Religionsunterricht : Ach, du lieber Gott!

Hamburg erfindet den Religionsunterricht neu. Christen, Muslime und Juden sollen gemeinsam lernen und miteinander ins Gespräch kommen. Gute Idee, aber nicht ganz einfach.

Dieser Artikel erschien am 18.04.2023 in DIE ZEIT
Oskar Piegsa und Tom Kroll
Junge mit Bibel in der Hand
©Getty Images

Digitalisierung, Lehrermangel, Geflüchtete: Es gibt viele Themen, die in der Schulpolitik gerade wichtig sind und im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Weniger bekannt ist, dass Hamburg auch seit Jahren intensiv an der Neuerfindung des Religionsunterrichts arbeitet. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das bundesweit und sogar im Ausland von Fachleuten genau beobachtet wird. Ende März kam eine Delegation aus Wien zu Besuch. Sie wollte in Hamburg lernen: Wie kann das Zusammenleben in einer multireligiösen Stadtgesellschaft besser gelingen?

Um die Besonderheit des Hamburger Religionsunterrichts zu verstehen, muss man zurückgehen bis an die Anfänge der Bundesrepublik: Es ist der 23. Mai 1949, das Grundgesetz wird verkündet. Darin wird nur ein einziges Schulfach vorgeschrieben und geregelt – Religion. Es handele sich um ein „ordentliches Lehrfach“, heißt es in Artikel 7, Absatz 3. Dieses werde „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“. Im Mai 1949 gibt es im Grunde nur noch zwei Religionsgemeinschaften in Deutschland, die beiden großen christlichen Kirchen. Zahlenmäßig fällt mancherorts nur eine der beiden ins Gewicht, etwa in Hamburg die evangelische. Katholischer Unterricht findet nur an kirchlichen Privatschulen statt, darauf einigen sich der Senat und das Erzbistum.

Seit 2012 sind in Hamburg aber auch die Religionsgemeinschaften der Muslime und Aleviten per Staatsvertrag anerkannt. Spätestens damit haben sie Anspruch auf Religionsunterricht an staatlichen Schulen, den sie – Paragraf 7, Absatz 3 – auch mitbestimmen dürfen. In einigen anderen Bundesländern regelt man das so: Wenn „Religion“ auf dem Stundenplan steht, gehen die evangelischen Kinder zum evangelischen Lehrer, die katholischen Kinder zum katholischen Lehrer, und alle anderen gehen auf dem Schulhof bolzen. Sie haben eine Freistunde, dafür kommt später der Imam, Dede oder Rabbi an die Schule.

In Hamburg wird seit den 1990er-Jahren ein anderes Modell ausprobiert: Alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse bekommen zusammen Unterricht, und zwar bei einem Lehrer, der gläubiges Mitglied einer Religionsgemeinschaft ist, aber auch die Überzeugungen der anderen kennt und ein Gespräch darüber anleiten kann. Die Idee dieses „Religionsunterrichts für alle“ (kurz Rufa): Kinder und Jugendliche lernen im Dialog miteinander die eigene Religion besser kennen – und bekommen zugleich Übung darin, mit Menschen umzugehen, die anderen Religionen und Weltanschauungen angehören.

Wie geht das?

Diese Idee mag simpel klingen, ihre Umsetzung ist aber voraussetzungsreich und heikel. Das beginnt damit, dass die Führungspersonen der Religionsgemeinschaften Vertrauen zueinander und zum Staat haben müssen. Für den Rufa verzichten sie alle auf eigenen Religionsunterricht – und müssen das vor ihren Mitgliedern rechtfertigen. Özlem Nas vom muslimischen Verband Schura sagt: „Manche kritisieren uns und fragen, warum wir keinen islamischen Religionsunterricht durchführen.“ Sie aber sei überzeugt davon, dass der Rufa der richtige Weg sei: Ein moderierter Raum, in dem Jugendliche sich über ihren Glauben austauschen können, sei „dringend nötig“, sagt Nas. Ähnlich formulieren es Vertreter der anderen Religionen.

Bisher war für die Ausgestaltung des Rufa die evangelische Nordkirche zuständig, zusammen mit der Schulbehörde. In der sogenannten Gemischten Kommission (gemischt, weil dort Vertreter von Staat und Kirche zusammensitzen) verständigten sie sich über die Unterrichtsinhalte. Angehörige anderer Religionen wurden zu Beraterrunden eingeladen. Der Religionspädagoge Wolfram Weiße, ein Vordenker des Rufa, sagt: „So konnten wir unsere Zusammenarbeit über Jahre entwickeln.“ In Hamburg habe das Vertrauen zwischen Christen und Muslimen deshalb die Anschläge des 11. September 2001 und die Senatsbeteiligung der rechtspopulistischen Schill-Partei überstanden. Trotzdem: Ideal war dieses Modell nicht, denn über den Religionsunterricht durften bisher nur der Staat und die evangelischen Christen bestimmen.

Neu ist nun, dass der Rufa in „trägerplurale Verantwortung“ überführt worden ist, wie es im Behördendeutsch heißt. Inzwischen gebe es fünf Gemischte Kommissionen, erklärt Jochen Bauer, Fachreferent für Religion in der Schulbehörde, je eine für Protestanten, Katholiken, Muslime, Aleviten und Juden. Was dort erarbeitet wird, fließt anschließend wie durch einen großen Trichter in den Bildungsplan für Religion ein, der den Schulen Vorgaben für ihren Unterricht macht. Bisher wird noch nach dem alten (nur von der evangelischen Kirche mitgeschriebenen) Plan unterrichtet. Im kommenden Schuljahr, also ab Ende August, wird der neue „trägerplurale“ verbindlich.

Dieses Verfahren ist komplex, aber nötig, um den Vorgaben des Grundgesetzes gerecht zu werden. Das haben juristische Fachgutachten ergeben. Denn nur so ist sicher, dass wirklich allein Staat und Aleviten über alevitische Inhalte entscheiden, nur Staat und Juden über jüdische Inhalte und so weiter.

Wer soll das unterrichten?

„Das Ziel ist, dass es mehr muslimische, alevitische, jüdische und katholische Religionslehrerinnen und Religionslehrer gibt“, sagt Jochen Bauer von der Schulbehörde. „Langfristig sollen es so viele werden, dass sie die Religionszugehörigkeit der Schülerschaft widerspiegeln.“ Davon ist Hamburg noch weit entfernt: Von den bisher rund 2000 Religionslehrkräften sind mehr als 1800 evangelisch. Die meisten davon haben Religion auf Lehramt studiert, einige Hundert unterrichten fachfremd an Grundschulen. Es gibt auch Einzelne, die studiert und das Staatsexamen abgelegt haben, seitdem aber aus der Kirche ausgetreten sind. Früher war das möglich, doch dann hat die Nordkirche im Jahr 2018 ihre Regeln verschärft. Zum neuen Schuljahr sollen nun alle Fachfremden ihre Kirchenmitgliedschaft belegen und fachlich nachqualifiziert werden.

Ein Problem für den Rufa ist die geringe Anzahl von Katholiken, Muslimen, Aleviten und Juden im Staatsdienst. Aktuell sind unter den Lehrkräften für Religion hundert katholisch, zwanzig muslimisch, zehn alevitisch und zwei jüdisch. Diese Zahlen sind gering, vor allem, wenn man sie zur Schülerschaft in Beziehung setzt: Zwanzig Prozent der Schülerinnen und Schüler dürften muslimisch sein, aber nur ein Prozent der Religionslehrkräfte.

Alle am Rufa beteiligten Akteure sind sich einig, dass schnell neue Pädagoginnen und Pädagogen ausgebildet und eingestellt werden sollen, möglichst nicht wieder vor allem Lutheraner. Christopher Haep, der im Erzbistum die Abteilung Schule und Hochschule leitet, sagt: „Für die Umsetzung des Religionsunterrichts für alle sind Lehrkräfte aus allen Religionsgemeinschaften die notwendige Bedingung.“ Jochen Bauer von der Schulbehörde ist optimistisch: Von den 60 angehenden Religionslehrern, die derzeit ihr Referendariat machen, sei ein Drittel nicht evangelisch – so viele wie noch nie. Dennoch: Bis sich die Zusammensetzung der Lehrerschaft deutlich verändert, wird es nicht Jahre dauern, sondern eher Jahrzehnte.

Wieso dauert das so lange?

Es braucht Zeit, bis ein Lehrer ausgebildet ist: mindestens drei Jahre fürs Bachelor-, dann zwei fürs Masterstudium, anschließend anderthalb für das Referendariat. Und: Für den Religionsunterricht an weiterführenden Schulen wurden in Hamburg bisher nur evangelische Religionslehrer ausgebildet, Katholiken und andere konnten das Lehramt Religion an der Universität Hamburg bislang lediglich für die Primarstufe studieren. Bei einigen Menschen ist der Eindruck entstanden, die Uni würde die Ausbildung neuer Religionslehrer verschleppen. „Wir kämpfen ziemlich mühsam“, klagte etwa Staatsrat Jan Pörksen im März 2021. „Insbesondere mit der Universität, damit die Dinge, die verabredet sind, jetzt auch mal umgesetzt werden.“ Die Bischöfin Kirsten Fehrs sagte damals, dass „die Universität nicht liefert“.

Inzwischen äußern sich beide wohlwollender – wohl auch, weil die Beteiligten inzwischen verstehen, welch ein Riesenprojekt sie sich vorgenommen haben. Vertrauen zwischen den Religionen zu schaffen war die erste Aufgabe. Schulpolitische Gremien einzurichten war die zweite. Lehrpläne zu entwickeln war die dritte. Jetzt kommt die vierte Aufgabe: An der Uni müssen ganz neue Lehramtsstudiengänge geschaffen werden.

Susanne Rupp, Uni-Vizepräsidentin für Studium und Lehre, sagt: „Wir haben die Herausforderung, dass die Absolventen auch in Bayern, Hessen oder Nordrhein-Westfalen unterrichten können müssen.“ Wer in Hamburg islamische Religion auf Lehramt studiert, ist anschließend als Lehrer für islamische Religion bundesweit einsetzbar. Das Wissen über andere Religionen, das für den Rufa gebraucht wird, kommt verpflichtend dazu.

Etliche Kosten gehen mit dem Aufbau der neuen Institute für islamische und alevitische Theologie einher, an denen die angehenden Lehrkräfte studieren werden. Es braucht Geschäftszimmer, Bibliotheken, Studierendenbetreuer. Der Hauptposten dürften die neuen Professuren sein: Die Stadt veranschlagt dafür je 193.972 Euro pro Jahr (das ist die W3-Besoldung und umfasst neben dem Gehalt auch Rückstellungen für die Pension).

Für einen Lehramtsstudiengang in katholischer Theologie fordert die Deutsche Bischofskonferenz mindestens vier Professuren. Das Erzbistum Hamburg war bereit, davon abzuweichen und drei Professuren zu akzeptieren. Damit stand fest, dass Muslime, Aleviten und Juden auch je drei Professuren bekommen sollten, schon aus Gründen der Gleichbehandlung. „Das wird teuer“, sagt Rupp. „Das sind große Excel-Tabellen, die werden von den Experten aus der Behörde und der Universität geprüft, da wird lange gerechnet und verhandelt.“ Geldgeber und Verhandlungspartner ist die Wissenschaftsbehörde, die sich den Rufa nicht ausgedacht hat und ihrerseits mit der Schulbehörde verhandelt.

Wie ist der Stand an der Uni?

Im Juni 2021 war klar: Es gibt Geld von der Behörde – aber nur für jeweils zwei Professuren. „Wir halten das für vertretbar“, sagt Susanne Rupp. Mit dem Erzbistum wird nun nachverhandelt, beide Seiten wollen sich zu Details nicht äußern, es ist aber zu erwarten, dass sich Erzbistum und Universität auf einen Kompromiss einigen werden.

Jetzt müssen die Stellen besetzt werden, das ist ein komplexes Verfahren. Erstens, weil Professoren quasi auf Lebenszeit berufen werden. Die Uni prüft also genau, wen sie sich ins Haus holt. Zweitens, weil die Religionsgemeinschaften beteiligt werden. Sie haben zwar kein Vetorecht, aber die Uni hat kein Interesse daran, eine Person zu berufen, die von ihrer Glaubensgemeinschaft abgelehnt wird. Man ist auf gute Zusammenarbeit angewiesen.

Die erste Ausschreibung für alevitische Theologie musste wegen Verfahrensfehlern abgebrochen werden, die für islamische Theologie lief ins Leere: Zwar gab es am Ende Kandidaten, auf die sich Uni und Religionsgemeinschaft einigen konnten, doch folgten diese lieber dem Ruf an andere Hochschulen. So verging die Zeit. Anfang März wurde an der Uni der neue Fachbereich Religionen gegründet. Aus dem Präsidium der Universität Hamburg heißt es: Wenn es nicht zu einer erneuten Häufung von Pannen und Absagen kommt, sollen die offenen Professuren bis Jahresende besetzt sein.

Happy End? Nicht ganz: Denn bisher ist das Interesse der Studierenden gering. Zum Wintersemester 2022/23 haben je vier Studierende in katholischer und islamischer Religion angefangen. Es werde noch Jahre dauern, bis sich das Angebot herumspreche und die Nachfrage steige, vermutet man in der Wissenschaftsbehörde. Immerhin: Bis dahin sind die Studienbedingungen wohl luxuriös, mit kleinen Seminaren und intensiver Betreuung.

Was ist mit den vielen, die nicht glauben?

Rund 60 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger fühlen sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig, ergab eine Umfrage im vergangenen Jahr. Die Kinder und Jugendlichen, die dazu zählen, werden zur Teilnahme am Rufa nicht gezwungen: An Gymnasien und Stadtteilschulen können sie Religion abwählen und stattdessen das Fach Philosophie belegen. An Grundschulen ist es möglich, dass Eltern ihre Kinder vom Religionsunterricht abmelden; davon machen laut der Schulbehörde aber nur wenige Gebrauch.

Wenn es eine Stärke des Religionsunterrichts für alle ist, Schülerinnen und Schüler auf das Leben in einer multireligiösen Gesellschaft vorzubereiten – müsste er dann nicht auch die große Gruppe der religiös Ungebundenen einbeziehen? Ja, fordert der Senat. Auch Kinder und Jugendliche, die „dezidiert keiner Religion angehören“, sollen „identitätsstiftende Bildungsangebote bekommen“, heißt es im rot-grünen Koalitionsvertrag. Kritiker wie der Religionswissenschaftler Carsten Ramsel berufen sich darauf und bezeichnen den Rufa deshalb als „Mogelpackung“. Dieser sehe lediglich Identitätsangebote für religiöse Schüler vor.

Allerdings sind auch nur die Religiösen als Glaubensgemeinschaften verhandlungsfähig gegenüber dem Staat. Zu den 60 Prozent, die sich keiner organisierten Religion zugehörig fühlen, zählen überzeugte Atheisten wohl ebenso wie religiös Desinteressierte, agnostische Sinnsucher und Esoteriker. Ob sie eine Identität teilen, scheint fraglich.

Klar ist: Es gibt mehr Religionen und Weltanschauungen, als bisher im Rufa abgebildet werden. In Hamburg leben Buddhisten, Hindus, Sikhs und andere. Ein Religionsunterricht, der wahrhaft „für alle“ ist, müsste auch sie berücksichtigen.