Draußenschule : Mathe am Meer und experimentieren im Wald

Aus der Not der Corona-Pandemie heraus verlegten einige Schulen den Unterricht vor zwei Jahren nach draußen. Und viele von ihnen sind so begeistert, dass sie das Konzept der Draußenschule beibehalten. Zwei Beispiele aus dem Süden und dem Norden der Republik zeigen, dass ein Klassenzimmer auch künftig nicht zwingend vier Wände braucht.

Eine Schultafel im Wald
Schule am Waldrand: Ab und zu lernen die Schülerinnen und Schüler der Montessori-Schule draußen auch ganz konventionell mit Tafel und Hefteintrag.
©Felicitas Wilke
Bastelmaterial auf dem Waldfußboden
Kreative Pause: Die Kinder basteln "Grabsteine" für ihren "Müllfriedhof".
©Felicitas Wilke
Kinder auf einem Waldweg
Unterwegs im Wald: Zwischen den Unterrichtseinheiten toben die Schülerinnen und Schüler durch ihr Outdoor-Klassenzimmer.
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Kinder vor dem Bauwagen
Fast wie bei Peter Lustig: Im Bauwagen haben die Kinder ihr Werkzeug verstaut.
©Felicitas Wilke

Wie entsorgt man eine leere Schokoladenpackung, die aus Papier und einem Stück transparentem Plastik besteht? Im Altpapier oder doch im Restmüll? Zweitklässler Ferdinand kennt die richtige Antwort. „Man muss das Plastik wegmachen und dann beides getrennt voneinander wegwerfen.“

Ferdinand, sieben Jahre alt, sitzt an diesem sonnigen Mittwochvormittag im Mai auf einem Baumstamm am Waldrand, genau wie 35 andere Kinder der ersten und zweiten Klasse der Montessori-Schule Eichstätt. Die Mädchen und Jungen lernen an diesem Tag, wie man Müll trennt. Und sie wollen herausfinden, wie schnell oder langsam eine Bananenschale, ein Apfel, eine FFP2-Maske oder eben Verpackung in der Erde verrotten. Da ist es praktisch, wenn der Wald das eigene Klassenzimmer ist – und damit ein riesiges Experimentierfeld an der frischen Luft.

Seit zwei Jahren tauschen die Grundschulkinder aus der oberbayerischen Stadt klassenweise alle drei Wochen ihr Klassenzimmer im Schulgebäude gegen die Draußenschule am Waldrand ein.

Lehrer mit Hund vor dem Bauwagen
Der Draußen-Lehrer: Martin Zelenka arbeitet als Waldpädagoge an der Montessori-Schule in Eichstätt. Mit dabei ist sein Hund Bazi.
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Ursprünglich entwickelten die Pädagoginnen und Pädagogen die Idee während der Pandemie, um dem Wechselunterricht mit Homeschooling zu entgehen. „Zu Hause allein vor dem Laptop oder einem Arbeitsblatt zu sitzen, das passte so gar nicht zum Konzept von Montessori, das von der Haptik lebt“, erinnert sich Andrea Metzger, die zusammen mit ihrer Kollegin Alice Lüder die Schule leitet.

Also ging es für die Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler fortan über ein paar Hügel und Feldwege rund fünf Minuten zu Fuß in die Natur. Dort buddeln die Kinder in der Erde, toben durch den Wald, machen Feuer in ihrer Jurte – oder brüten auch mal ganz gewöhnlich über ihren Heften an einer Matheaufgabe. Eine Tafel steht schließlich auch auf der Wiese. „Ich halte mich im Wald nicht an einen starren Plan, sondern greife viel von den Kindern auf“, sagt Waldpädagoge Martin Zelenka, der die Klassen draußen unterrichtet. „Wenn über uns plötzlich ein Rüttelfalke fliegt und alle gebannt nach oben schauen, kann ich das nicht übergehen, sondern mache es zum Thema.“

In Skandinavien gehört die Draußenschule seit Jahrzehnten zum pädagogischen Konzept

Ganz neu ist die Idee, den Schulunterricht mal nach draußen zu verlegen, nicht. In Skandinavien gehört die „uteskole“, also die Draußenschule,seit Jahrzehnten fest zum pädagogischen Konzept. An der frischen Luft, so der Gedanke, nutzen die Schülerinnen und Schüler alle ihre Sinne, machen Entdeckungen und lernen die Wirklichkeit kennen.

Das Kollegium der Grundschule Glücksburg in Schleswig-Holstein setzte sich, inspiriert von den Nachbarn im nahe gelegenen Dänemark, erstmals vor fünf Jahren intensiver mit dem Konzept der Draußenschule auseinander. Zunächst verlegte nur eine Klasse für einen Tag pro Woche den Unterricht an den Waldrand, den Strand oder in den Park. „Die Pandemie hat uns dazu gebracht, das Projekt deutlich auszuweiten“, sagt Schulleiterin Meike Thiermann. Inzwischen verbringt jede Klasse pro Woche einen Tag draußen.Wenn Verkehrserziehung auf dem Lehrplan steht, lernen die Kinder in der Stadt, bei welchem Schild man sich wie verhalten sollte. Selbst Mathe lässt sich ins Freie verlegen: Zählen, schätzen, wiegen oder messen kann man auch im Wald oder am Meer.

„Die Kinder sind ausgeglichener, seit wir regelmäßig im Freien lernen“, sagt Thiermann. „Außerdem entwickeln sie ganz beiläufig Interessen, die vielleicht erst im nächsten Schuljahr auf dem Lehrplan stehen würden.“ Die anfängliche Sorge, ob man alle vorgesehenen Lerninhalte schaffen würde, habe sich als unbegründet herausgestellt: „Wir sind oft erstaunt, hinter wie viele Themen wir nach einem Vormittag gedanklich ein Häkchen setzen können“, berichtet die Schulleiterin. Es sei zwar eine Herausforderung, den Stoff nicht mithilfe von Büchern oder Tafelbildern zu vermitteln, sondern mit dem, was der Wald, das Meer oder die Stadt hergeben, „aber wir wachsen immer mehr hinein und tauschen auch untereinander Ideen aus“, sagt Thiermann. Zudem unterstützte die auf Draußenbildung spezialisierte Pädagogin Johanna Pareigis das Kollegium dabei.

Zurück am Waldrand in Eichstätt. Dort haben die Kinder inzwischen die Grundlagen zur Mülltrennung gelernt, jetzt ist Pause. Ein Mädchen hat ein Schnitzmesser aus dem Bauwagen geholt und setzt es an einem Ast an. Daneben bearbeitet ein Klassenkamerad mit einem Bohrer einen Stein, aus dem er einen Anhänger machen möchte. „Das Schönste an der Draußenschule ist zu sehen, dass die Kinder sich alle selbst beschäftigen und neue Interessen entwickeln“, sagt Waldpädagoge Zelenka.

So wie Klara und Anne, beide acht Jahre. Sie knien vor einer Euro-Palette und bemalen mit bunter Farbe große Steinplatten. Wenn sie für ihr Experiment nachher den Müll auf einem „Müllfriedhof“ vergraben, sollen mehrere „Grabsteine“ markieren, welcher Abfall wo in der Erde verfällt. Klara verleiht gerade einer Ananas den letzten Schliff. Sie sagt: „Sport mache ich am liebsten in der Halle.“ Anne ergänzt: „Alles andere macht draußen mehr Spaß.“

Die Idee, das Gelernte praktisch und lebensnah anzuwenden, ist in der Montessori-Pädagogik fest verwurzelt. Für die Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Klassen gehört es schon immer dazu, neben eher theoretischen Inhalten auch regelmäßig zu gärtnern oder zu schreinern. Dafür kann die Schule in Eichstätt einen stillgelegten Bauernhof in Laufdistanz nutzen. „Deshalb passt es wunderbar in unser Konzept, dass jetzt auch die Kleineren draußen lernen“, sagt Schulleiterin Metzger.

Was aus der Not entstand, soll erhalten bleiben und evaluiert werden

Was aus der Not der Pandemie heraus entstand oder ausgeweitet wurde, soll sowohl in Eichstätt als auch in Glücksburg erhalten bleiben. In Bayern gehen die Kinder zwischen April und Oktober regelmäßig in den Wald, in der kälteren Jahreszeit je nach Wetterlage. Im hohen Norden wagen sich Lehrkräfte und Kinder auch im Winter warm eingepackt nach draußen. Gerade nimmt die Grundschule Glücksburg am Projekt „Datengestützte Schulentwicklung“ von der Deutschen Schulakademie und dem Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein teil. Die Pädagoginnen und Pädagogen wollen herausfinden, ob ihr Eindruck stimmt und die Kinder draußen durch das eigene Erleben nachhaltiger lernen als im Klassenzimmer – und falls ja, für welche Lerninhalte dies insbesondere gilt.

In Eichstätt ist die Pause vorbei, die Kinder versammeln sich um Bananenschalen und Plastikreste und verbuddeln sie auf ihrem selbstgestalteten Müllfriedhof. Wenn sie in den kommenden Wochen draußen lernen, werden sie immer mal wieder schauen, was die Erde damit anstellt. Hoffentlich meinen es die Gräser und Pollen dann wieder gut mit der Schülerin, die an diesem Tag im Mai entschuldigt fehlt: Sie hat Heuschnupfen. So ganz ohne widrige Umstände kommt auch die Draußenschule nicht aus.

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