E-Learning auf der Hallig : Acht Kinder, zwei Lehrerinnen und das Wattenmeer
Die Halligen im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer sind dünn besiedelt, schwer zu erreichen, und mehrmals im Jahr ist bei Sturmflut „Land unter“. Unter diesen schwierigen Bedingungen haben die Halligschulen eine innovative Lernkultur entwickelt, die für andere ländliche Regionen Vorbild sein kann. E-Learning und jahrgangsgemischtes individualisiertes Lernen sind feste Bestandteile des Unterrichts. Das Schulportal hat die Halligschool Langeneß besucht und sich genauer angesehen, wie Schule unter den besonderen Herausforderungen auf einer Hallig gelingt.
Als Tade um 7.45 Uhr das Haus verlässt ist es noch dunkel. Straßenlaternen gibt es nicht auf der Hallig. Das nächste Haus steht 500 Meter entfernt. Die Fenster der „Halligschool“ sind hell erleuchtet und weisen den Weg. Tade steigt aufs Rad und fährt im Regen gegen einen heftigen Wind an.
Ganze acht Schülerinnen und Schüler werden in der „Halligschool“ unterrichtet, der 12-jährige Tade hat von ihnen den kürzesten Weg. Die Häuser der rund hundert Bewohner von Langeneß sind weitläufig verteilt über die flachen Marschwiesen inmitten der Nordsee. Eine Hallig ist keine Insel – darauf legen die Bewohnerinnen und Bewohner großen Wert. Die Häuser stehen auf aufgeschütteten Erdhügeln, sogenannten Warften, die bei Sturmflut von der Nordsee vollständig umschlossen werden. Nach und nach läuft das Wasser dann wieder ab, zurück bleibt eine einzigartige Wattlandschaft von Salzwiesen, die von zahlreichen Wasserläufen durchzogen sind. Im Winter verkehrt die Fähre unregelmäßig, dann kann man nur mit einer der privaten Loren auf der Schiene über einen schmalen Deich vom Festland auf die Hallig und zurück gelangen.
Auf einer Hallig sprechen sich alle mit Vornamen an, auch die Lehrerin
Nur wenige Tage vor unserer Ankunft auf Langeneß war hier noch „Land unter“, erzählt Tade von der Honkenswarf. Davon zeugen noch die Schlickreste auf der Straße am Fuße des Erdhügels. Bei Sturmflut ist der Schulbesuch unmöglich. Die Kinder können ihre Warf nicht verlassen und erhalten stattdessen von der Lehrerin Aufgaben per E-Mail. An diesem Morgen aber treffen sich die Schülerinnen und Schüler wieder im Schulhaus, einem zweistöckigen Backsteinhaus, in dem auch die Lehrerin Anne Bernhardt mit ihrer Familie wohnt.
Anne, die hier alle bei ihrem Vornamen nennen, begrüßt die Kinder und Jugendlichen in ihrem gemeinsamen Klassenraum, der in mehrere Sitzecken unterteilt ist. An diesem Tag unterrichtet sie die Schülerinnen und Schüler von der zweiten bis zur achten Klasse allein. Es gibt allerdings noch eine weitere Lehrkraft, die am Morgen vom Festland aus dazu geschaltet ist. Der 14-jährige Tarek setzt sich mit seinem Headset an einen Computer und begrüßt die Englischlehrerin Leena Brütt in Kiel, die ihm auf dem Bildschirm zuwinkt. Nach und nach erscheinen auch die Gesichter von Kjell und Svea von den anderen Halligen auf dem Bildschirm. Langeneß ist die größte der insgesamt zehn Halligen, sieben sind ständig bewohnt, drei beteiligen sich derzeit am E-Learning.
„How was your weekend?“ fragt die Lehrerin in die Runde. Kjell von der Hallig Nordstrandischmoor erzählt von einem toten Schaf, das er gefunden habe. E-Learning ist ein wesentlicher Bestandteil des Englischunterrichts auf den Halligen. Lehrerin Anne von der Schule in Langeneß unterrichtet zwar auch vor Ort Englisch, allerdings, als ausgebildete Deutschlehrerin, fachfremd. Ab der fünften Klasse haben die Schülerinnen und Schüler deshalb per E-Learning zwei Stunden pro Woche Englisch bei Leena Brütt. Während der Unterrichtsstunde beantworten die Schülerinnen und Schüler Fragen, führen Dialoge, hören Texte oder suchen auf englischsprachigen Websites nach bestimmten Informationen.
Zusätzlich nutzt die Fernlehrerin Leena Brütt die Lernplattform Moodle. Jeder erhält auf der Plattform individuelle Aufgaben, die im Laufe der Woche online zu erledigen sind – zu Hause oder in der Schule, ganz so, wie es am besten passt. Später erhalten die Schülerinnen und Schüler dann dazu eine persönliche Rückmeldung von Leena. „E-Learning bietet viele Möglichkeiten, kann aber die Lehrkraft vor Ort nicht ersetzen“, betont Leena. Die Englischlehrerin ist Expertin für neue Medien und arbeitet ansonsten in der Lehrkräftefortbildung für das Landesinstitut in Schleswig-Holstein.
E-Learning gelingt nur in Zusammenarbeit mit der Lehrerin vor Ort
Wesentlich für das erfolgreiche E-Learning sei der enge Austausch mit der Lehrkraft vor Ort, sagt Leena. In direktem Kontakt könne die Lehrkraft besser feststellen, wo es hakt und woran das liegt. Beim Distanzlernen habe sie als Lehrerin zum Beispiel auch wenig Einfluss auf das Verhalten. So sei es schwer möglich, aus der Ferne zu unterscheiden, ob ein Schüler oder eine Schülerin gerade nur unaufmerksam oder tatsächlich nicht in der Lage ist, eine Aufgabe zu lösen.
Für Leena Brütt ist es deshalb auch unverzichtbar, zwei Mal pro Schuljahr ihre Schülerinnen und Schüler persönlich zu treffen. Dann kommt sie für ein paar Tage auf die Hallig, mietet sich in eine Ferienwohnung ein, besucht die Jugendlichen und macht Projektunterricht mit ihnen. „Das ist wichtig, um ein Verständnis für die Kinder, aber auch für die besonderen Herausforderungen der Schule auf einer Hallig zu bekommen“, sagt sie. An diesen Projekttagen chatten zum Beispiel alle per Skype mit den Schülerinnen und Schülern der Partnerschule im US-Bundesstaat Tennessee. Das sorgt für authentische Sprechsituationen. An der amerikanischen Schule lernen 2.000 Schülerinnen und Schüler. Diese Schuldimensionen sind für die Kinder von der Hallig kaum vorstellbar.
Leena Brütt verabschiedet sich und verschwindet vom Bildschirm. Nach der Frühstückspause macht Anne Bernhardt weiter mit dem Englischunterricht. Jetzt sitzen alle Schülerinnen und Schüler im Kreis, von der achtjährigen Levke bis zum 14-jährigen Tarek. Anne wirft Handschuhe, Schal, Mütze und weitere Kleidungsstücke in die Mitte und fragt nach den passenden englischen Begriffen. „Hierbei profitieren die Jüngeren enorm von den Älteren“, sagt sie. Und als die Siebtklässlerin Svea anschließend eine Ballade vorträgt, hören alle gemeinsam zu und geben ihr Feedback.
Logbücher der Schülerinnen und Schüler helfen beim individualisierten Lernen
Wer glaubt, dass das Unterrichten an einer so kleinen Schule ein Spaziergang sei, der irrt. Im Gegenteil. „Ich bin Lehrerin, Schulleiterin und Sekretärin zugleich“, sagt Anne Bernhardt, die vor fünf Jahren an die Halligschool kam. Sie muss immer alle Kinder im Blick haben und sich dennoch Zeit für jeden Einzelnen nehmen. An zwei Tagen ist sie ganz allein, an drei Tagen kommt eine zweite Lehrerin für Mathematik, Naturwissenschaften und Sport dazu. Die Schülerinnen und Schüler verteilen sich derzeit auf fünf verschiedene Klassenstufen. „Ich bereite also eine Unterrichtsstunde nicht nur ein Mal, sondern gleich fünf Mal vor“, sagt die Lehrerin. Jeder Lernfortschritt wird sorgfältig notiert, damit sie später passgenaue Aufgaben für jedes Kind erarbeiten kann. Gleichzeitig tragen die Kinder und Jugendlichen nach jeder Lerneinheit in ihre Logbücher ein, wie weit sie gekommen sind und was sie als Nächstes vorhaben.
Natürlich können die beiden Lehrerinnen nicht alle Fächer mit der gleichen Fachkenntnis abdecken. In den Naturwissenschaften, wie Chemie und Physik zum Beispiel, kommen die beiden Kolleginnen an ihre Grenzen. Zumal es an der Halligschool keine eingerichteten Fachräume dafür gibt. Deshalb haben sie eine Kooperation mit der Herrendeichschule auf der Halbinsel Nordstrand aufgebaut: Einmal pro Halbjahr gehen die Schülerinnen und Schüler für eine Projektwoche an die Gemeinschaftsschule Nordstrand.
Nach der neunten Klasse wechseln die Schülerinnen und Schüler an eine Schule auf dem Festland
Dieser Kontakt ist für die Schülerinnen und Schüler auch deshalb wichtig, weil sie nach der neunten Klasse ohnehin alle an eine weiterführende Schule auf dem Festland wechseln müssen, um dort den mittleren Schulabschluss oder das Abitur zu machen. Im Alter von 15 Jahren verlassen sie dann ihre Warf auf der Hallig und wohnen bei Verwandten oder Bekannten irgendwo an der Nordsee-Festlandküste. Das tägliche Pendeln wäre nicht möglich, denn der Weg von der Hallig zum Festland per Lore oder Fähre dauert lange und bei ungünstigen Witterungsbedingungen ist er komplett abgeschnitten. Die Erziehung zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortung beginnt deshalb in der Schule und auch in den Elternhäusern schon sehr früh.
Yorke und Tarek werden die Insel im kommenden Schuljahr verlassen. Noch schauen die beiden 14-Jährigen eher unsicher als vorfreudig in diese Zukunft. „Man weiß ja nicht, wie man in der neuen Klasse aufgenommen wird“, sagt Tarek. Viele Jugendliche auf dem Festland hätten Vorurteile und glaubten, auf der Hallig lebe man hinterm Mond, sagt er. Dabei hat sich, wie der Besuch an der Halligschool zeigt, gerade durch die Herausforderungen der Abgeschiedenheit hier eine besonders fortschrittliche innovative Lernkultur entwickelt.