Bildungsforscher Andreas Schleicher : „Durch die Digitalisierung wird das Lernen demokratisiert“
Bildungsforscher Andreas Schleicher kritisiert in einem Interview mit dem Schulportal den großen Nachholbedarf bei der Schaffung der Infrastruktur für die Digitalisierung an Schulen in Deutschland. Die größte Herausforderung sieht der OECD-Bildungsdirektor und internationale Pisa-Koordinator allerdings in der Entwicklung einer neuen Pädagogik im Zuge der Digitalisierung. Am 15. und 16. November findet in Berlin die Konferenz Bildung Digitalisierung 2018 statt, auf der auch Schleicher einen Vortrag hält. Die Konferenz gilt als die zentrale Plattform zum Austausch von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Praxis und Politik über Herausforderungen und Konzepte in Sachen Digitalisierung. (Sliderbild: ©dpa)
Deutsches Schulportal: Herr Schleicher, wie schätzen Sie die Entwicklung in Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Ländern im Bereich der Digitalisierung des Lernens und Lehrens ein?
Andreas Schleicher: Schüler verbringen im Mittel täglich über zwei Stunden online außerhalb des Unterrichts; wenn wir ihnen dann zu Schulbeginn wie im Flugzeug erstmal sagen, alles abzuschalten was einen Schalter hat, dann wird Unterricht zu einem Relikt einer längst vergangenen Zeit. Deutschland hat bei der notwendigen Infrastruktur großen Nachholbedarf, das hat der Digitalpakt ja auch erkannt. Der Geist ist willig aber das WLan ist schwach. Die größte Herausforderung aber liegt in der Entwicklung einer neuen Pädagogik. Wir haben heute Technologien und Schüler aus dem 21. Jahrhundert, Unterrichtskonzepte aus dem 20. Jahrhundert, und eine Lern- und Arbeitsumgebung für Schulen aus dem 19. Jahrhundert. Das führt zu großen Spannungen. Anders als die Hardware kann man innovative Unterrichtskonzepte und moderne Lernumgebungen nicht einfach an Schulen verkaufen, sie müssen von den Lehrkräften selber entwickelt werden, dafür brauchen Lehrkräfte mehr Zeit für Arbeit außerhalb des Unterrichts und gute Unterstützung.
In Deutschland gibt es viele Lehrkräfte, die die Digitalisierung skeptisch sehen. Sie sehen die Gefahr, dass beim ständigen Umgang der Kinder und Jugendlichen mit digitalen Medien Basiswissen und Kulturtechniken wie die Handschrift auf der Strecke bleiben. Ist diese Skepsis berechtigt?
Die Digitalisierung birgt ein enormes Potenzial. Sie ermöglicht den Schülerinnen und Schülern den Zugriff auf die geeignetsten Medien und Informationsquellen. Auch die Art des Lernens wird innovativer. Denken wir nur einmal an virtuelle Laboratorien. Schüler können dort selbst Experimente durchführen, die sonst kaum möglich wären. Interaktive Inhalte, Lernen im Team – all das sind zusätzliche Möglichkeiten auf Seiten der Lernenden, die es dank der Digitalisierung gibt. Ich sehe auch ein großes Potenzial auf Seiten der Lehrenden, ihren Unterricht zu verbessern. Das große Problem ist doch oft die Vereinzelung im Lehrberuf, die die traditionellen industriellen Lehrmethoden geschaffen haben. Wo der Lehrer als Einzelkämpfer im Klassenzimmer steht, dort schafft die Digitalisierung ganz neue Perspektiven – nämlich sich zu vernetzen. Aber ohne Zweifel birgt die Digitalisierung auch große Risiken. Setzen wir sie einfach auf vorhandene Unterrichtskonzepte oben drauf, führt das zu schlechteren Ergebnissen, das zeigen uns die Pisa-Ergebnisse klar. Außerdem birgt sie das Risiko, dass Lernen oberflächlich wird.
Können digitale Medien die Abhängigkeit von Elternhaus und Bildung reduzieren? Und was halten Sie in diesem Zusammenhang von dem Modell „Bring Your Own Device“?
Das kann in beide Richtungen gehen. Zunächst einmal bietet die Digitalisierung neue Möglichkeiten, Lernschwächen früh zu erkennen. Und da muss man sagen: Künstliche Intelligenz ist dabei oft besser als menschliche Fähigkeiten. Mit digitalen Tests und der Analyse von Abweichungen lässt sich schon sehr viel früher sehen, wenn irgendwo Förderbedarf steht. Zweitens: Wenn die Lehrkräfte weniger mit Wissensvermittlung befasst sind, können sie sich vielmehr darauf konzentrieren, Defizite auszugleichen und Talente zu finden und zu fördern. Das Problem des traditionellen Unterrichts ist: Eine Lehrkraft unterrichtet einmal – für alle. Die am unteren Rand und die am oberen Rand fallen dabei raus. Durch die Digitalisierung kann eine Lehrkraft sehr viel besser auf die verschiedenen Lernschwächen und Stärken der Schüler eingehen.
Heute ist es noch so, dass Schüler aus einem günstigen sozialen Umfeld zu Hause unglaublich viel Förderung bekommen – Nachhilfe zum Beispiel. Durch die Digitalisierung wird das Lernen demokratisiert. Wenn gemeinsam in Lernplattformen oder EdTech-Kursen gelernt wird, dann können daran alle Schüler teilnehmen. In Ländern wie Japan lässt sich schon zeigen, dass sich die Digitalisierung mäßigend auf die soziale Selektion auswirkt. Die digitalen Möglichkeiten werden dort von Schülern aller Gruppen intensiv genutzt. Da bekommen aber auch die ärmsten Schüler die besten Lerninstrumente, weil ja jeder einen Rechner hat und sich dann eben auch holen kann, was er braucht. Das zeigt, was so eine Technologie bewirken kann.
Es kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung gehen, wenn die Digitalisierung von Schulen und Lehrkräften in sozial günstigen Lagen besser genutzt wird, und Schüler in benachteiligten Schulen noch weiter hinterherhinken.
Wie verändert die Digitalisierung den Lehrerberuf und was muss in der Lehrerbildung an den Universitäten passieren, um diesem Wechsel gerecht zu werden?
Die Rolle der Lehrkraft verschiebt sich – weg vom Wissensvermittler, hin zum Mentor, der Lernprozesse ermöglicht und steuert. Lernen ist immer ein sozialer Prozess. Und Technologie kann diesen sozialen Prozess verstärken. Aber sie kann diesen nicht ersetzen. Insofern werden Lehrkräfte sogar noch sehr viel wichtiger, als sie es heute schon sind. Das Positive daran ist in meinen Augen: Sie können sich dadurch mehr auf ihre Kernaufgabe konzentrieren. Man wird doch vor allem deshalb Lehrer, um junge Menschen zu begleiten, um ihnen zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden. Und die Technologie bietet uns die Möglichkeit, die Routinearbeit – die Vermittlung von Fachwissen – zu vereinfachen. Dadurch bekommen wir Raum für das Wesentliche. Und das Wesentliche ist die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Werten. In der Vergangenheit haben wir für die Arbeit gelernt. Heute ist das Lernen, das lebenslange Lernen, die eigentliche Aufgabe. Das ist der große Paradigmenwechsel. Und dabei können die Lehrkräfte durch eine neue Pädagogik eine herausragende Rolle spielen.
- Am 15. und 16. November veranstaltet das Forum Bildung Digitalisierung in Berlin die Konferenz Bildung Digitalisierung 2018 #KonfBD18 statt.
- Hier diskutieren etwa 650 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam, wie digitale Medien den Schul- und Lernalltag verändern, wie ihre Potenziale nutzbar gemacht werden können und stellen Schritte vor, wie sich der digitale Wandel in der Schule gestalten lässt.
- Die Konferenz gilt als die zentrale Plattform für Expertinnen und Experten aus Bildungspraxis, Bildungspolitik und -verwaltung, Zivilgesellschaft und Forschung, auf der über die Veränderungen des Bildungssystems unter den Bedingungen der Digitalität diskutiert wird.