Grundschule : Am Limit: Wenn Kinder intensive Zuwendung benötigen
Die Herausforderungen an Grundschulen wachsen mit der immer heterogener werdenden Schülerschaft. Nicht selten fühlen sich Lehrkräfte überfordert durch stark verhaltensauffällige Kinder, die eine besonders intensive Zuwendung benötigen. Auf einer Fachtagung der Deutschen Schulakademie und des Deutschen Schulpreises in Bremen konnten Pädagoginnen und Pädagogen ihre Erfahrungen austauschen und Lösungsansätze diskutieren.
In einem Stuhlkreis – dort, wo normalerweise die Kinder von ihren Erlebnissen am Wochenende erzählen – sitzen an diesem Tag 20 Lehrerinnen und Lehrer aus vier Bremer Grundschulen. Sie erzählen von Ben, Manu, Marie oder Karl. Es sind fiktive Namen für reale Kinder, die die Pädagoginnen und Pädagogen jeden Tag auf besondere Weise herausfordern. „Der Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die intensiver Zuwendung bedürfen“ heißt der Workshop, der Teil einer Fortbildungsveranstaltung der Deutschen Schulakademie und des Regionalbüros Hamburg ist.
Der Andrang ist groß. Rund 120 Pädagoginnen und Pädagogen haben sich im März in der Grundschule Borchshöhe in Bremen eingefunden, um in verschiedenen Workshops zu diskutieren, wie sie auf die neuen Herausforderungen der immer heterogener werdenden Schülerschaft antworten. „Seit einiger Zeit sehen sich die Schulen in zunehmendem Maße mit gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert, die es ihnen erschweren, die Verschiedenheit von Kindern als Chance für das gemeinsame Lernen wahrzunehmen und als Bereicherung für den Unterricht zu nutzen“, hieß es in der Einladung an die vier Grundschulen, die alle Preisträger des Deutschen Schulpreises sind. Die Fachveranstaltung soll den dortigen Lehrkräften die Möglichkeit bieten, sich über die Konsequenzen dieser Entwicklung auszutauschen.
Manu kugelt sich lieber auf dem Boden, als dem Unterricht zu folgen
Was das konkret im Alltag bedeutet, davon berichten die Lehrerinnen und Lehrer in dem Stuhlkreis ganz offen. Sie alle sitzen hier, weil sie in ihren Klassen jeweils mindestens ein Kind haben, das sie häufig überfordert. In diesem geschützten Raum können sie frei darüber sprechen, warum sie diesem Kind gegenüber – trotz aller Bemühungen – oft ein Gefühl der Hilflosigkeit verspüren. Es geht um Kinder, die teilweise traumatische Erlebnisse verarbeiten, die aus zerrütteten Familien kommen, oder um Kinder, die sich leicht ablenken lassen und andere ablenken.
Da ist zum Beispiel Manu. Der Junge lernt in der ersten Klasse, doch sein Entwicklungsstand entspricht dem eines Kleinkinds, erzählt seine Lehrerin. Während des Unterrichts kugelt er sich lieber auf dem Boden oder spielt mit dem Wasser am Waschbecken. „Für ihn sind das wichtige Lernprozesse, das Verhalten entspricht seinem Entwicklungsstand, doch die anderen Kinder fühlen sich davon gestört“, sagt die Pädagogin. Auf das Unterrichtsgeschehen könne sich Manu kaum konzentrieren – jedes Geräusch, jede Fliege an der Wand lenke ihn ab. Nur wenn sie die ganze Zeit neben ihm sitze, sei der Junge zu bändigen. Für die anderen Schülerinnen und Schüler fehle ihr dann die Zeit.
Eine andere Lehrerin erzählt von Karl aus der dritten Klasse. Karl ist ein Schulvermeider, er fehlt sehr häufig, seine Mutter deckt das Fehlen mit Entschuldigungen und ist ansonsten für die Schule schwer zu erreichen. Wenn Karl in die Schule kommt, ist er in der Regel völlig übermüdet, weil er in der Nacht viel zu lange an Spielekonsolen gezockt hat. Manchmal muss er erst mal in einer Ecke schlafen. Auch Karl kann sich nur sehr schwer konzentrieren, er ist für die Lehrerin kaum erreichbar, „taucht gern ab“ oder reagiert mit Wutausbrüchen.
Die Lehrkräfte sprechen von Erschöpfung und emotionaler Belastung
Der Workshop-Leiter Wilfried Steinert hört sich jede einzelne Geschichte genau an. All die Herausforderungen, von denen die Lehrkräfte berichten, sind ihm nicht fremd. Er selbst hat in seiner Familie zwölf Kinder großgezogen, davon acht Pflegekinder. Als ehemaliger Schulleiter hat er eine Förderschule für geistig behinderte Kinder in Templin erfolgreich zu einer inklusiven Schule für alle umgewandelt. Die Waldhofschule wurde 2010 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Steinerts Credo lautet: „Wir müssen in Deutschland lernen, dass wir Kinder und nicht Fächer unterrichten.“
Zunächst möchte Steinert von den Lehrkräften wissen, was die beschriebenen Kinder bei ihnen auslösen. Die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer sprechen von Erschöpfung, von emotionaler Belastung, von einer Arbeit am Limit, was sich auch negativ auf die Arbeit mit den anderen Schülerinnen und Schülern auswirke. Wenn dann noch jemand aus dem Kollegenteam krank werde, habe man das Gefühl, das Fass laufe über, sagt ein Lehrer.
Gemeinsam mit Steinert überlegen sie, welche Strukturen Entlastung bringen könnten. Festgesetzte Teamberatungen beispielsweise, nicht nur in Krisenfällen. Und Unterstützung von außen sei wichtig. Steinert macht Mut, ergänzt Tipps, die sich in der Praxis bewährt haben. Er rät zum Beispiel, dass eine bestimmte Lehrkraft an der Schule die feste Kontaktperson für das Jugendamt sein sollte. Durch die somit mögliche regelmäßige Abstimmung würde die Schule schneller und effizienter Hilfe von außen bekommen.
Den Blick auf die Stärken der Kinder richten
Ein weiterer wichtiger Baustein sei der Aufbau von Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern, sagt Steinert. Dafür müsse es regelmäßig Zeiten für eine Kommunikation zwischen Lehrkraft und jedem einzelnen Kind aus der Klasse geben – und zwar nicht nur dann, wenn es Konflikte gebe. Sein Tipp: Jeden Tag zehn Minuten für ein Zwiegespräch mit einem Schüler oder einer Schülerin nach einer festgelegten Reihenfolge einplanen. So kämen alle Kinder zum Zuge.
Wichtig sei, den Blick weg von den Problemen hin zu den Stärken der Kinder zu richten. Ben kann sich lautstark in der Klasse durchsetzen? Wunderbar, dann kann er vielleicht als Klassensprecher eine wichtige Rolle einnehmen! Wenn die Kinder das Gefühl haben, positiv gesehen zu werden, verändere sich auch ihr Verhalten, sagt Steinert.
Das alles ist den Lehrkräften nicht neu, ähnliche Erfahrungen haben die meisten selbst schon gemacht. „Doch das pädagogische Wissen wird im Alltag oft durch Probleme überlagert, und dann tut es gut, wenn es durch Veranstaltungen wie diese wieder freigelegt wird“, sagt eine Lehrerin am Ende des Workshops. Und eine Mitarbeiterin der Schulaufsicht stellt fest: „Ich kann jetzt viel besser nachvollziehen, welche Belastungen die Lehrkräfte in der Grundschule haben.“
- Vor allem Kinder mit extremen Verhaltensauffälligkeiten bringen Schulen häufig an ihre Grenzen. Peter Friedsam, Sonderpädagoge und Leiter des Regionalen Bildungs- und Beratungszentrums Hamburg-Bergedorf, erklärt im Interview mit dem Schulportal, wie der Umgang mit „Systemsprengern“ gelingen kann.
- Wie sieht der Alltag an einer Inklusionsklasse aus? Welche Ressourcen sind vorhanden, und was fehlt? Gastautor Werner Klein hat sich für das Schulportal den Unterricht in einer Inklusionsklasse an der Willy-Brandt-Schule in Norderstedt genauer angesehen.
- Für Kinder, die eine besonders intensive Zuwendung benötigen, gibt es häufig Schulbegleitungen oder Assistenzen. Was können diese Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter leisten, und wo liegen die Grenzen dieser Form der Unterstützung? Das Schulportal ist dieser Frage in einem Feature auf den Grund gegangen.