Jahren öffnet. Dazu sollten sie einen Social-Media-Post anlegen oder ein Unboxing-Video drehen, also ein Video, das die Person beim Auspacken der Zeitkapsel zeigt. Diese Aufgabe ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, digitale Tools kreativ zu nutzen.

ChatGPT ist gerade ein großes Thema. Lassen sich auch so ein Chatbot oder andere KI-Tools bei Prüfungen nutzen?
Ja, damit haben wir auch schon gearbeitet. Die Schülerinnen und Schüler konnten sich eine Argumentation über ChatGPT schreiben lassen und mussten dann in der Klassenarbeit begründen, welche Textteile sie von der KI übernehmen und welche sie lieber selbst schreiben würden. Den Part, von dem sie glaubten, dass die KI das nicht so gut hinbekommt, haben sie dann selbst geschrieben. Die Klassenarbeit bestand also aus einem Aufsatz und aus einem Reflexionsteil: Bewertet wurden beide Teile.

Wie schätzen Sie das Interesse von Schulen ein, neue Prüfungsformate zu entwickeln? Im aktuellen Schulbarometer gaben nur 7 Prozent der Schulleiterinnen und Schulleiter an, dass sie sich in ihren Schulentwicklungsprozessen mit Prüfungen und neuen Prüfungsformaten beschäftigen.
Ich sehe das positiv! Es ist doch schon ein gutes Zeichen, dass sich immerhin 7 Prozent der Schulen mit dem Thema Prüfungskultur in ihrer Schulentwicklung befassen. Aus unserer Sicht gibt es auch ein großes Interesse an dem Thema. Aber es stellt sich immer die Frage, wie weit man dabei gehen kann. Insbesondere wenn es um die Oberstufe und das Abitur geht, gibt es unglaublich dicke Bretter, die da gebohrt werden müssen. Wir wünschen uns daher, dass das Thema Prüfungskultur einen breiteren Raum in der Diskussion einnimmt, nicht nur in der Schule, sondern auch in der Bildungspolitik.

Prüfungen mit Straßenlampeneffekt

Welche Kompetenzen sollten neue Prüfungsformate sichtbar machen?
Wir wollen weg vom Straßenlampeneffekt: Das heißt, im Lichtkegel der Prüfungen werden nur die fachlichen Kompetenzen sichtbar. Das ist aber nur ein Kompetenzbereich. Lernziele für das 21. Jahrhundert wie Kommunikation und Kollaboration spielen in der traditionellen Prüfungskultur überhaupt keine Rolle. Im Gegenteil: Wenn Schülerinnen und Schüler während einer Prüfung kommunizieren oder kooperieren, sind das Täuschungshandlungen. Auch Kreativität und kritisches Denken kommen zu kurz, wenn es um das musterhafte Nachvollziehen von Kriterienrastern geht.

Wo lässt sich ansetzen, um Prüfungen entsprechend zu verändern?
Bei klassischen Prüfungen gibt es klare Vorgaben: Die Aufgaben erstellen die Lehrkräfte, eine Klassenarbeit ist eine Einzelarbeit, alle Schülerinnen und Schüler schreiben sie zur selben Zeit am selben Ort in einem vorgegebenen Zeitfenster. Wir wollen diese strengen Vorgaben aufbrechen. Was wäre, wenn eine Prüfung so lange dauert, wie Schülerinnen und Schüler brauchen, damit sie zeigen können, was in ihnen steckt? Wenn Schülerinnen und Schüler wählen könnten, wann sie die Arbeit schreiben? Wenn sie während der Arbeit Zugriff auf Hilfsmittel hätten? Wenn nicht permanent eine Aufsicht im Klassenraum wäre? All diese Vorgaben lassen sich verändern. Wir haben dafür ein Modell mit Schiebereglern entwickelt.

Es geht jetzt nicht darum, alle Schieberegler von einer auf die andere Seite zu schieben, sondern dosiert einzelne Parameter zu verändern und dadurch das Portfolio von Prüfungsformaten zu verändern. Ich glaube, es kommt auf eine gute Mischung an. In Nordrhein-Westfalen kann bislang eine Klassenarbeit pro Schuljahr durch ein alternatives Prüfungsformat ersetzt werden. Es gibt in einem Fach also fünf Klassenarbeiten und ein alternatives Format. Schön wäre, wenn es hier eine Parität gäbe.

Formatives Assessment gewinnt an Bedeutung

Inwieweit verändert sich die Bewertung bei alternativen Prüfungsformaten?
Alternative Prüfungsformate lassen sich genauso bewerten wie klassische. Und beide stehen vor den gleichen Herausforderungen, wenn es um Gütekriterien wie Objektivität, Reliabilität oder Validität geht. Sonst bräuchte man zum Beispiel im Abitur keinen Zweit- und Drittkorrektor. Und auch wenn alle Schülerinnen und Schüler eine Klassenarbeit am gleichen Ort und zur selben Zeit schreiben, ist die Vergleichbarkeit nicht unbedingt gegeben. Denn alle starten von unterschiedlichen Positionen und haben unterschiedliche Lernvoraussetzungen. Wichtig ist auf jeden Fall, dass man für alle gleiche Bedingungen schafft. Wenn zum Beispiel Hilfsmittel wie die Nutzung von digitalen Geräten für eine Prüfung erlaubt sind, müssen alle Schülerinnen und Schüler ein solches Gerät haben und an alle Informationen kommen können.

An Bedeutung gewinnt bei alternativen Prüfungsformaten das formative Assessment, weil der Lernprozess stärker in den Blick genommen wird. Und wir setzen bei alternativen Prüfungsformaten auch verstärkt auf die Selbstbewertung.

Die Schülerinnen und Schüler sollen sich dann selbst eine Note geben?
Traditionell ist es so, dass Schülerinnen und Schüler nur fremdbewertet werden. Wieso eigentlich? Wenn Schülerinnen und Schüler Selbstbewertungen vornehmen, gewinnen sie Klarheit, wo sie stehen. Im Gespräch mit der Lehrkraft können sie das vertiefen und gegenchecken, sodass dann eine gemeinsame Note zustande kommt, die die Schülerinnen und Schüler nachvollziehen können. Für beide Seiten ist das ein wichtiges Learning. Das darf dabei natürlich nicht zugehen wie auf einem Basar.

Das Korrigieren von 25 nahezu identischen Texten ist seelentötend. Mir ist es viel lieber, dass ich 25 ganz unterschiedliche Arbeiten korrigiere.

Wie verändert eine neue Prüfungskultur den Unterricht?
Sie verändert nicht nur die Arbeit von Lehrkräften, sondern auch die von Schülerinnen und Schülern. In einer herkömmlichen Prüfungskultur fragen sie im Unterricht oft, ob das jeweilige Thema klausurrelevant ist. Wenn es das nicht ist, halten sie es für weniger wichtig und schalten ab. Eine veränderte Prüfungskultur stellt das Lernen wieder stärker in den Fokus, und das Bewerten verliert ein bisschen an Stellenwert. Ich glaube, das macht auch die Arbeit von Lehrkräften interessanter. Das Korrigieren von 25 nahezu identischen Texten ist seelentötend. Mir ist es viel lieber, dass ich 25 ganz unterschiedliche Arbeiten korrigiere.

Alternative Prüfungsformate zu entwickeln, muss nicht aufwendiger sein

Aber ist das nicht viel aufwendiger?
Das wird zeitgemäßen Prüfungsformaten oft vorgeworfen. In der Tat ist es aufwendiger, wenn die Lehrkraft Einzelkämpferin ist. Entwickelt aber eine Fachschaft oder ein Jahrgangsstufenteam Formate gemeinsam, entsteht kein Mehraufwand. Wenn man Schülerinnen und Schülern zum Beispiel freistellt, ob sie in der zweiten, dritten oder vierten Woche eine Arbeit schreiben, müsste ich als Lehrer allein drei verschiedene Arbeiten entwickeln. Wenn ich aber mit meinen Kolleginnen und Kollegen in einer Jahrgangsstufe kollaboriere, können wir uns das aufteilen, dann haben die Klassen eines Jahrgangs gemeinsame Prüfungstermine und jede Lehrkraft ist für eine Woche zuständig. Auch bei einem Test-Talk, also wo sich Schülerinnen und Schüler vor Beginn der Klassenarbeit austauschen können, entsteht für mich kein Mehraufwand. Beides kann Schülerinnen und Schüler aber sehr entlasten.

Im aktuellen Deutschen Schulbarometer hat fast jede zweite Schulleitung bestätigt, dass die traditionelle Prüfungs- und Benotungspraxis eine starke psychische Belastung für die Schülerinnen und Schüler ist. Was muss vor allem passieren, damit sich das ändert?
Zeitdruck, Prüfungsangst und das Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein, bereiten vielen Schülerinnen und Schülern große Probleme. Daher halten wir kollaborative Phasen bei Prüfungen für sehr wichtig. Profitieren können davon im Übrigen alle Schülerinnen und Schüler, nicht nur die leistungsschwächeren.

Wichtig ist auch, Druck herauszunehmen, weil Schülerinnen und Schüler sonst nicht zeigen können, was in ihnen steckt. Wir haben mal ausgerechnet, dass Schülerinnen und Schüler im Schnitt in mindestens 32 von 40 Schulwochen eine Prüfung haben. Sie sind also im Dauerstress. Natürlich brauchen sie auch mal eine herausfordernde Situation, an der sie wachsen können, aber sie brauchen den Druck nicht an 32 von 40 Schulwochen.

Zur Person

Henrik Haverkamp vom Institut für zeitgemäße Prrüfungskultur
©Privat
  • Hendrik Haverkamp ist 1. Vorsitzender des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur. Er hat das Institut im Dezember 2020 mitgegründet. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie schien die Auseinandersetzung mit der Prüfungskultur besonders dringlich.
  • Er ist Lehrer für Deutsch und Sport und Koordinator für Digitalität am Evangelisch Stiftischem Gymnasium Gütersloh.
  • Außerdem gibt er Fortbildungen, zum Beispiel an der Deutschen Akademie für Pädagogische Führungskräfte (DAPF). Sein Schwerpunkt liegt hier im Bereich der Schul- und Unterrichtsentwicklung unter den Bedingungen der Digitalität.
  • Hendrik Haverkamp war auch einer der Referenten der digitalen Veranstaltung „Psychische Belastung in der Schule. Zeit für eine neue Prüfungskultur“ am 8. Februar 2023. In dieser Online-Veranstaltung des Campus des Schulportals ging es vor allem darum, wie sich die Art der Leistungsbewertung auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirkt und welche Handlungsansätze es für eine weniger belastende Prüfungskultur gibt. Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet:

Diskussion zu Prüfungen

Auf das Interview mit Hendrik Haverkamp auf dem Schulportal hat Michael Felten mit einem Gastbeitrag reagiert. Der frühere Lehrer, der heute als Schulentwicklungsberater arbeitet, erklärt, wieso er klassische Prüfungsformate weiterhin für wichtig hält.

Reaktionen aus dem #Twitterlehrerzimmer

Auch auf Twitter wird unter Lehrkräften diskutiert, ob die aktuelle Prüfungskultur an Schulen noch zeitgemäß ist und wie Alternativen aussehen könnten.