Selbstorganisiertes Lernen : „Die neue Freiheit nutzen“

Handlungsspielräume für die Schülerinnen und Schüler erweitern, Zusammenarbeit und Kommunikation ermöglichen, Feedback stärken – die Bewerberschulen des Deutschen Schulpreises 20|21 Spezial haben das selbstorganisierte Lernen in der Pandemie weiterentwickelt. Bildungsforscher Klaus Konrad hofft, dass die Schulen den Spirit von Eigenständigkeit und Improvisation behalten und weiter neue Wege gehen.

Schülerin am Schreibtisch
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Schulportal: Die Bewerberschulen, die schon vor Pandemie und Lockdown stark auf selbstorganisiertes Lernen gesetzt haben, berichten, dass sie leichter durch die Krise kommen. Ist die Bedeutung des Themas Selbstorganisation vor lauter Digitalisierungsdebatten in den vergangenen Jahren unterschätzt worden?
Klaus Konrad: In jedem Fall ist es gut, dass es jetzt neu auf die Agenda gehoben worden ist. Digitalisierung allein schafft ja noch keine Bildung, man braucht ein pädagogisches und lernpsychologisches Konzept. Und da bieten die Ansätze des selbstorganisierten Lernens ganz klare Vorteile, das hat das vergangene Jahr eindrücklich gezeigt. Bei vielen Schulen hat eine umfassende Reflexion eingesetzt, sie denken über diese Konzepte nach und haben eine Neuorganisation ihrer Schule in die Wege geleitet. Das in Zeiten wie diesen zu erreichen braucht viel Engagement. Da sind Leute bis an ihre Grenzen gegangen.

Digitalisierung allein schafft noch keine Bildung, man braucht ein pädagogisches und lernpsychologisches Konzept. Und da bieten die Ansätze des selbstorganisierten Lernens ganz klare Vorteile.

In der Start-up-Welt würde man sagen: Der Proof of Concept ist erbracht. Das selbstorganisierte Lernen hat gezeigt, dass es trag- und zukunftsfähig ist. Welches Modell hat sich in der Krise als besonders praktikabel erwiesen?
Man sollte verstärkt in die Richtung des Flipped-Classroom-Modells denken. Bei diesem umgedrehten Unterricht eignen sich Schüler die Grundlagen durch digitale Lernmaterialien selbst an. In der Schule werden dann mit dem Lehrer vor allem Fragen geklärt und Übungen gelöst. Im traditionellen Unterricht läuft es bisher genau andersherum: Der Lehrer vermittelt den Stoff, und die Schüler üben danach alleine zu Hause. Die mentale Aktivierung wird im Flipped Classroom stark gefördert, und gleichzeitig werden die Schülerinnen und Schüler nicht allein gelassen und große Schiefstellungen verhindert, weil die eigene Erkenntnis noch mal diskutiert wird. Die Lehrperson kann in der Präsentationsphase Inhalte ergänzen und Missverständnisse korrigieren. Auch Verständnisprobleme lassen sich lösen.

Die Mehrheit der Schulen in Deutschland arbeitet mittlerweile mit Lernmanagementsystemen. Wie unterstützen diese Tools selbstorganisiertes Lernen bestenfalls?
Zentrales Kriterium ist der Handlungsspielraum für die Schülerinnen und Schüler. Lernplattformen sind letztlich nur ein Rahmen wie ein Klassenzimmer mit Stühlen, Tischen und Tafel, und es kommt darauf an, sie so zu gestalten, dass es der Selbstorganisation förderlich ist. Nur einen strikten Stundenplan und Material vorzugeben, ist der alte lehrergelenkte Unterricht auf modern getrimmt. Genauso wie auch die gern genommenen Lern-Apps meist stark strukturierte Formate sind, die man auf keinen Fall aus Bequemlichkeitsgründen einschalten sollte, nur damit irgendwas funktioniert. Die Schulen haben stattdessen über Choice Boards eine breite Auswahl von Material zur Verfügung gestellt, angereichert durch Erklärvideos und weiterführende Links. Sie haben unterschiedliche Methoden ermöglicht, die Schüler etwa bei Präsentationen mit Videos arbeiten lassen. Und es sind Instrumente und Vehikel entstanden für die Selbstreflexion der Schüler, aber auch für die Kooperation. ZUMPAds, Padlets, digitale Hausaufgabenhefte und Planer, mit denen der Lernstoff geplant und reflektiert werden kann, oder Selbsttests. Das sind alles neue Konzepte, wie man Lernen unterstützen kann, die sich in der Pandemie gut bewährt haben.

Die Bewerberschulen für den Deutschen Schulpreis 20|21 Spezial waren auch sehr kreativ bei der Entwicklung und Etablierung von Feedback-Formaten und haben es geschafft, trotz der räumlichen Distanz das Feedback sogar zu stärken, etwa mit Einzelcoachings durch die Lehrkräfte, aber auch durch Mitschülerinnen und -schüler, mit Peer-Coachings, Lern-Tandems, Schüler-Support-Cafés oder einer Übertragung der Lernlotsen-Idee ins Digitale.
Die Gefahr war, durch die Medien aber natürlich auch aus Zeitgründen nur die große Gruppe zu erreichen. Es hat mich sehr beeindruckt, dass das Gegenteil der Fall war, dass es gelungen ist, sehr flexibel mit Medienunterstützung zu handeln und viel Austausch in kleineren Gruppen hinzubekommen, oft sogar mit dem einzelnen Schüler dessen Erkenntnisse und Probleme zu besprechen. Damit ist ganz viel gewonnen. Da steckt sehr viel Engagement dahinter. Es ist ja nicht selbstverständlich, nachmittags um 17 Uhr noch eine Schalte zum Schüler hinzukriegen, der in dem Moment Hilfe braucht. Beeindruckend fand ich aber auch das vielfältige Lernen auf Schülerebene, dass sich etwa stärkere und schwächere Schülerinnen und Schüler geschützt miteinander verbinden und eine halbe Stunde lang über ein mathematisches Problem austauschen können. Die vielen Ansätze des Mentorings der Lernenden untereinander beweisen, dass die Lehrkraft nicht immer selbst Feedback geben muss. Sie macht auch einen guten Job, wenn sie den wechselseitigen Austausch zwischen den Lernenden unterstützt und gestaltet und immer wieder eine Reflexion anstößt.

Selbstorganisiertes Lernen in Verbindung mit Digitalisierung schafft große Freiheiten, sowohl zeitlich als auch räumlich. Lernen, wann und wo man will, das Zuhause als Lernort entdeckt – kritisch gewendet: Erreicht die Kultur der Allzeiterreichbarkeit, wie wir sie aus dem Arbeitsleben kennen, jetzt auch die Schülerinnen und Schüler?
In dieser Frage gibt es eine große Bandbreite, und das muss man in der kommenden Zeit genau evaluieren. Viele schätzen sicher die zeitliche Flexibilität, jüngere Kinder brauchen vielleicht eher klare Vorgaben. Wer Freiräume nicht gut managen kann, wird womöglich ganz abgehängt und fühlt sich nicht mehr an seine Schule gebunden. Das Individuum zieht sich dann vielleicht komplett aus den Lehr-Lernangeboten der Schule zurück. Auch ein dauerhaftes Vermischen von Zuhause und Schule halte ich für schwierig, weil das Zuhause auch ein Rückzugsort sein muss. Abgesehen davon, dass nicht jeder daheim gute Lernbedingungen hat. In der Regel, denke ich, sind Schülerinnen und Schüler in der Schule gut aufgehoben.

Bewegung ist auch in das Thema Noten gekommen. Für das Corona-Halbjahr wurden in manchen Fällen die Noten ausgesetzt, und viele Schulen, die sich für den Deutschen Schulpreis 20|21 Spezial beworben haben, arbeiten mit Portfolios, Lernlandkarten und kompetenzorientierten Zeugnissen.
Ich bin gespannt, wie das ausgeht. Bislang sind die meisten Ansätze in der Fläche im Sand verlaufen, und es herrscht eine große Ratlosigkeit, einfach weil Hochschulen und Unternehmen nach wie vor Durchschnittsnoten erwarten. In jedem Fall hängt die Art der Notengebung ganz entscheidend mit dem Prozess des Lernens zusammen. Bei herkömmlichen Testmethoden schneiden selbstorganisiert lernende Schülerinnen und Schüler meist schlechter ab, weil sie nicht auf das Pauken und Auswendiglernen getrimmt sind. Der Prozess des Lernens sollte für Lehrkräfte mehr Gewicht erhalten. Das Lerngeschehen muss ebenso wichtig sein und bewertet werden wie der abschließende Wissensstand. Es wäre wünschenswert, die Noten variantenreicher und individueller zu vergeben. Pauken ohne verstehen – das ist nicht das, was die Gesellschaft braucht. Wir brauchen eigenständig denkende Leute.

Pauken ohne verstehen – das ist nicht das, was die Gesellschaft braucht. Wir brauchen eigenständig denkende Leute.

Scheitert die neue Lust an der Selbstorientierung, die sich im kreativen Chaos der vergangenen Monate Bahn gebrochen hat, am Ende wieder an den alten Strukturen? Wie nachhaltig schätzen Sie den Schub für das selbstorganisierte Lernen ein?
Wir sind erst am Anfang der Entwicklung, und vielleicht ist es vorbei, bevor es richtig losgeht. Das selbstorganisierte Lernen wird gerade leider sehr stark mit den Notwendigkeiten des Distanzunterrichts und der Technik vernetzt. Wenn der äußere Zwang wegfällt, könnten die alten, etablierten Gewohnheiten wieder ganz schnell Oberhand gewinnen. Aber ich hoffe, dass von dieser Eigenständigkeit und Improvisation, zu der die Schulen mehr oder weniger gezwungen waren, etwas bleibt. Dass wir die neue Freiheit nutzen. Es würde mich enttäuschen, wenn wir jetzt wieder anfangen, auf die Politik zu warten. Wir haben gesehen, dass die zuständigen Behörden zurückhaltend agieren und dass persönliche Initiativen belohnt werden. Eine wichtige Erkenntnis für Schulleitungen: Ich darf mal was riskieren und etwas wagen, auch auf die Gefahr hin, dass es nicht sofort 100 Prozent funktioniert. Sich selbst infrage zu stellen und Fehler zu erkennen – das ist Teil jeden Selbstorganisationsprozesses.

Vortrag von Klaus Konrad beim Digitalen Impuls der Deutschen Schulakademie am 20. April 2021

Zur Person

Klaus Konrad ist Professor für Pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Entwicklung, Implementation und Evaluation konstruktivistischer Lernumgebungen, die Analyse und Modifikation selbstgesteuerten Lernens sowie die Förderung kooperativer Lern- und Reflexionsprozesse. Er weiß, wovon er spricht: Er hat selbst lange als Lehrer gearbeitet und freut sich heute immer noch, seine Studierenden bei Hospitationen in Schulen zu begleiten.

Klaus Konrad
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In der Broschüre zum Deutschen Schulpreis 20I21 Spezial finden Sie die ausführlichen Laudationes der Jury und Porträts der Preisträgerschulen. Außerdem werden hier zentrale Erkenntnisse der Bewerberschulen im Umgang mit den Herausforderungen der Corona-Pandemie zusammengefasst.