Künstliche Intelligenz : „In zehn Jahren wird die Schule ganz anders aussehen“

In vielen Bereichen wird Künstliche Intelligenz (KI) bereits selbstverständlich genutzt. In der Schule kommt sie bislang noch wenig zum Einsatz. Dabei würde der Einsatz entsprechender Lerntechnologien für den Unterricht neue Perspektiven öffnen, sagt Lernforscherin Ulrike Cress im Interview mit dem Schulportal. So könnten KI-Instrumente Schülerinnen und Schülern passgenauere Angebote machen und auch für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Die Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien spricht zu diesem Thema auch bei der Konferenz des Forums Bildung Digitalisierung, die sich vom 10. bis 12. November mit verschiedenen Aspekten der digitalen Bildung an Schulen befasst.

Lehrer mit Schülern vor Tablet Künstliche Intelligenz
Die Nutzung digitaler Medien im Unterricht sollte viel selbstverständlicher werden, wünscht sich Lernforscherin Ulrike Cress.
©Maskot/Getty Images

Deutsches Schulportal: Die Konferenz des Forums Bildung Digitalisierung trägt 2022 die Überschrift „Visionen für das System Schule“. Welche Visionen haben Sie in Bezug auf die Nutzung digitaler Medien in der Schule?
Ulrike Cress: Meine Vision ist, dass digitale Medien viel selbstverständlicher im Unterricht und Schulalltag genutzt werden, dass sie wie Schulbücher und Arbeitsblätter Teil des Repertoires sind. Durch digitale Medien können Lehrkräfte ihre Möglichkeiten für den Unterricht drastisch erweitern. Sie können Distanzen überbrücken – zum Beispiel zu anderen Klassen oder sogar zu anderen Ländern – und Außerschulisches integrieren. Sie können die Schülerinnen und Schüler kognitiv vielfältiger aktivieren, ihnen Aufgaben geben, die motivierender und kooperativer sind.

Damit dies alles aber möglich ist, muss es geübte Praxis und genug erprobtes Material geben. Bisher ist die Arbeit mit digitalen Medien noch mit einem großen Aufwand für Lehrkräfte verbunden – technisch und didaktisch.

Intelligente Tutorielle Systeme, künstliche Intelligenz, Learning Analytics – wofür stehen diese Begriffe?
Intelligente Tutorielle Systeme (ITS) gibt es schon seit fast 50 Jahren. Sie basieren auf einem Modell, wie Wissen repräsentiert sein muss. Zum Beispiel für Mathematik: Was müssen Schülerinnen und Schüler verstehen, um eine Addition oder Subtraktion machen zu können? Welche Schritte folgen aufeinander? Nach diesem Modell erstellt das System Aufgaben und diagnostiziert, was die oder der Lernende kann. Das ist ein relativ aufwendiges Verfahren, das viel Expertise voraussetzt. Und das ist auch der Grund, warum Intelligente Tutorielle Systeme nur zum Teil in der Praxis angekommen sind.

Künstliche Intelligenz (KI) geht einen anderen Weg. Sie ist nicht theoriegeleitet, sondern sammelt Tausende Daten von Personen beim Lösen von Aufgaben. Je mehr Daten sie hat, desto besser kann sie arbeiten. KI-Instrumente ermitteln auf der Datenbasis, welche Personen beim Lösen von Aufgaben erfolgreich sind, und stellen Muster fest, was einen guten von einem schlechten Lösungsweg unterscheidet. Das System kann so ableiten, welche Lernenden zum Ziel kommen und wer Unterstützung braucht.

Learning Analytics wiederum ist ein Instrument zum Erfassen und Analysieren der Daten, auf denen die KI-Verfahren im Lernbereich aufbauen.

Ulrike Cress Digitalexpertin Stäwiko
©Paavo Ruch/IWM Tübingen
  • Ulrike Cress ist seit 2017 Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM) und dort Leiterin der Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion.
  • Seit 2008 ist sie Professorin an der Universität Tübingen im Fachbereich Psychologie.
  • Ulrike Cress hat Psychologie studiert, wurde 2000 promoviert und 2006 an der Universität Tübingen habilitiert.
  • Sie hat zahlreiche Projekte zum digitalen Lernen in Schule und Hochschule durchgeführt.
  • Im Mai 2021 wurde Ulrike Cress als Expertin für digitale Bildung in die neu gegründete Ständige wissenschaftliche Kommission (StäwiKo) der Kultusministerkonferenz berufen. Deren Aufgabe ist die Beratung der Länder in Fragen der Weiterentwicklung und des Umgangs mit den Herausforderungen im Bildungswesen. Zuletzt hat die StäwiKo eine Stellungnahme zur Verbesserung der digitalen Bildung in den Schulen veröffentlicht.

Durch künstliche Intelligenz mehr Individualisierung möglich

Welche Möglichkeiten bietet künstliche Intelligenz in der Schule?
Die Erwartungen an die künstliche Intelligenz im Unterricht sind groß. Tatsächlich kommt KI in der Schule bislang aber noch wenig zum Einsatz. Es sind eher die Portale für den Nachmittagsmarkt, die sie nutzen. Sie sammeln Daten von Millionen Schülerinnen und Schülern und entwickeln auf dieser Grundlage Aufgaben, die sich an die jeweiligen Leistungsstände anpassen.

Solche Anpassungen und Individualisierungen sind auch für den Schulunterricht denkbar. Eine Lehrkraft macht dann nicht mehr gleiche Aufgaben für alle, sondern jedes Kind bekommt Aufgaben, die spezifisch auf seine Kompetenzen zugeschnitten sind, und erhält Rückmeldungen in Form eines individualisierten Feedbacks. Durch die entsprechenden KI-Instrumente können die Lehrerinnen und Lehrer viel differenzierter bestimmen, wo die einzelnen Kinder stehen und was sie als Nächstes brauchen. Letztlich lassen sich so auch mehr Chancengerechtigkeit erreichen und Inklusion besser umsetzen. Ich finde es aber schade, wenn man die Möglichkeiten von KI nur auf die Adaptivität reduziert.

Was kann sie denn darüber hinaus erreichen?
Auch soziale Lernszenarien sind über KI zum Beispiel denkbar. Am Leibniz-Institut für Wissensmedien forschen wir zurzeit daran, einen Agenten zu entwickeln, der sich an die Sprache des Lernenden anpasst. Er nimmt die Wortwahl, die Stimme und sogar die Gestik der Lernenden an. Dadurch ergeben sich beim Lernen neue Möglichkeiten der Interaktion.

Auch in der Grundschule gibt es Beobachtungen – allerdings bislang nur anekdotischer Evidenz –, dass Kinder, die sprachlich Schwierigkeiten haben, sich leichter tun, mit einem Roboter als mit der Lehrkraft zu sprechen. Die Kommunikation mit dem Roboter ist niedrigschwellig und spielerischer. Der Roboter ist zunächst „dumm“ und merkt nicht, wenn das Kind Fehler macht. Erst nach und nach lernt er in der sozialen Interaktion mit dem Kind. Dadurch kehren sich die Rollen von wissender Lehrkraft und unwissender Schülerin oder unwissendem Schüler um.

Die Entwicklung von KI-Instrumenten für die Schule kann nicht Software-Anbietern überlassen werden. Es ist wichtig, dass dabei Erkenntnisse der Pädagogik und Psychologie einfließen.

Wo sehen Sie die Grenzen von KI?
Künstliche Intelligenz kann vorhersagen, welche Lernenden zum Erfolg kommen, auf welchem Lernstand sie sind und was sie brauchen. Aus Sicht der Lernforschung fehlt aber die Theorie dahinter. Instrumente der künstlichen Intelligenz müssen mit einer fachdidaktischen Perspektive kombiniert werden. Die Entwicklung von KI-Instrumenten für die Schule kann nicht Software-Anbietern überlassen werden. Es ist wichtig, dass dabei Erkenntnisse der Pädagogik und Psychologie einfließen.

In anderen Ländern mehr Offenheit gegenüber digitalen Medien

An deutschen Schulen ist die Skepsis gegenüber KI-Instrumenten für den Unterricht noch relativ groß. Woran liegt das?
Eltern und Lehrkräfte in Deutschland haben traditionell eine kritische Haltung gegenüber digitalen Medien für Kinder. Manchen erscheint es so, als würde man einen Fernseher in den Klassenraum stellen und Kinder nur konsumieren lassen. Sie befürchten, digitale Medien würden „dumm und faul“ machen. In den USA ist das anders. Hier hat man schon früh das spielerische, kreative Element gesehen.

In der Corona-Zeit hat sich diese Sichtweise aber auch in Deutschland gewandelt. Heute sehen viele auch die positiven Aspekte der digitalen Welt viel stärker.

Wie verändert sich die Rolle der Lehrenden durch die Nutzung von digitalen Medien, die auf KI-Verfahren basieren?
Die Bedeutung der Lehrkraft wird durch künstliche Intelligenz keinesfalls verringert, denn KI-Instrumente können nur einen Teil des Unterrichts übernehmen. Wenn die KI-Instrumente aber gut eingesetzt werden, können sie für eine große Entlastung sorgen. Wenn KI-Instrumente die Verteilung, das Korrigieren und die Anpassung von Aufgaben übernehmen, haben Lehrerinnen und Lehrer viel mehr Kapazität, um sich einzelnen Schülerinnen und Schülern stärker zuzuwenden und sich auf andere wesentliche Aspekte des Unterrichts zu konzentrieren. Unterricht ist doch viel mehr als nur das Verteilen von Aufgaben.

Um digitale Bildung an Schulen voranzubringen, ist eine länderübergreifende konzertierte Zusammenarbeit erforderlich.

Sie sind auch Mitglied der Ständigen wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (StäwiKo). Diese hat Anfang des Monats eine Stellungnahme zur digitalen Bildung an Schulen veröffentlicht. Sie fordern darin auch, digitale Lerntechnologien stärker zu nutzen. Welche Weichen müssen dafür gestellt werden?
Erst mal muss die Basis gelegt sein. Ohne technische Ausstattung, ohne Support geht gar nichts. Der Support muss sowohl die Technik als auch die Didaktik im Blick haben. Außerdem brauchen wir entsprechende Schulungen der Lehrkräfte und Materialien, die geprüft und passend sind. Praxis und Wissenschaft müssen hier eng zusammenarbeiten und auch Verlage, die sich damit beschäftigen, mit ins Boot holen. Um digitale Bildung an Schulen voranzubringen, ist eine länderübergreifende konzertierte Zusammenarbeit erforderlich.

Digitale Entwicklung ist nicht Sache einzelner Lehrkräfte

Gerade in der Corona-Pandemie wurde der Bildungsmarkt mit digitalen Lehr- und Lernangeboten geflutet. Wie lassen sich hier Qualitätsstandards sichern?
Es ist schwierig, bei der Masse der Angebote die Qualität zu sichern. Aber die Prüfung der Angebote kann keinesfalls den Lehrkräften überlassen werden. Da ist die Bildungspolitik gefragt, zum Beispiel entsprechende Listen mit Empfehlungen zu erstellen und auch zu überprüfen, inwieweit die Angebote datenschutzkonform sind.

Die Nutzung sollte auf jeden Fall an Curricula gebunden sein. Und es sollte klar definiert sein, welche lernpsychologischen und pädagogischen Kriterien erfüllt sein müssen, damit die Instrumente das Lernen sinnvoll unterstützen. Viele Anwendungen sind bunt und schön, aber das sagt nichts darüber aus, ob sie auch lernförderlich sind.

Was muss sich an den Schulen ändern, um mehr Offenheit gegenüber dem Einsatz digitaler Lerntechnologien zu erreichen?
Bislang wird zu viel auf den Schultern der Lehrkräfte abgeladen. Digitale Entwicklung ist aber keine Aufgabe einzelner Lehrkräfte, sondern der Schule als Organisation. Die Schule muss sich als Treiber für die digitale Transformation verstehen, sie braucht eine gemeinsame Haltung, ein Konzept, das von allen mitgetragen wird.

Schulen, die da schon weiter sind, zeichnen sich dadurch aus, dass die Kooperation im Kollegium hier viel stärker ist, dass Lehrkräfte gemeinsam Unterricht planen und dass die Selbststeuerung von Schülerinnen und Schülern beim Lernen eine größere Rolle spielt.

Wie lange wird es aus Ihrer Sicht dauern, bis alle Schulen sich auf diesen Weg machen?
Die Corona-Pandemie hat hier einen wichtigen Anstoß gegeben und das Tempo beschleunigt. Jetzt kommt es darauf an, die genannten Voraussetzungen zu schaffen und die digitalen Technologien, die es schon gibt, so kompatibel zu machen, dass alle darauf zurückgreifen können. Das geht aber nicht von heute auf morgen.

Ich denke, die digitale Transformation in der Schule wird einige Jahre dauern. Aber in zehn Jahren wird die Schule ganz anders aussehen. Davon bin ich fest überzeugt.