Gebrüder-Grimm-Schule : Mit einer lebendigen Lobkultur zum Erfolg

Die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm stand vor dem Aus, kämpfte um ihr Überleben. Zehn Jahre später ist die Grund­schule in Nordrhein-Westfalen Haupt­preis­träger des Deutschen Schulpreises 2019. Wie hat sie den Weg aus der Krise geschafft? Mit einer lebendigen Lobkultur, die von Herzen kommt.

Eine Lehrerin widmet sich einem Schüler, während dieser eine Aufgabe am Tablet bearbeitet.
Positive Verstärkung ist ein zentrales Element im pädagogischen Alltag der Gebrüder-Grimm-Schule. Dabei gehen die Lehrkräfte individuell auf die einzelnen Erfolge der Schülerinnen und Schüler ein.
©Traube47

Lesen und Schreiben fällt Marek* schwer. Er ist in der dritten Klasse, und noch immer sind die Buch­staben und Ziffern für ihn wie ein Code, den er nicht richtig entziffern kann. An seiner alten Schule kam Marek deswegen nicht zurecht. Als die Probleme immer größer wurden, wechselte er an die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm, die jetzt als Haupt­preis­träger des Deutschen Schulpreises 2019 ausgezeichnet worden ist.

„Der Junge hat eine absolute Teil­hoch­begabung“, sagt Frank Wagner, der die Grund­schule im Hammer Stadt­teil Bockum-Hövel seit mehr als zehn Jahren leitet. Mareks Talent ist ungewöhnlich: „Er würde den ganzen Tag unseren Parkplatz pflastern, wenn es nötig wäre. Marek würde auch dafür sorgen, dass bei den Autos recht­zeitig die Reifen gewechselt werden. Das ist kein Witz. Marek macht das wirklich, er spielt nicht. Wenn es heißt, die Hütte auf dem Schul­hof muss repariert werden, dann sagt er: ,Okay, wir brauchen Farben und Feile`, und dann legt er los.‘“

Gebrüder-Grimm-Schule stärkt das Selbst­wert­gefühl ihrer Kinder

Marek muss später einen Betrieb führen – davon ist Frank Wagner überzeugt. Er ist skeptisch, ob der Junge es über­haupt bis zum Real­schul­abschluss schafft. Umso wichtiger sei es, ihn jetzt schon in seinen Fähig­keiten zu bestärken. „Er muss wissen, dass er gut ist. Es darf nicht passieren, dass ihn seine schulische Entwicklung deprimiert und sein Selbst­wert­gefühl in den Keller geht“, sagt Wagner und fügt hinzu: „Es ist so wichtig, dass wir die Kinder immer wieder motivieren und loben und dabei echt und authentisch sind. Es darf nicht gespielt oder gestellt sein. Dazu gehört auch, dass wir mal sagen: ,Hey, das war jetzt nicht so gut.‘“

Es ist so wichtig, dass wir die Kinder immer wieder motivieren und loben und dabei echt und authentisch sind. Es darf nicht gespielt oder gestellt sein. Dazu gehört auch, dass wir mal sagen: ,Hey, das war jetzt nicht so gut.‘
Frank Wagner, Schulleiter der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm

Positive Verstärkung ist ein zentrales Element im pädagogischen Alltag der Gebrüder-Grimm-Schule. Das war nicht immer so. Vor rund einem Jahr­zehnt, Frank Wagner war noch nicht lange Schul­leiter, überlegte die Stadt­verwaltung, die Gebrüder-Grimm-Schule zu schließen und das Schul­gebäude fortan als Stadt­teil­zentrum zu nutzen. Nicht ohne Grund: Das Schul­gebäude war in einem schlechten Zustand, das Kollegium über­altert, die Schüler­zahlen im Keller. Immer weniger Eltern meldeten ihre Kinder hier an. Lieber schickten sie ihre Jungen und Mädchen an die zwei katholischen Schulen in direkter Nach­bar­schaft. „Wir haben buch­stäblich ums Überleben gekämpft“, sagt Wagner. Zusammen mit seinem Team stellte er die Gebrüder-Grimm-Schule auf den Kopf, um sie zu retten.

„Lachen – Leisten – Lesen“ heißt das Leit­motiv der Schule

Viele Ressourcen hatten sie dafür nicht. Der Haushalt der Stadt Hamm ist klamm, die finanziellen Mittel, die der Schule zur Verfügung stehen, extrem knapp. Das Kollegium musste Ideen und Konzepte entwerfen, die möglichst wenig kosten, aber maximal effizient sind. Früh im Schul­entwicklungs­prozess konzipierte das Team der Gebrüder-Grimm-Schule deshalb eine neue Lob­kultur und verankerte das neue gemeinsame Verständnis auch im Leit­bild: „Lachen – Leisten – Lesen“. „Das war der erste Hebel, um an alle ran­zu­kommen“, sagt Wagner. „Dieses Lachen – unsere Kinder brauchen es. Sie können nur lernen, wenn es ihnen einiger­maßen gut geht.“ Viele der rund 220 Jungen und Mädchen, die die Gebrüder-Grimm-Schule Hamm besuchen, kommen aus allein­erziehenden Eltern­häusern, erhalten Leistungen aus dem Bildungs- und Teil­habe­paket, haben sonder­pädagogischen Förder­bedarf oder einen Migrations­hinter­grund. „Die Kinder haben daheim genug Probleme. Statt mit ihnen zu schimpfen, weil sie schon wieder keine Sport­sachen dabei haben, versuchen wir als Schule, ihre vielen tollen Potenziale zu fördern“, so Wagner.

Dieses Lachen – unsere Kinder brauchen es. Sie können nur lernen, wenn es ihnen einiger­maßen gut geht.
Frank Wagner, Schulleiter der Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm

Die Lernkultur der Gebrüder-Grimm-Schule ist von Wert­schätzung geprägt

Wie ernst die Gebrüder-Grimm-Schule es damit meint, ist inzwischen überall im Schul­haus sichtbar. An den Wänden hängen kleine Spiegel mit Auf­schriften wie „Du bist schön, so wie du bist“ oder „Du bist wert­voll“. Auf dem Monitor in der Eltern­lounge – ein Treff­punkt für Mütter und Väter im Schul­foyer – steht in großen Lettern die Frage: „Heute schon gelobt?“ Und die Box in Frank Wagners Büro enthält viele kleine Motivations­kärtchen mit der Aufforderung „Nimm ein Kompliment und verschenke es!“ (einige Komplimentekärtchen gibt es hier zum Download).

Herz­stück der Lob­kultur sind aller­dings die Lob­briefe. Die Kinder werden damit für heraus­ragende Leistungen oder für ein besonders positives Verhalten im Schul­all­tag gelobt. Zwei Besonder­heiten prägen das Konzept der Lob­briefe: Zum einen ist maßgeblich, dass es keine fest­geschriebenen Kriterien gibt. Die Kinder erfahren, dass schein­bare Kleinig­keiten, wie zum Beispiel das Aufheben herunter­gefallener Jacken im Flur oder das ziel­orientierte Verfassen einer Geschichte, bedeutsam sind. Zum anderen können die Jungen und Mädchen der Gebrüder-Grimm-Schule im Schüler­parlament selbst Vorschläge einreichen, welches Kind einen Lob­brief verdient hat. Die Kinder stimmen dann über die Vorschläge ab und schreiben die Briefe. Auch die Lehr­kräfte verfassen und verteilen Lob­briefe an die Schülerinnen und Schüler. Sie achten außer­dem darauf, dass jedes Kind im Laufe des Schul­jahres einen solchen Brief erhält.

Die Lobbriefe werden entweder nach Hause geschickt – „damit auch gute Nachrichten aus der Schule im Brief­kasten liegen“, so Wagner – oder im monatlichen „Treff­punkt Grimm“ vor der ganzen Schul­gemeinschaft vorgelesen. Längst hat die Lob­brief­kultur eine Eigen­dynamik entwickelt: Die Schülerinnen und Schüler schreiben sich auch unter­einander Lob­briefe und die Leistungs­bereit­schaft ist in allen Bereichen deutlich gestiegen.

Frank Wagner hofft, mit einer wertschätzenden Haltung, wie sie auf allen Ebenen an der Gebrüder-Grimm-Schule gelebt wird, „die Gesellschaft verändern zu können“. Hat er eigentlich selbst schon einen Lob­brief erhalten? „Nein“, antwortet Wagner, „ich brauche auch keinen. Ich kriege von den Kindern genug Wert­schätzung.“

Auf einen Blick

  • Die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm ist Haupt­preis­träger des Deutschen Schulpreises 2019.
  • An der Grundschule lernen derzeit 225 Schülerinnen und Schüler in insgesamt acht Klassen.
  • „Lachen – Leisten – Lesen“ ist das Leitmotiv der Schule. In der Laudatio der Schulpreis-Jury heißt es über die drei Begriffe: „Sie stehen für Emotionalität, Intelligenz und erschließendes Verstehen, die den Schul­all­tag durch­dringen. In diesem Motto spiegelt sich die pädagogische Haltung des Kollegiums.“
  • Wie sieht ein Schultag an der Gebrüder-Grimm-Schule aus? Begleiten Sie die Klasse 4b und lesen Sie hier das Porträt der Sieger­schule.

*Name von der Redaktion geändert