Dyskalkulie : Mehr als bloß schlecht in Mathe
Dyskalkulie ist genetisch bedingt. Doch der Nachteil der Rechenschwäche wird an weiterführenden Schulen bei den Noten in Mathematik nicht ausgeglichen. In Deutsch gelten andere Regeln.


Es hat lange gedauert, bis Sophia erfuhr, dass ihre Schwierigkeiten in Mathe einen Namen haben. In der Grundschule war die Frankfurter Schülerin noch ganz gut in dem Fach. In der fünften Klasse fiel es ihr schwerer, aber sie war jetzt eben auf dem Gymnasium. „Ich dachte, ich muss mich daran gewöhnen.“ Das funktionierte nicht. „Da dachte ich, ich bin einfach schlecht in Mathe“, sagt das Mädchen, das inzwischen in die neunte Klasse geht und eigentlich anders heißt. Die Eltern wollten helfen. Beim Üben wurde der Vater regelmäßig ungeduldig und ungehalten, wenn die Tochter zum Rechnen die Finger benutzte und grundlegende Dinge nach einer Woche vergessen hatte. „Dann haben wir angefangen zu recherchieren.“
Die Familie fand heraus, dass es Menschen gibt, die grundlegende Fertigkeiten der Mathematik nicht beherrschen – die Grundrechenarten, das Einschätzen von Mengen. Sie leiden an Dyskalkulie, oft auch Rechenstörung genannt. Nach der neuesten Forschung sind drei bis fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen von der genetisch bedingten „Teilleistungsstörung“ betroffen. Das berichtet Sabine Behrendt, die Vorsitzende des hessischen Landesverbands für Legasthenie und Dyskalkulie. Die beiden Störungen träten oft gemeinsam auf, viele der Kinder könnten sich außerdem schlecht konzentrieren, einem Gespräch vor einer anderen Geräuschkulisse nicht richtig folgen. „Die genaue Veranlagung ist spezifisch“, sagt Behrendt. „Das macht die Diagnostik so schwierig.“
Entscheidung der Kultusminister steht im Weg
Anders als eine heilbare, nicht angeborene Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) könnten Dyskalkulie und Legasthenie nur von spezialisierten Therapeuten diagnostiziert werden. An Schulen werden Kinder oft auf eine LRS getestet. Die wird dann beim Lernen und in den Noten berücksichtigt, auch in der weiterführenden Schule. In Mathematik ist das nicht erlaubt. So hat es die Kultusministerkonferenz vor vielen Jahren beschlossen, alle Bundesländer müssen sich daran halten.
Betroffene hoffen dennoch, dass sich in Hessen daran etwas ändert. Immerhin gibt es beim Kultusministerium eine Expertengruppe, die sich der Dyskalkulie angenommen hat, und im Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Landesregierung von 2018 findet sich die vage Aussage, die Beratung und Förderung „von Schülerinnen und Schülern mit Dyskalkulie und Legasthenie soll vereinfacht und über das Kindesalter hinaus ermöglicht werden“.
Kinder haben Anrecht auf individuelle Förderung
Sabine Behrendt ist zudem der Ansicht, das hessische Schulrecht sei in dieser Hinsicht widersprüchlich und werde an den Schulen zu restriktiv ausgelegt. Immerhin stehe darin, dass Schüler mit Schwierigkeiten beim Rechnen Anspruch auf individuelle Förderung hätten. Der 600 Mitglieder zählende Landesverband verweist zudem auf den Inklusionsgedanken. Auch deshalb müssten Schulen den sogenannten Notenschutz gewähren. In Deutsch wird die Rechtschreibung bei den Zensuren für Legastheniker und Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche ausgeklammert. In Klassenarbeiten bekommen die Schüler mehr Zeit. Das wünschen sich Schüler wie Sophia auch für Mathearbeiten. Außerdem, sagt Behrendt, würde ihnen ein Taschenrechner „immens helfen“. Sie könnten damit den Nachteil ausgleichen, den sie bei den Grundrechenarten haben. „Die höhere Mathematik ist nicht das Problem.“
Die Kultusministerkonferenz begründet das ungleiche Vorgehen in dem Beschluss von 2007 damit, dass Rechenstörungen „nicht hinreichend erforscht und abgesichert sind“. Außerdem heißt es da, Schüler mit LRS könnten sich mündlich dennoch fachbezogen in den Unterricht einbringen. Das „Ergebnis verfehlter Rechenoperationen“ sei dagegen „häufig dysfunktional“. Würde man Rechenstörungen in den Noten berücksichtigen, würde der Grundsatz der gleichen Leistungsbewertung verletzt.
Gezielte Übungen dank Diagnose
Sophia kommt mit Minus- und Geteilt-Aufgaben nicht klar. Das kam heraus, als sie als Siebtklässlerin einen Test bei einer Lernpädagogin machte. Die Gymnasiastin weiß noch, wie erleichtert sie war, „dass meine Eltern jetzt wissen, dass ich das habe“. Nun konnte sie gezielter üben. Die Eltern investierten in die Dienste eines professionellen Instituts, bei dem die Tochter in der siebten und achten Klasse den Stoff der Grundschule nachholte, mit 90 Minuten Intensiv-Unterricht alle zwei Wochen und täglich zehn Minuten Training mit einem Online-Tool.
Beseitigen lässt sich Dyskalkulie dem Verband zufolge nicht, aber teilweise kompensieren – was auch der Grund dafür ist, dass sie gerade bei intelligenten Kindern oft nicht erkannt wird. Sie entwickeln Strategien, lernen etwa vieles auswendig, so dass die Störung erst spät auffällt.
„Das Ziel ist, auf einer Vier zu bleiben“
Nach dem Test sprach Sophias Familie mit der Mathelehrerin. Es stellte sich heraus, dass die Pädagogin sich gerade noch im Studium mit Dyskalkulie beschäftigt hatte. Ein Glücksfall, denn das Thema gehört laut Sabine Behrendt nämlich nicht zum Pflichtprogramm in der Lehrerausbildung. „Sie hilft mir immer und fragt, ob ich es verstanden habe.“
Die Klassenarbeiten muss die Neuntklässlerin aber ganz normal mitschreiben. Wenn sie könnte, würde sie Mathe im Abitur abwählen, aber das geht in Hessen nicht. Zur Zeit wünscht sich die Fünfzehnjährige einen Beruf mit Tieren, auf einem Gnadenhof oder einer Ranch. Der Vater geht aber davon aus, dass sich das noch ändern kann, das Abitur vielleicht noch wichtig wird für einen Studienwunsch. Im letzten Zeugnis hatte die Tochter in Mathe eine Vier. Er sagt: „Das Ziel ist, auf einer Vier zu bleiben.“
Vor allem Geometrie und Textaufgaben fallen der Schülerin schwer. Nach Regeln rechnen dagegen mag sie. Die schreibt sie sich immer auf ein Extrablatt und legt es neben das Heft. Gerade nehmen sie Parabeln durch, die nach Regeln funktionieren. In solchen Zeiten, sagt Sophia, gehöre Mathe sogar zu ihren Lieblingsfächern.