Individuelle Förderung : „Kennt meine Lehrkraft mich richtig?“
Von verstärkter Lernstandsdiagnostik über die Wichtigkeit lernförderlichen Feedbacks bis hin zu einem sinnvollen Mix aus Begleitung und Machenlassen: Bildungsforscherin Jasmin Decristan erklärt, wie individuelle Förderung während und nach Corona gelingen kann, welche Ansätze der Bewerberschulen des Deutschen Schulpreises 20|21 Spezial dabei wegweisend sind – und warum es dabei mehr um eine ganzheitliche Unterrichtsstrategie als um die Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler gehen muss.

Deutsches Schulportal: Für individuelle Förderung ist die Erfassung von Lernstand und -entwicklung essenziell. Während der Lockdowns war das schwierig. Inwiefern können digitale Lernstandserhebungen, wie sie an manchen Bewerberschulen des Deutschen Schulpreises 20|21 Spezial verstärkt eingesetzt wurden, persönliche Beobachtungen ersetzen – was wären zukunftsweisende Alternativen?
Jasmin Decristan: Normalerweise findet die fortlaufende Lernstandserfassung „on the fly“ während des Gesprächs im Präsenzunterricht statt. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass Lehrkräfte mündlich nicht alles mitbekommen können. Kleinere diagnostizierende Aufgaben bieten Orientierung zum Lernstand aller Kinder und die Möglichkeit, ihnen zu spiegeln: Ich realisiere, was du kannst. Eine große Chance, auch über Corona hinaus, liegt für mich in digitalen Tools zur Lernverlaufsdiagnostik. Durch systematische Nutzung ließen sich bessere Einblicke gewinnen. Selbst im Unterrichtsgespräch gibt es immer wieder Kinder, die durchs Raster fallen.
Kleinere diagnostizierende Aufgaben bieten Orientierung und die Möglichkeit, den Kindern zu spiegeln: Ich realisiere, was du kannst.
Welche praktischen Konzepte halten Sie aus Sicht der Unterrichtsforschung für sinnvoll? Kann ein personengebundenes Einzelcoaching, wie das auch während der Pandemie von Bewerberschulen umgesetzt wurde, die Lösung für alle sein?
Um herauszufinden, wo Schülerinnen und Schüler stehen und wie ihre Lebenswelt aussieht, ist so etwas definitiv sinnvoll – und höchst engagiert. Denn ein einziger Termin kurz vor der Zeugniskonferenz bringt wenig, aber beispielsweise monatlich stattfindende Gespräche würden Kontinuität schaffen. Kleingruppen, um soziale Elemente zu nutzen, könnten ebenso förderlich sein. Manche fühlen sich mit ihren besten Freundinnen und Freunden zusammen wohler – sie kommen dann mehr aus sich heraus. Wichtig für die individuelle Lernmotivation und auch das Lernen selbst bleiben regelmäßige Feedbacks. Digitale Feedbackformate, wie sie während der Lockdowns lernförderlich eingesetzt wurden, ließen sich fortführen.
Der Deutsche Schulpreis 20|21 Spezial zeigt, dass Schulen in der Corona-Pandemie verstärkt digitale Projektarbeit eingeführt haben, zum Teil mit differenzierten Aufgaben für verschiedene Leistungsniveaus. Inwiefern ist das eine gute Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem Lernstand gleichermaßen abzuholen – wo sehen Sie Grenzen dieses Lernmodells?
Durch zunehmend heterogene Klassen ist Differenzierung unbedingt nötig. Unterschiedliche Schwierigkeitsniveaus können eine Möglichkeit darstellen. Wir müssen die Debatte aber weiterführen: Welche Aufgaben fördern und fordern alle? Welche Aufgabenstellungen gibt es, die sich auch mit verschiedenen Lernständen lösen lassen? Eine vorgegebene Unterteilung in Niveaus setzt voraus, dass die Lernstände auch zu den Niveaus passen. Aus Sicht der Schülerinnen und Schüler stellt sich dann die Frage: Wer sagt, auf welchem Niveau ich arbeite – kennt meine Lehrkraft mich richtig? Dürfen Schülerinnen und Schüler selbst wählen, spielt wiederum die eigene Motivation rein: Möchte ich es mir leicht machen, oder habe ich Lust, mich richtig anzustrengen? An der Stelle braucht es Begleitung.
Bei individueller Förderung geht es häufig auch um das individuelle Abwägen von Lernbegleitung (Monitoring) und Ausblenden der Unterstützung (Fading). Wie stehen Sie dem Ansatz gegenüber, im Stundenplan bewusst Raum für offenes Lernen zu lassen oder interessengeleitete Tage einzuführen?
Interessen zu berücksichtigen und Kinder mit freien Lernzeiten zu selbstständigen Menschen zu erziehen, ist ein wichtiger Gedanke. Schule muss Raum für Partizipation bieten. Aber ein organisatorischer Rahmen, Struktur und Begleitung durch Lehrende sind wichtig, um niemanden zu über- oder unterfordern. Vielen fällt es schwer, sich selbst zu motivieren. Das betrifft übrigens nicht nur Lernschwächere. Lernstarke Schülerinnen und Schüler profitieren stärker von einer Öffnung, Anregung brauchen sie trotzdem. Vor dem Hintergrund der Pandemie kann ich nur betonen, wie wichtig Unterrichtsvorbereitung, Strukturierung und Begleitung sind und bleiben werden.
Was halten Sie im Sinne der Partizipation davon, wenn Schülerinnen und Schüler Lernleistungen entsprechend ihren Talenten und Neigungen selbst wählen dürfen? Als Ersatz von Klassenarbeiten haben das während Corona manche Schulen angeboten …
Wenn ich als Lehrkraft transparent mache, was bei welcher Leistungsform gefordert ist, kann es im Sinne einer Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern eine gute Idee sein, verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl zu stellen. Keine Lösung ist es, wenn einzelne nie einen Test schreiben oder immer ein Poster abgeben wollen, weil es ihnen leichter fällt. Damit Kinder breit aufgestellt sind, sollten Lehrkräfte mitberaten, unterstützen, Mut machen, etwas auszuprobieren – also auch fördern, indem sie fordern.
Sich in Zeiten wie einer Pandemie nur an der am Ende erbrachten Leistung der Kinder zu orientieren, wäre weder gerecht noch wertschätzend.
Wie passt Notengebung als eine Form von Standardisierung zum Konzept von individualisiertem Lernen – sollten statt Ergebnissen lieber Prozesse bewertet werden, wie das einige Schulen im Lockdown mit Prozessnoten gemacht haben?
Wir befinden uns hier tatsächlich in einem Dilemma zwischen individueller Förderung und Standardisierung. Sich in Zeiten wie einer Pandemie nur an der am Ende erbrachten Leistung der Kinder zu orientieren, wäre weder gerecht noch wertschätzend. Man muss aber auch berücksichtigen, dass Zeugnisnoten nie allein auf Basis von Testergebnissen vergeben werden. Sie sind oft ein bunter Blumenstrauß, in den auch die Anstrengungsbereitschaft und Mitarbeit mit einfließen. Zudem kann man durch regelmäßige Rückmeldungen dazu, wo sich jemand bereits verbessert hat und welche weiteren Schritte nun gegangen werden sollen, sehr gut den individuellen Lernprozess aufzeigen.
Jenseits des Präsenzunterrichts haben Schulen, die sich für den Deutschen Schulpreis 20|21 Spezial beworben haben, während der Pandemie zum Beispiel digitale Lernräume für Kleinstgruppen eingerichtet oder im Netz Lerntandems gebildet. Sind das Lösungsstrategien, um von Heterogenität zu profitieren?
Es braucht einen Mix aus individuellem und gemeinsamem Lernen. Gruppenarbeit ist ein wichtiger Bestandteil, damit sich Kinder untereinander unterstützen können. Aber auch die funktioniert nur nach bestimmten Regeln und Strukturen, die von Lehrkräften vorgegeben werden sollten. Als erwiesen gilt, dass Unterricht mit Kleingruppen lernwirksamer ist als ohne – und dass leistungshomogene Gruppen für leistungsschwache Lernende nachteilig sind. Breakout-Sessions in Videokonferenzen oder virtuell zusammenkommende Lerntandems sind jenseits von Präsenzzeiten eine gute Überbrückungsstrategie. Das Miteinander kann digital nicht ersetzt werden. Damit individuelle Förderung gelingen kann, braucht es Schule nicht nur als Lernort, sondern auch als sozialen Raum. Sonst hätten wir lauter Einzelkämpfer.
Was kann sich vor dem Hintergrund von zwei Lockdowns in puncto individuelle Förderung jetzt konkret am System Schule ändern – worin liegt für Sie das größte Potenzial?
Die Erfahrungen, die hier mit digitalen Tools gemacht wurden, sollten mitgenommen werden in die Zukunft. Nun muss überlegt werden, wie sie sich im Dienst individueller Förderung sinnvoll wieder einbinden lassen. Für sehr gewinnbringend und lernförderlich aus Forschungssicht halte ich adaptive Testsysteme. Wenn Kinder mit solchen Programmen drei, vier Aufgaben gelöst haben, gehen sie adaptiv auf den nächsten Schwierigkeitsgrad. Damit werden auch leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler nicht gelangweilt. Wichtig an dieser Stelle: Es geht nicht darum, dass die Kinder einzeln in der Klasse vor Tablets sitzen. Auch hier gilt es, eine ausgewogene Mischung aus individuellen und gemeinsamen Lernzeiten zu realisieren.
Was ist für Sie die größte Lehre aus der Pandemie und daraus resultierend die drängendste Frage?
Es geht verstärkt darum, wie es gelingen kann, Kinder abzuholen, die zu Hause keine bestmögliche Unterstützung erfahren. Festzuhalten ist, dass individuelle Förderung nicht Einzelarbeit heißt. Sie meint nicht, dass alle eigene Arbeitsblätter bearbeiten und einzelne Kinder die bestmöglichen fachlichen Lernziele im bestmöglichen Lerntempo erreichen. Stattdessen stehen die Begleitung individueller Lernstände, Strukturierung und am Ende ein Mix aus individuellem und gemeinsamem Lernen im Mittelpunkt. Individuelle Förderung ist eine „Gesamtunterrichtsstrategie“, sagt Hanna Dumont vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung. Dem stimme ich unbedingt zu.
Der Input von Jasmin Decristan von der Bergischen Universität Wuppertal beim Digitalen Impuls „Alle Schülerinnen und Schüler individuell fördern” vom 30. März 2021.
Zur Person
Wie sieht guter Unterricht für alle aus? Als Professorin für „Schulische Interventionsforschung bei besonderen pädagogischen Bedürfnissen“ am Institut für Bildungsforschung in der School of Education an der Bergischen Universität Wuppertal forscht Jasmin Decristan, 1979 in Northeim geboren, unter anderem zu den Schwerpunkten individuelle Förderung, Unterrichtsqualität und kooperatives Lernen. Ein Ziel ist es, neue, wirksame und praxisrelevante Unterrichtskonzepte zu entwickeln und zu evaluieren.

In der Broschüre zum Deutschen Schulpreis 20I21 Spezial finden Sie die ausführlichen Laudationes der Jury und Porträts der Preisträgerschulen. Außerdem werden hier zentrale Erkenntnisse der Bewerberschulen im Umgang mit den Herausforderungen der Corona-Pandemie zusammengefasst.