Classroom Management : Wie Rituale Kinder beim Lernen unterstützen

Viele Lehrkräfte haben in der Corona-Pandemie mehr Motivationsprobleme und Konzentrationsmängel bei den Schülerinnen und Schülern erlebt. Das zeigt auch die aktuelle Lehrer-Umfrage für das Deutsche Schulbarometer. Rituale können dabei helfen, dass Schülerinnen und Schüler gerade jetzt wieder erfolgreich lernen können. Lehrerin Annika Melchien, die an einem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen (SBBZ Lernen) in Baden-Württemberg unterrichtet, gibt auf Instagram viele Tipps zum Einsatz von Ritualen und für ein wirkungsvolles Classroom Management. Das Schulportal hat sie gefragt, welche Rituale Kinder beim Lernen gut unterstützen und was Schülerinnen und Schüler jetzt besonders brauchen, um sich besser auf den Unterricht fokussieren zu können.

Kinder im Klassenraum Rituale helfen beim Lernen
Gerade in der Corona-Krise fällt es vielen Kindern viel schwerer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Rituale können hier helfen.
©Skynesher/Getty Images

Deutsches Schulportal: In der aktuellen Umfrage für das Deutsche Schulbarometer sagt die Mehrheit der Lehrkräfte, dass sie mehr Konzentrationsprobleme und Unruhe bei ihren Schülerinnen und Schüler beobachten. Teilen Sie diese Erfahrungen?
Annika Melchien: Ja, all das beobachte ich auch. Und noch etwas: Viele Kinder müssen wieder lernen, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Sie hatten über lange Zeit so wenig Kontakte, dass sie vergessen haben, was für die Teilhabe an einer Gesellschaft wichtig ist: dass man Regeln einhalten, dass man Rücksicht nehmen, dass man empathisch sein muss.

Haben Kinder in der Corona-Zeit Rückschritte gemacht, was ihre soziale Entwicklung anbelangt?
Ich fange tatsächlich bei vielen Dingen wieder bei A an. Aber gerade bei jüngeren Kindern ist das nicht verwunderlich. Sie waren noch gar nicht richtig angekommen, als die Schulen schon wieder geschlossen wurden. Ich habe eine zweite Klasse, das sind die Kinder, die mitten in der Corona-Pandemie Schulkinder geworden sind, aber einen großen Teil der ersten Klasse gar nicht in der Schule waren. Alltägliche Dinge wie auf seinem Platz zu sitzen oder sich zu melden, wenn man etwas fragen möchte, haben noch nicht alle Kinder verinnerlicht.

Was ist für Sie jetzt die größte Herausforderung?
Am schwierigsten ist es, alles unter einen Hut zu bringen, allen Ansprüchen und allen Kindern gerecht zu werden. Ich nehme mir viel Zeit, um Kinder in ihrem sozialen Verhalten zu stärken, aber der Unterricht muss auch weitergehen, und außerdem müssen viele Kinder Stoff nachholen.

Lehrerin Annika Melchien gibt Tipps fürs Classroom Management
Annika Melchien gibt auf Instagram Tipps fürs Classroom Management
©privat

Wie lässt sich unter diesen schwierigen Umständen guter Unterricht realisieren?
Ich ritualisiere viel. Der Tag beginnt schon mit einem Ritual: „Unser guter Start in den Tag“. Die Kinder haben einen festen Ablauf, wenn sie in der Schule ankommen. Das sind Kleinigkeiten, aber darüber können sie Strukturen einüben und werden sicherer: Sie hängen ihre Jacke an den dafür vorgesehenen Haken, sie geben ihre Hausaufgaben an einem festen Platz ab. Dann starten wir mit einem Spruch in den Tag und gehen den Tagesablauf durch, damit die Kinder wissen, was ansteht. Das dauert insgesamt etwa eine Viertelstunde.

Und auch im Unterricht gibt es viele Rituale. Ich nutze im Alltag etwa 30 Rituale. Das können kleine Dinge sein. Und einige Rituale wiederholen sich immer. Andere setze ich je nach Situation und Bedarf ein. Das hängt auch davon ab, was Kinder gerade brauchen – etwas, das sie aktiviert, oder etwas, das für Ruhe sorgt.

Haben Sie etwas im Tagesablauf geändert, um die Kinder jetzt besonders zu unterstützen?
Im Moment lasse ich mir für das Morgenritual bewusst mehr Zeit, um zu hören, wie es den Kindern geht. Dabei spreche ich jedes Kind einzeln an. Und auch die Gemeinschaftsstunden, die wir neben dem Fachunterricht haben, sind jetzt besonders wichtig. Aktuell kommt auch einmal wöchentlich die Schulsozialarbeiterin zu uns.

Was findet in diesen Gemeinschaftsstunden statt?
Hier sprechen wir vor allem darüber, was beim Lernen und Leben in der Gemeinschaft wichtig ist. In der vergangenen Woche hatten wir zum Beispiel das Thema „Freundlichkeit und Freude“ und haben uns mit folgenden Fragen beschäftigt: Wie sieht Freude aus? Was bereitet einem selbst, was bereitet anderen Freude? Wir haben dazu einen Garten der Freundlichkeit gebastelt. Jede Blume beinhaltete eine „Freundlichkeit“. Die Idee stammt von Susanne Schäfer aus ihrem Blog „Zaubereinmaleins“. Die gestalterische Darstellung ist wichtig, weil Kinder darüber oft leichter ihre Gefühle ausdrücken können. Und auch Bilderbücher sind eine gute Unterstützung. „Das kleine Wir“ von Daniela Kunkel kann ich sehr empfehlen.

Was macht für Sie gutes Classroom Management aus?
Neben den Ritualen ist für mich die Vorbereitung des Klassenraums ein wichtiger Teil des Classroom Managements. Alles was zu Unsicherheiten und Unruhe führen kann, versuche ich im Voraus auszuschließen. Ich habe einen Extra-Tisch, auf dem ich mir morgens alles für den Tag zurechtlege. Natürlich kostet das Zeit, ich bin meistens 30 Minuten bis eine Stunde vor Unterrichtsbeginn da. Aber für mich lohnt sich das, denn ich habe den Tag über viel mehr Ruhe, es entstehen keine „Leerläufe“, und ich schaffe mir dadurch Freiräume.

Und was macht ein gutes Ritual aus?
Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Rituals ist, dass die Kinder die Regeln und Signale gut kennen. Und die Lehrkraft muss die Signale klar senden.

Wichtig ist für mich außerdem die Visualisierung. Das ist besonders bei Kindern mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot wichtig. Über Bilder, Symbole oder Gesten fällt es ihnen leichter, Dinge zu verstehen und sie sich zu merken.

Wie sind Sie dahin gekommen, so viel mit Ritualen zu arbeiten?
Das habe ich vor allem meiner Mentorin zu verdanken. Von ihr habe ich im Referendariat viel gelernt. Heute ist für mich Instagram eine gute Inspirationsquelle. Manches probiere ich dann aus und schaue, ob es zu meinem Unterricht passt. Manches verwerfe ich auch gleich. Ich würde zum Beispiel nicht mit verstellter Stimme für eine Handpuppe sprechen – das passt nicht zu mir. Anderen liegt so etwas aber. Hier muss jeder seinen Weg finden.

Zehn Tipps für Rituale in der Grundschule

Annika Melchien gibt auf ihrem Instagram-Account happy_teacher_sbbz viele Tipps für ein gutes Classroom Management. Für sie spielen Rituale dabei eine wichtige Rolle. Hier einige Rituale, die sich in ihrem Unterricht bewährt haben:

  • Der Guten-Morgen-Spruch zum Start in den Tag: „Ich wünsch dir einen schönen Tag“ (Daumen nach oben), „dass dich heute jeder mag“ (Arme über Brust gekreuzt), „dass du ausgeschlafen bist“ (Arme recken und strecken), „dass dir schmeckt, was du heut isst(Bauch reiben) „und dass der Tag dir bis zur Nacht“ (mit Zeigefinger Verlauf der Sonne andeuten) „ganz viel Spaß und Freude macht“ (Arme in die Luft recken).
  • Tagestransparenz: Jeden Morgen werden das Datum, die Jahreszeit und das Wetter benannt. Außerdem wird besprochen, wie der Tag abläuft und was die Kinder erwartet. Das wird auch durch Tafelkarten visualisiert.
  • „Gib mir Fünf“ als Ruhe-Ritual: Die Lehrkraft hebt die Hand und zählt dabei folgende Punkte mit den Fingern ab: „Das Kind sitzt am Platz, der Mund ist zu, die Ohren auf, die Hände leer, die Augen sind bei der Lehrkraft.“ Wenn der Spruch eingeübt ist, müssen Lehrkräfte mit der Zeit nur noch die Hand heben, und die Kinder wissen Bescheid.
  • Das „Aufruf-Smiley“ – es ist ein Signal zur leisen Sitzkreisbildung: Die Lehrkraft malt einen Kreis an die Tafel. Die Kinder bekommen Merkmale des Smileys zugeordnet: Ein paar Kinder sind die Augen, ein paar sind die Nase, ein paar die Ohren. Die Lehrkraft ergänzt den Kreis mit diesen Merkmalen. Die Kinder stehen entsprechend auf und kommen in den Sitzkreis. Sind alle im Sitzkreis angekommen, gibt der Mund Rückmeldung, wie gut die Sitzkreisbildung geklappt hat.
  • Das „Klassentier“ – in Annika Melchiens Klasse ist es „Eddi“, ein Erdmännchen: Es kann in verschiedenen Situationen zum Einsatz kommen, zum Beispiel als Tröster, zur Einführung einer neuen Unterrichtsstunde oder als „Gesprächsstein“ – wer das Klassentier hat, darf erzählen, die anderen hören zu
  • „Fliegenklatsche“: Zwei Kinder kommen nach vorn an die Tafel und bekommen jeder eine Fliegenklatsche. Die Lehrkraft schreibt zum Beispiel verschiedene Zahlen auf die Tafel und stellt dann Rechenaufgaben. Die Kinder müssen sie rechnen und dann so schnell wie möglich das richtige Ergebnis auf der Tafel abklatschen. Funktioniert auch mit Silben, Buchstaben, Vokabeln etc.
  • Klassendienste: Jedes Kind übernimmt eine Aufgabe in der Klasse, die dann von Tag zu Tag oder von Woche zu Woche zu einem anderen Kind wandert – der Gedanke dahinter: Die Klassengemeinschaft funktioniert nur, wenn jedes Kind seinen Teil dazu beiträgt.
  • Das „wachsende Gemeinschaftsherz“: Ein großes Papierherz wird in acht Teile zerlegt. Wenn der Unterrichtstag gut lief und alle freundlich miteinander umgegangen sind – ohne Streit und Gemeinheiten –, gibt es ein Stück des Herzens. Wenn das Herz vollständig ist, können sich die Kinder etwas aussuchen: eine Spielestunde, eine längere Hofpause, eine Tablet-Zeit etc.
  • Die „Helferkinder“: Wenn Kinder mit einer Aufgabe fertig sind, können sie sich ein „Helferschildchen“ holen und es vor sich auf den Tisch stellen. Dann können die anderen auf dieses Kind zugehen und sich von ihnen bei den Aufgaben helfen lassen.
  • Abschiedsritual: Genauso wie zu Beginn des Tages ist ein Ritual auch am Ende des Tages wichtig. Annika Melchien verabschiedet alle Schülerinnen und Schüler einzeln an der Tür. Jedes Kind darf sich dabei auf seine eigene Weise verabschieden – das eine zum Beispiel mit „High Five“, das andere mit Ellbogen. Für jedes Kind gibt es also ein eigenes kleines Ritual.