Günter M. Ziegler : „Mathematik ist faszinierend schön“

Mathematik ist für viele Kinder ein ungeliebtes Fach. Und auch manche Erwachsene denken mit Unbehagen an den Mathematikunterricht zurück. Doch Mathematik ist viel faszinierender und spannender als ihr Ruf. Davon ist Günter M. Ziegler, Mathematikprofessor und Präsident der Freien Universität Berlin, überzeugt. Er engagiert sich seit vielen Jahren für ein lebendiges Bild der Mathematik und versteht es, auch komplizierteste Sachverhalte verständlich zu erklären. Deshalb wird er auch schon mal als „Popstar der Mathematik“ bezeichnet. Im Interview mit dem Schulportal beschreibt er, was gute Lehrkräfte im Fach Mathematik mitbringen sollten, wie Hochschulen der hohen Abbrecherquote in dem Fach begegnen können und was mathematische Formeln mit Bildern und Geschichten zu tun haben.

FU-Präsident Günter Ziegler, Professor für Mathematik, vor Tafel
Günter Ziegler ist seit 2018 Präsident der Freien Universität Berlin und wird schon mal als „Popstar der Mathematik" bezeichnet.
©Kay Herschelmann

Deutsches Schulportal: Für viele Schülerinnen und Schüler ist Mathe ein Hass-Fach. Wieso?
Günter M. Ziegler: Mathematik ist schwierig, voller „harter Nüsse“, da gibt es eine Klarheit von „Richtig oder Falsch“ wie in keinem anderen Fach. Und das lieben viele Schülerinnen und Schüler, andere hassen es. Das ist bemerkenswert emotional …

Was müsste sich im Unterricht, vor allem in der Didaktik ändern, damit Mathematik besser angenommen wird?
Die Mathematik als Kulturgut und die Mathematik als Wissenschaft sind ausgesprochen vielfältig, nicht nur herausfordernd, sondern auch wichtig für das tägliche Leben, Grundlage für Hightech-Anwendungen, aber auch faszinierend schön mit ihren Bildern und Strukturen: All das muss meiner Meinung nach viel besser sichtbar gemacht werden. Und das geht auch, weil Mathematik ein Fach voller außergewöhnlicher Bilder und voller spannender Geschichten ist.

Was müssen gute Mathe-Lehrkräfte mitbringen?
Am wichtigsten ist für Lehrerinnen und Lehrer vermutlich die Freude am Lehren, gepaart mit Geduld und Ausdauer – all das auf einer soliden fachlichen Basis, die dann auch Selbstvertrauen bei der Vermittlung vor der Klasse gibt. Dafür muss man nicht unbedingt in alle Tiefen der Forschung vorgedrungen sein, hilfreicher ist wohl eine vielfältige Kenntnis des Faches mit seinen Bildern und Geschichten. Es geht um ein breites „Panorama der Mathematik“ – um den Titel eines Buches zu nennen, an dem wir gerade arbeiten.

Im Mathematikunterricht kann man viel lernen, auch logisches Schließen und sauberes Formulieren und Argumentieren. Auch damit lernen wir in der Schule ,fürs Leben‘.
Günter M. Ziegler, Mathematikprofessor und Präsident der Freien Universität Berlin

Viele Studentinnen und Studenten scheitern an Mathe. Besonders in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern ist die Abbrecherquote hoch. Bereiten die Schulen die Studierenden nicht ausreichend auf die Anforderungen der Hochschulen vor?
Wenn es nur so einfach wäre! Da kommen mehrere Gründe zusammen – und die meisten sind nicht neu. Wer ein Studium abbricht, hatte entweder eine falsche Vorstellung vom Studium – vielleicht auch vom Fach selbst – oder von den eigenen Fähigkeiten. Es muss uns deshalb schon in der Schule besser gelingen zu vermitteln, was Mathematik, Physik oder Chemie als Studienfach oder als wissenschaftliche Disziplin bedeuten. Viele Studierende bringen unzureichende Mathematik-Kenntnisse mit an die Universität. Das Wissen der Schülerinnen und Schüler in dem Fach ist über die Jahre geringer geworden, es ist auch weniger verlässlich und weniger einheitlich. Dafür gibt es Gründe. Die Schülerinnen und Schüler haben in der Regel ein Schuljahr weniger absolviert als früher, und sie sind, auch wegen des ausgesetzten Wehr- und Zivildienstes, jünger als frühere Erstsemester.

Und was können die Hochschulen tun, um dieses Problem auszugleichen?
Hochschulen können und müssen die Studieneingangsphase neu konzipieren. Ein Studieneingangsjahr als „Studium generale“ für alle wäre sinnvoll und wertvoll. An der Freien Universität und an der Technischen Universität Berlin gibt es das zum Beispiel.
Aber auch die Schule ist gefragt: Zur Vorbereitung aufs Studium gehören eben nicht nur Bruchrechnung, Geometrie und Analysis, sondern auch Überblicke über Studienfächer und Wissensfelder, damit die Schülerinnen und Schüler einschätzen können, was es heißt, Mathematik oder eine Naturwissenschaft zu studieren. Vermittelt werden sollte, dass das Studium nicht eine Fortsetzung des Schulunterrichts mit noch mehr Stoff ist, sondern etwas ganz Neues, Erwachseneres. Dies gilt für das Fach und den Lernstoff – aber auch für den Anspruch ans Lernen, für das Verstehen und für das Sich-selbst-Erarbeiten. Studieren ist spannend!

Wie ist es beim Lehramtsstudium: Ist es sinnvoll, dass Lehramtsstudierende erst einmal regulär Mathe studieren, oder müsste es für sie einen eigenen, möglicherweise stärker auf Didaktik ausgerichteten Zugang geben?
Das ist eine uralte Debatte – es geht dabei auch um die Frage, ob es an der Universität für die Lehramtsstudierenden getrennte Vorlesungen geben sollte oder ob sie mit den Fachstudierenden gemeinsame Veranstaltungen besuchen sollten. Ich glaube inzwischen, dass wir auch für die Fachstudierenden die Anfängervorlesungen stärker auf Didaktik ausrichten sollten: Wer etwas erklären kann, der hat es auch verstanden.
Für das Studium aufs Mathematik-Lehramt haben wir uns an der Freien Universität Berlin dafür entschieden, die Eingangsphase ganz anders zu gestalten: Die fängt mit zwei neu konzipierten Vorlesungen an: „Mathematisches Panorama“ und „Mathematik Entdecken I“. Erst im zweiten Semester kommen dann die Klassiker „Analysis I“ und „Lineare Algebra I“.

Lernen braucht eben auch Zeit und Geduld. Schulunterricht bietet allerdings oft nicht die nötige Zeit, das ist ein großes Problem.
Günter M. Ziegler, Mathematikprofessor und Präsident der Freien Universität Berlin

Ist Mathe eigentlich tatsächlich so kompliziert?
Mathematik als Wissenschaft hat wirklich alle Schwierigkeitsstufen zu bieten – inklusive Theorien, die „fast keiner versteht“, und Problemen, die seit Jahrhunderten niemand knacken konnte. Und all das in einer eigens dafür entwickelten Formel- und Bildersprache. Ja, das ist kompliziert, doch das macht es zugleich so spannend. Aber Mathematik an der Universität ist natürlich etwas ganz anderes als die Mathematik an der Schule: In den Lehrplänen für die Schule steht eigentlich nur das, was alle wissen und können sollten, weil es wichtig und praktisch ist. Und das ist auch nicht übermäßig kompliziert, das ist wirklich „Mathematik für alle“. Im Mathematikunterricht kann man also viel lernen, auch logisches Schließen und sauberes Formulieren und Argumentieren. Auch damit lernen wir in der Schule „fürs Leben“. Und dass Mathematik – auch die Schulmathematik – dann auch noch Stoff zum Knobeln hergibt, also Herausforderungen für alle, die das wollen: Das ist doch wunderbar!

Sie gelten als jemand, der auch komplizierte Sachverhalte verständlich erklären kann. Wie machen Sie das?
Einerseits habe ich gelernt, dass das Lernen etwas sehr Diverses ist – es gibt viele Arten zu lernen, genauso wie es viele Arten von Gedächtnis gibt. Also muss es auch viele Arten von „Erklären“ geben: ein Erklären aus der Vogelperspektive mit stetig wachsender Genauigkeit, ein Erklären aus der Fußgängerperspektive in kleinen Einzelschritten – an einzelnen Beispielen und dann mit Verallgemeinerungen, oder ein Erklären vom Ziel her oder von den Fundamenten – erst abstrakt-systematisch und dann immer konkreter.
Wer es „anders erklärt“ braucht oder mehrmals unterschiedlich hören muss oder alles selbst aufgeschrieben haben muss, bevor er etwas wirklich verstanden hat – so ist es bei mir –, der ist ja deshalb nicht dumm oder auch nicht dümmer als andere.
Lernen braucht eben auch Zeit und Geduld. Das gilt beispielsweise für mich, und das gilt auch dann, wenn ich erkläre. Schulunterricht bietet allerdings oft nicht die nötige Zeit – das ist ein großes Problem. Das manifestiert sich oft schon in zu viel Stoff im Lehrplan gepaart mit viel zu wenig Wochenstunden im Stundenplan.
Ich persönlich brauche Bilder, um Dinge zu verstehen, und das Bilder-Entwickeln ist ein ganz wesentlicher Teil für mich. Aber das heißt nicht, dass das anderen ebenso geht und genauso hilft.

Hatten Sie eigentlich gute Mathelehrerinnen und Mathelehrer in der Schule? Oder wer oder was hat bei Ihnen die Begeisterung geweckt?
Frau Müller in der ersten und zweiten Klasse, Frau Treitwein in der neunten Klasse, Herr Brunner in der zehnten und Frau Meyer im Leistungskurs: Von all denen habe ich viel gelernt, aber die Begeisterung habe ich wohl schon mitgebracht. Ich war schon als ganz kleiner Junge motiviert und ehrgeizig und vielfältig interessiert, nicht nur in Mathematik. Woher das kam? Ich weiß es nicht. Meine Brüder haben diese Begeisterung nicht unbedingt immer geteilt, um das vorsichtig auszudrücken …

Zur Person

  • Univ.-Prof. Dr. Günter M. Ziegler ist seit Juli 2018 Präsident der Freien Universität Berlin. Zuvor hat er dort und an der Technischen Universität Berlin als Professor für Mathematik geforscht und gelehrt.
  • Er ist unter anderem Mitglied der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, und der atatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, und ein Fellow der American Mathematical Society.
  • Im Jahr 2006 baute er federführend die Berlin Mathematical School (BMS) als gemeinsame Graduiertenschule der drei Berliner Universitäten auf. Von 2006 bis 2008 war Ziegler Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV). 2008 war er ein Initiator des „Jahrs der Mathematik“.
  • Für seine Forschung erhielt Günter M. Ziegler viele Preise, unter anderem 2001 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.