Nachhilfe : „Ich kann Mathematik überhaupt nicht!“

Mathematik ist Spitzenreiter bei der Nachhilfe. Für kein anderes Fach suchen sich Schülerinnen und Schüler so viel Unterstützung. Oft stecken hinter den Schwierigkeiten mit dem Fach allerdings ganz andere Probleme. Das Schulportal hat einen Nachhilfelehrer getroffen, der zuvor ein halbes Jahrhundert Mathematiklehrer war. Hier erzählt er, was die Kinder und Jugendlichen zu ihm führt und was im Unterricht besser laufen könnte.

Mädchen rechnet an der Tafel Aufgabe in Mathematik
Mathematik bringt viele Schülerinnen und Schüler zur Verzweiflung. Und besonders schlimm ist es oft, an der Tafel eine Aufgabe rechnen zu müssen.
©Adobe Stock

„Ich kann Mathe überhaupt nicht!“ Diesen Satz hört Helmut Helmer von Jugendlichen immer wieder. Aber auch nach einem halben Jahrhundert als Mathelehrer kann er diesen Satz nicht einfach so stehen lassen. Aufgeben – das passt nicht zu dem 75-Jährigen, der sich noch immer fast jeden Tag mit Formeln, Gleichungen und Rechenarten beschäftigt.

Inzwischen nicht mehr in der Schule, sondern in seinem kleinen Arbeitszimmer zu Hause, in dem er Schülerinnen und Schüler zum Nachhilfeunterricht empfängt. Er weiß: „,Ich kann Mathe überhaupt nicht!‘ – das stimmt nicht. Was stimmt, ist: Jeder hat unterschiedliche Fähigkeiten, ein eigenes Lerntempo und braucht oft auch einen eigenen Weg der Vermittlung.“

Wegen des Lehrermangels hat er auch als Rentner Mathematik unterrichtet

Helmut Helmer stand das erste Mal 1966 vor einer Klasse, mit 22 Jahren. Als Mathematik- und Erdkundelehrer an einer Polytechnischen Oberschule im sächsischen Meerane. Später wechselte er an das heutige Weinberg-Gymnasium in Kleinmachnow (Brandenburg). 2009 ging er in Rente.  Aber schon nach wenigen Wochen fragten ihn die ersten Eltern, ob er nicht Nachhilfeunterricht geben könne. Konnte er, denn so ganz ohne Mathe fehlte ihm ohnehin etwas.

Immer mehr Kinder kamen zu ihm – und irgendwann auch Anfragen von Schulen, ob er vielleicht wieder unterrichten wolle. Sie fänden keine Lehrkräfte für Mathematik. Kaum in Rente, war er also schon wieder im Schuldienst. Zuerst an einer Grundschule in Kleinmachnow bei Berlin, dann bis vor einem Jahr in einem Gymnasium in Berlin. Nun gibt er nur noch Nachhilfe. Wobei er dieses Wort eigentlich nicht mag, er spricht lieber von „Mathe-Konsultation“.

Jeder hat seine eigenen Fähigkeiten. Die vererben sich nicht automatisch
Helmut Helmer, Mathematiklehrer
Lehrer Helmut Helmer sitzt am Tisch und rechnet
Helmut Helmer war mehr als 50 Jahre im Schuldienst und hat Mathematik unterrichtet. In seinem Arbeitszimmer unterstützt er Kinder heute als Nachhilfelehrer.
©Annette Kuhn

Nachhilfe klingt für ihn zu sehr nach Schwäche. Dabei seien viele Kinder gar nicht „schwach“ in Mathe, sondern hinter den Schwierigkeiten steckten oft andere Dinge. „Wenn Eltern zur ersten Besprechung mitkommen, höre ich manchmal: ,Das hat mein Sohn von mir, ich konnte Mathe auch nicht.‘“ Nein, denkt Helmut Helmer dann: „Jeder hat seine eigenen Fähigkeiten. Die vererben sich nicht automatisch.“ Allerdings würden sich Angst und Druck der Eltern durchaus auf die Kinder übertragen. Wenn die Eltern dann weg sind, sagt er oft zu den Kindern: „Lass dir so etwas nicht einreden.“ So fangen bei Helmut Helmer manche „Konsultationen“ an.

Viele Kinder wissen nicht, wo sie stehen

Aber nicht nur die Eltern können Schülerinnen und Schüler verunsichern. Oft liege es auch am Unterricht in der Schule, dass sie gar nicht wissen, wo sie stehen und wo ihre Stärken liegen. Aus seiner Sicht fehlt es häufig am regelmäßigen Üben der wesentlichen Grundlagen, „das Wiederholen wird heute zu sehr vernachlässigt“. Manche Schülerinnen und Schüler kommen im Unterricht auch zu wenig zum Zug, bei der Gruppenarbeit zum Beispiel. „Ich habe nichts gegen Gruppenarbeit“, betont Helmer, „aber jeder muss wissen, was sein Anteil dabei ist.“ Werde Gruppenarbeit nicht gut begleitet, löse oft nur einer die Aufgabe, und die anderen schreiben mit.

Und manchmal sorge auch das Klima im Unterricht für Verunsicherung. Es kommen Kinder und Jugendliche zu Helmut Helmer, die sich nicht mehr trauen, etwas im Unterricht zu sagen, weil sie Angst haben, ihr Ergebnis sei falsch. Oder die an der Tafel vor der ganzen Klasse ihren Rechenweg oder eine geometrische Figur darstellen sollten und dabei eine Blamage erlebt haben.

Oft erleben Kinder eine Blamage im Mathematikunterricht

Wenn er von solchen Erlebnissen hört, kann der 75-Jährige nur den Kopf schütteln. So bauten sich doch nur Blockaden auf. „Das war selbst für mich als Lehrkraft nicht einfach, mit dem riesengroßen Lineal und Zirkel an der Tafel zu hantieren – wie soll das erst für die Kinder sein?“ In seinem Unterricht durften sich die Schülerinnen und Schüler an der Tafel immer eine Assistenz in der Klasse suchen, damit sie zu zweit waren.

Im Nachhilfeunterricht hat Helmer oft erlebt, dass Schülerinnen und Schüler, die etwas gerechnet haben, sofort eine Rückmeldung von ihm haben wollen. „Ich frage dann erst mal zurück: ,Was denkst du?‘“ Oft sei es vorgekommen, dass Kinder richtige Ergebnisse wieder durchgestrichen hatten – nur aus Angst, es könne falsch sein.

Wenn Schüler etwas nicht verstehen, liegt das meist nicht an ihnen – dann muss ich doch als Lehrer über meine Methode nachdenken.
Helmut Helmer, Mathematiklehrer

In der Schule – und auch jetzt bei der Nachhilfe – gibt es für Helmut Helmer eine Regel: „Wenn Schüler etwas nicht verstehen, liegt das meist nicht an ihnen – dann muss ich doch als Lehrer über meine Methode nachdenken.“ Gerade heute gebe es so viele Möglichkeiten, auch durch die digitalen Medien. Die könnten zwar keine gute Pädagogik ersetzen, aber eine Bereicherung und gute Unterstützung sein. Zum Beispiel auch die Tutorials auf Youtube. Da hat Helmut Helmer sich neulich selbst ein Video angeschaut, um besser erklären zu können, wie die Substitutionsregel funktioniert.

Und noch etwas hat sich Helmut Helmer als Lehrer immer wieder gesagt: „Nicht alle lernen gleich.“ Daher hat er sich bemüht, in seinen Klassen differenziert zu unterrichten, jeden möglichst auf seinem jeweiligen Niveau abzuholen. Zum Beispiel hat er Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden sowohl im Unterricht als auch bei den Hausaufgaben angeboten und die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler motiviert, die weniger starken zu unterstützen. „Natürlich hat so etwas Grenzen in einer Klasse von 30 Schülern – aber es lässt sich schon viel machen“, so seine Überzeugung. Ziehe man den Unterricht dagegen nach einem festen Schema durch, blieben auf jeden Fall zu viele auf der Strecke bleiben.

Kurz vor der Abiturprüfung haben manche Angst vor einem Totalausfall in Mathematik

Nicht selten kommen Jugendliche aus der Oberstufe zu ihm, die den Anschluss an den Stoff bereits in der Mittelstufe verloren haben und nun nicht wissen, wie sie die Abiturprüfung schaffen sollen. Sie hätten das Gefühl, gar nichts mehr zu können, und jetzt Angst vor einem Totalausfall.

Doch so schlimm ist es dann meist doch nicht. Helmers Ansatz ist es, die Schüler dahin zu bringen, sich auf ihre Stärken zu konzentrieren – also nicht dahin zu schauen, was alles nicht geht, sondern dahin, was sie können. Dazu müssten die Schülerinnen und Schüler allerdings erst mal lernen, ihre eigenen Leistungen einzuschätzen. „Wenn sie wissen, was sie können, steigt die Motivation, und sie haben Erfolgserlebnisse.“

In der DDR hatte Mathematik einen höheren Stellenwert

Letztlich könnten sie dann auch mehr Freude an der Mathematik haben. Und dann würde vielleicht auch diese Anti-Haltung gegenüber Mathematik verschwinden, die Helmer so oft beobachtet. Und die ihn ärgert: „In manchen Talkshows geht es irgendwann um Schule und dann schnell auch darum, wer das schrecklichste Mathe-Erlebnis hatte. Und es kommt schon vor, dass Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft sich damit brüsten, wegen Mathe mal sitzengeblieben zu sein.“

In der DDR, sagt Helmer, sei das anders gewesen. Hier habe das Fach einen höheren Stellenwert gehabt. Wer in den Produktionsbetrieben etwas werden wollte, musste gut in Mathe sein. Auch der Praxisbezug sei im Unterricht stärker gewesen. Helmut Helmer hat selbst immer versucht, seinen Schülern die Alltagsnähe des Fachs zu vermitteln.

Neue Wege der Vermittlung von Mathematik suchen

Als es Begriffe wie „Outdoor Learning“ oder „Forschendes Lernen“ noch gar nicht gab, hat Helmer in seinen Klassen zum Beispiel kurz vor den Sommerferien ein „Mathepraktikum“ eingeführt. Da gingen Schülerinnen und Schüler in Gruppen nach draußen, um zu berechnen, wie lang die Kabel sein müssten, die unter der Schule verlegt werden sollten, oder wie hoch das Schulgebäude sei. „Dafür braucht man alles: Winkelmessung, Satz des Pythagoras, Dreiecksberechnung.“

Mathematik stecke doch in allem – und das ist wohl auch der Grund, wieso Helmut Helmer weiter am Nachmittag Schülerinnen und Schüler empfangen und mit ihnen rechnen wird.

Er macht das gern, allerdings wäre ihm etwas anderes noch lieber: „Wenn ich keine Nachhilfe mehr geben müsste, sondern wenn der Unterricht in der Schule so differenziert und vielseitig wäre, dass jeder nach seinen Fähigkeiten Mathematik versteht und Freude daran hat.“ Aber dazu bräuchten die Schulen viel mehr Personal und finanzielle Unterstützung.

Mehr zum Thema

Das Schulportal befasst sich in diesem Monat in verschiedenen Beiträgen mit der Frage, wie Kinder und Jugendliche am besten Mathe lernen und welche Herausforderungen an den Unterricht gestellt werden.

  • Die Initiative „Mathe.Forscher“ will mehr Alltagsbezug in den Mathematikunterricht bringen. Wie das konkret aussieht, hat sich das Schulportal an einer Heidelberger Grundschule angeschaut.
  • Camilla Rjosk und Sofie Henschel, Autorinnen des IQB-Bildungstrends 2018, zeigen in ihrem Gastbeitrag auf, welche Qualitätsmerkmale einen guten Mathematikunterricht ausmachen.
  • In einem Interview erklärt Günter M. Ziegler, Mathematikprofessor und Präsident der Freien Universität Berlin, was gute Lehrkräfte im Fach Mathematik mitbringen sollten und was mathematische Formeln mit Bildern zu tun haben.
  • Jugendliche testen verschiedene Tutorial-Angebote im Internet. Dieser Beitrag erscheint noch.
  • Wie stark beeinflusst unser Selbstkonzept das Lernen von Mathematik? Das Schulportal hat dazu die Bildungsforscherin Anke Heyder von der TU Dortmund interviewt.
  • In der neuen Folge ihres Podcasts „Schule kann mehr” sprechen der ehemalige Berliner Schulleiter Helmut Hochschild und der Radiojournalist Leon Stebe über unterschiedliche Erfahrungen mit dem Mathematikunterricht, Mathefrust und Mathelust.