Deutsches Schulbarometer : Gesunde Lehrkräfte sind die Voraussetzung für gelingende Lernprozesse

Die Robert Bosch Stiftung hat im April 2022 mit dem Deutschen Schulbarometer Lehrkräfte nach ihrem persönlichen Belastungserleben befragt und erkundet, welche Spuren die Pandemie bei ihnen und bei ihren Schülerinnen und Schülern hinterlassen hat. Bildungsforscherin Uta Klusmann ordnet die Ergebnisse der repräsentativen Befragung für das Schulportal ein. Im Interview erklärt die Expertin für Lehrergesundheit, warum der hohe Erschöpfungsgrad der Lehrkräfte sich auch auf die Motivation der Kinder auswirkt und was Schulen dagegen tun können.
71 Prozent der Lehrkräfte geht davon aus, dass die Schule trotz aller Bemühungen einigen Schülerinnen und Schülern nicht die Lernunterstützung bieten kann, die sie jetzt brauchen.
71 Prozent der Lehrkräfte geht davon aus, dass die Schule trotz aller Bemühungen einigen Schülerinnen und Schülern nicht die Lernunterstützung bieten kann, die sie jetzt brauchen.
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Schulportal: 62 Prozent der befragten Lehrkräfte geben in der Forsa-Umfrage 2022 an, dass sie „häufig“ oder „sehr häufig“ körperlich erschöpft und müde sind. Sie selbst hatten im November 2020 in einer Studie in Nordrhein-Westfalen die Belastung von Lehrkräften unter Pandemie-Bedingungen untersucht. Wie bewerten Sie die Entwicklung in den vergangenen zwei Jahren?
Uta Klusmann: Die Zahlen der beiden Befragungen sind nicht direkt vergleichbar, da die Studien unterschiedliche Fragen an die Lehrkräfte gestellt haben. Aber fest steht: Viele  Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich sehr erschöpft infolge der Pandemie. Das zeigt auch unsere Langzeituntersuchung, die wir seit zehn Jahren mit Lehrkräften durchführen. Der durchschnittliche Erschöpfungsgrad ist dort seit Jahren sehr konstant.

Seit zwei Jahren – also seit Beginn der Pandemie – gibt es dort aber einen deutlichen Anstieg in der berichteten Erschöpfung. Wir sehen auch in anderen Studien, dass es keine Gewöhnung gibt, sondern dass die Belastung während der Pandemie hoch ist. Und das betrifft eigentlich alle Altersgruppen und Schulformen.

Wenn der Anteil der erschöpften Lehrkräfte so hoch ist: Was bedeutet das für den Schulalltag?
Die Folgen sind vielfältig. Zum einen ist ein chronischer Erschöpfungszustand natürlich für die Lehrkräfte selbst sehr belastend. Zum anderen wissen wir aus anderen Studien, dass ein höherer Erschöpfungsgrad auch mit erhöhten Krankentagen einhergeht. Das hat Konsequenzen für das Kollegium, das diese Ausfälle auffangen muss. In Zeiten des Lehrkraftmangels ist das nur schwer zu leisten, denn es gibt oft kaum Vertretungsreserven an den Schulen. Gleichzeitig kann sich ein hoher Erschöpfungsgrad auch negativ auf die Qualität des Unterrichts auswirken. Konsequenzen ergeben sich also auch für die Schülerinnen und Schüler.

Wie wirkt sich das auf das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler aus, wenn etwa jede dritte Lehrkraft sich häufig gereizt fühlt?
Das Wohlbefinden von Lehrkräften und ihren Schülerinnen und Schülern hängt ganz eng zusammen. Aus Studien zum Burn-out wissen wir, dass Erschöpfung häufig kombiniert ist mit Zynismus oder auch Gereiztheit. Die Lehrkraft distanziert sich damit von ihrer Arbeit, was für sie selbst ein Schutzmechanismus ist. Für die Schülerinnen und Schüler, die die Situation der Lehrkräfte genau wahrnehmen, wirkt sich die Erschöpfung und der Zynismus negativ auf ihre Motivation und auf ihre Beziehung  zu den Lehrkräften aus.

Fast alle Lehrkäfte geben an, dass negative Verhaltensweisen bei ihren Schülerinnen und Schüler ausgeprägter sind als vor der Pandemie. Wirken sich die Disziplin- und Konzentrationsstörungen auch negativ auf die Berufszufriedenheit der Lehrkräfte aus?
Das ist tatsächlich sehr auffällig. 95 Prozent der Lehrkräfte beobachten einen Anstieg negativer Verhaltensweisen wie etwa Konzentrationsmängel oder Motivationsproblemen bei den Kindern und Jugendlichen. Das bedeutet, dass die Lehrkraft den Unterricht nicht wie gewohnt durchführen kann, sie muss stattdessen immer wieder spontan auf Verhaltensweisen der Schülerinnen und Schüler reagieren. Solche Verhaltensweisen waren auch schon in Vor-Corona-Zeiten für Lehrkräfte der größte Stressfaktor. Zusätzlich zu den Unterbrechungen im Unterricht kommt auch noch die Sorge der Lehrkräfte, wie sich der einzelne Schüler oder die einzelne Schülerin perspektivisch entwickelt.

Es ist schon bemerkenswert, wenn so viele Lehrkräfte berichten, dass sie eigentlich ihrem Auftrag nicht gerecht werden können.

Diese Sorge zeigt sich auch im Schulbarometer. 71 Prozent der Lehrkräfte geht davon aus, dass die Schule trotz aller Bemühungen einigen Schülerinnen und Schülern nicht die Lernunterstützung bieten kann, die sie jetzt brauchen. An Grundschulen sind es sogar 83 Prozent.
Es ist schon bemerkenswert, wenn so viele Lehrkräfte berichten, dass sie eigentlich ihrem Auftrag nicht gerecht werden können. Viele Lehrkräfte geben in der Befragung ja auch an, dass ihre Schülerinnen und Schüler jetzt vor allem psychologische Unterstützung bräuchten. Für die Lehrkräfte kann das frustrierend sein – sie erkennen das Problem, haben aber nicht die Mittel, um die Schülerinnen und Schüler unterstützen zu können.

Wie in Ihrer Befragung zeigt sich auch in der aktuellen Befragung der Robert Bosch Stiftung, dass Frauen sich im Beruf stärker belastet fühlen als ihre männlichen Kollegen. Woran liegt das?
Diese Tendenz, dass Frauen häufiger über Stresssymptome berichten, fand man auch schon in Studien vor Corona. Innerhalb der Pandemie könnte sich das aber verstärkt haben, weil Frauen möglicherweise auch mehr sogenannte Care-Aufgaben zu Hause erledigen mussten. Hinzu kommen Sorgen um die Schülerinnen und Schüler und um die eigene Gesundheit. Nachteilig kann sich auch auswirken, dass Frauen sich oft weniger zutrauen als Männer. Gerade während der Corona-Pandemie kamen ja viele neue Herausforderungen auf die Lehrkräfte zu.

Und Frauen, das zeigt auch Ihre Befragung, können ohnehin weniger gut abschalten von der Arbeit als Männer. Neben all diesen Faktoren wissen wir aber auch, dass es Frauen leichter fällt, über Belastungen zu reden, als Männern.

Insgesamt 60 Prozent der Lehrkräfte berichten laut Schulbarometer, dass sie sich „häufig“ oder „sehr häufig“ auch in der arbeitsfreien Zeit nicht erholen können. Welche Folgen hat das?
Sich in der arbeitsfreien Zeit zu erholen ist eine zentrale Voraussetzung, um wieder Kraft zu schöpfen. Dabei ist es vor allem wichtig, Distanz zur Arbeit zu finden, zum Beispiel indem man Dinge macht, die einem wirklich Freude bereiten, oder Menschen trifft, die einem guttun. Allerdings kommt es oft vor, dass Menschen, wenn sie sich beruflich besonders belastet fühlen, genau die Dinge streichen, die ihnen guttun, weil sie meinen, dafür fehle die Zeit. Dadurch steigt allerdings langfristig die Belastung noch mehr. Erschwerend kam in der Pandemie dazu, dass viele soziale Kontakte, Kultur- oder Sportangebote lange Zeit nicht oder nur sehr begrenzt stattgefunden haben. Da war es nicht leicht, etwas wirklich Ablenkendes zu tun.

Welche Faktoren können Lehrkräfte vor Überlastung schützen?
Auf individueller Ebene hilft es den Lehrkräften am meisten, wenn es gelingt, eine gewisse Distanz zur Arbeit aufzubauen. Aber das ist ein schmaler Grat, denn es geht auch darum, trotzdem motiviert und empathisch gegenüber den Schülerinnen und Schülern zu bleiben.

Unterstützen kann dabei zum Beispiel ein gutes soziales Umfeld, privat und auch im Kollegium. Wichtig ist – auch gerade in belastenden Situationen –, den Blick immer wieder darauf zu lenken, was gelungen ist oder was Freude macht im Beruf. Auch sollten sich Lehrkräfte klarmachen: Alles, was sie für ihr eigenes Wohlbefinden tun, kommt auch ihren Schülerinnen und Schülern zugute. Gesunde Lehrkräfte und gesunde Schülerinnen und Schüler sind die Voraussetzung für gelingende Lernprozesse.

Es ist inzwischen nachgewiesen, dass Achtsamkeitsprogramme oder auch Stressmanagement-Programme förderlich für die Gesundheit von Lehrkräften sind. Auch Klassenführungstrainings haben sich als entlastend erwiesen.

Sollte es an Schulen für Lehrkräfte und Schüler ein verpflichtendes Resilienztraining geben, wie es eine Schulportal-Leserin vorgeschlagen hat?
Der erste Schritt wäre, ein Bewusstsein für die Relevanz des Themas zu schaffen und die Reduktion beruflicher Belastung als Aufgabe von Schulentwicklung und Stressbewältigung, als Teil der Professionalisierung von Lehrkräften zu verstehen. Dazu gibt es viele Angebote für Schulen und Lehrkräfte. Es ist inzwischen nachgewiesen, dass Achtsamkeitsprogramme oder auch Stressmanagement-Programme förderlich für die Gesundheit von Lehrkräften sind. Auch Klassenführungstrainings haben sich als entlastend erwiesen. Ich würde aber niemanden dazu verpflichten, an solchen Kursen teilzunehmen. Ebenfalls kann sich die ganze Schule dem Thema widmen, zum Beispiel an Fortbildungstagen. Wenn wir mit Schulleitungen sprechen, sehen wir auch ein großes Interesse an dem Thema.

Welche Verantwortung trägt die Schulverwaltung für die Lehrergesundheit? Gibt es angesichts der Mehrarbeit von Lehrkräften auch ein strukturelles Problem, das angegangen werden muss
Im Schulbarometer haben sehr viele Lehrkräfte den Lehrermangel als eine der größten Herausforderungen neben Corona genannt. Die Konsequenzen sind für viele Lehrkräfte spürbar: Pausenzeiten fallen immer wieder weg, Vertretungsstunden müssen kurzfristig übernommen werden, Doppelbesetzungen können nicht stattfinden, besondere Projekte können nicht realisiert werden. Unterricht muss fachfremd erteilt werden. Auch eine gute Versorgung der Schulen mit Fachkräften der Schulsozialarbeit und der Schulpsychologie ist wichtig.

Zur Person

Uta Klusmann
Bildungsforscherin Uta Klusmann
©Privat
  • Uta Klusmann ist Psychologin und Professorin für empirische Bildungsforschung am IPN –Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel.
  • Dort forscht sie zu den Ursachen, Folgen und der Veränderbarkeit des beruflichen Wohlbefindens von Lehrkräften.
  • Daneben unterrichtet sie im Lehramts- und Psychologie-Studium an der Uni Kiel und gibt Trainings für Lehrkräfte zum Thema „Gesundheit im Beruf“.

 

Stimmen aus dem Netz

Das Interview mit Bildungsforscherin Uta Klusmann zu den aktuellen Ergebnissen des Deutschen Schulbarometers hat auf dem Facebook-Kanal des Schulportals eine angeregte Diskussion entfacht. Hier sind einige ausgewählte Kommentare:

Vorschlag: Kleinere Klassen, Verwaltungsaufgaben werden von Verwaltungskräften und nicht von Lehrkräften erledigt, mehr Personal für Schulsozialarbeit. Die Lehrer*innen können ihren eigentlichen Job stressfreier und erfüllender machen. Problem erledigt.  Andreas Ludwig

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Ich wäre so dankbar, wenn wir immer in multiprofessionellen Teams arbeiten könnten. Immer dann, wenn es möglich ist, profitieren sowohl Kinder als auch Erwachsene davon und sind viel viel entspannter, glücklicher, ausgeglichener, weil man stärker das Gefühl hat, den Kindern und sich selbst gerecht zu werden. Melanie Karima Omari

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Vorschlag: Mentale Gesundheit ernst nehmen und Therapien oder auch Coachings zu jeder Zeit der Lehrausbildung ermöglichen und auch darüber aufklären. Dies darf keiner Verbeamtung im Weg stehen – manchmal leben wir echt noch im Mittelalter in Deutschland…  Sarah Bachmann

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… und alles, was die Politik und die Administration für die Lehrer tun, geht auch direkt auf die Schüler über. UND noch was: Es freut eine Lehrperson von Herzen( was auch direkt auf die Kinder übergeht), wenn die Eltern mal sagen: SIE machen das gut, denn das ist es, was die meisten Lehrer wollen.  Bri Alma

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