Expertenstimme

Mut-Mach-Programm : Wie Kinder mit „Ich schaff’s!“ Potenziale entdecken

Was mache ich mit einem Kind, dem es schwerfällt, längere Zeit ruhig zu sitzen, Ordnung in den Schulsachen zu halten, regelmäßig Hausaufgaben zu erledigen oder Konflikte friedlich zu lösen? Der Grundschullehrer und Schulpsychologe Robert Roedern arbeitet erfolgreich mit dem aus Finnland stammenden Programm „Ich schaff’s!“. In seinem Gastbeitrag für das Schulportal beschreibt er, wie das lösungsorientierte Programm funktioniert.

Robert Roedern
Kind lacht mit ausgebreiteten Armen
Am Ende des Programms "Ich schaff's!" wird die neu erworbene Fähigkeit gemeinsam mit den Helferinnen und Helfern gefeiert.
©Johannes PlenioPexels

„Dann kann ich mein Leben mehr selbst bestimmen“, antwortete der Zweitklässler auf meine Frage, wie ihm seine neue Fähigkeit nutzen könnte. Er wollte mutiger werden und damit auch lernen, seine Aufgaben schneller und ausdauernder zu erledigen. Geholfen haben ihm dabei „Ich schaff’s!“, ein Programm in fünfzehn Schritten, und Menschen, die ihn in seinen Sorgen, Stärken und Wünschen ernst nehmen.

Tagtäglich begleite und unterstütze ich als Grundschullehrer und Schulpsychologe in meiner lehrenden und beratenden Arbeit Menschen vom Grundschul- bis ins Erwachsenenalter in ihren Lern- und Veränderungsprozessen. Insbesondere in dem von großer Heterogenität geprägten Lernraum einer Grundschule bin ich immer wieder mit der Herausforderung konfrontiert, Lernen in der komplexen sozialen Situation einer Schulklasse für alle zu ermöglichen – und dabei den demokratischen und pädagogischen Prämissen von Autonomie, Selbst- und Mitbestimmung gerecht zu werden.

Ich habe zahlreiche Versuche unternommen, mit Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern umzugehen, die ich als schwierig und belastend erlebt habe. In meinen Fortbildungen erfahre ich von den Maßnahmen anderer Lehrkräfte. Oftmals tauchen Strafen, Belohnungssysteme oder auch Noten zur Disziplinierung auf, die eher an eine Versuchsanordnung von Pawlow erinnern und zudem selten nachhaltig zu Verhaltensänderungen führen.

„Ich schaff’s!“ bedeutet, anders mit Menschen zu sprechen und umzugehen

Mit dem Lern- und Arbeitsprogramm „Ich schaff’s!“, das von den Finnen Ben Furman und Tapani Ahola entwickelt wurde, ist zunächst eine bestimmte Art verbunden, mit Menschen zu sprechen und mit ihnen umzugehen. Der Blick richtet sich auf das, was gelingt, auf die Stärken einer Person und eine wünschenswerte Zukunft. Dann bietet es konkrete Schritte an, Kinder und Jugendliche in ihren Lern- und Entwicklungsaufgaben zu unterstützen, zu ermutigen und zu stärken. Schließlich unterstützt das Programm Lehrkräfte dabei, Klassenführungsprozesse zu gestalten.

Was mache ich nun mit einem Kind, dem es schwerfällt, längere Zeit ruhig zu sitzen, Ordnung in den Schulsachen zu halten und regelmäßig Hausaufgaben zu erledigen? Dem es schwerfällt, freundlich und respektvoll mit seinem Umfeld umzugehen oder Konflikte mit anderen Kindern oder Jugendlichen friedlich zu lösen?

Als Lehrkraft beobachte ich zuerst genau und suche das Gespräch mit Menschen, die die Schülerin oder den Schüler in vergleichbaren Situationen erleben. Wann zeigt sie oder er das für mich problematische Verhalten nicht, wo verhält er oder sie sich wie von mir erwartet und gewünscht? Ich überlege, welche Stärken die Schülerin oder der Schüler besitzt.

Dieser ressourcenorientierte Blick unterscheidet sich von Ansätzen, die die Ursachen störenden Verhaltens herauszufinden und aufzulösen versuchen.

Dieser ressourcenorientierte Blick unterscheidet sich von Ansätzen, die die Ursachen störenden Verhaltens herauszufinden und aufzulösen versuchen. Es lohnt sich sicherlich, die Gründe für ein bestimmtes Verhalten zu erforschen und anzuerkennen. Hinter diesem stecken oft unbefriedigte Bedürfnisse und Nöte. Überforderung kann ein Auslöser sein. Zum Beispiel gehe ich zu hohen Anforderungen aus dem Weg, indem ich etwas vergesse, es nicht mache oder durch Störungen ablenke. Für eine Lösung oder Veränderung sind diese Ansätze nicht zwangsläufig erforderlich.

Fünfzehn Schritte, um sein Wunschziel zu erreichen

Im ersten Schritt spreche ich mit der Schülerin oder dem Schüler und suche nach ihren Stärken: „Was gelingt dir gut? Wo hast du zuletzt Fortschritte gemacht?“ Ich denke mit ihr oder ihm darüber nach, wie die schulische Situation für sie oder ihn aussehen würde, wenn alles gut wäre. „Welche Erwartungen und Wünsche hast du an dich? Welche Fähigkeiten brauchst du dafür? Was solltest du lernen oder besser können, damit sich die Situation für dich verbessert?“ Bei dieser Suche nach Stärken ist es wichtig, nicht gleich allzu konkret in der Zielfindung zu werden, sondern ein Haltungsziel zu formulieren, das für die Schülerin oder für den Schüler motivierend wirkt. Es gilt, einen Wunschzustand herauszuarbeiten und möglichst genau zu beschreiben.

Im zweiten Schritt werden konkrete Fähigkeiten identifiziert, die bei der Erreichung des Wunschzustandes hilfreich sind. So kann der Weg in kleinere Etappen zerlegt werden. Aus den gefundenen Fähigkeiten wird eine ausgewählt, die entweder den größten Einfluss darauf hat oder am leichtesten umgesetzt werden kann.

Ich überlege im dritten Schritt mit der Schülerin oder dem Schüler, welchen Nutzen sie oder er selbst und andere Menschen im Umfeld davon haben, wenn sie oder er die neue Fähigkeit beherrscht. Hier hilft es, möglichst hartnäckig zu bleiben und weiter nachzufragen: „Was hast du (noch) davon?“ An dieser Stelle kann sich auch herausstellen, dass die gewählte Fähigkeit nicht zu dem gewünschten Zustand führt, sodass eine andere ausgesucht werden muss.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass es vielfältige Vernetzungen, Übung und Geduld braucht, bis neue Handlungsweisen dauerhaft verwirklicht werden können.

Ich entwickle zusammen mit der Schülerin oder dem Schüler im vierten und fünften Schritt Erinnerungshilfen. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass es vielfältige Vernetzungen, Übung und Geduld braucht, bis neue Handlungsweisen dauerhaft verwirklicht werden können. Deswegen ist es sinnvoll, in den Momenten und Situationen, in denen die neu zu erlernende Fähigkeit angewendet werden soll, verschiedene Erinnerungshilfen zu finden. Das können Gegenstände, auch Düfte, Bilder und Musik sein, der Klingelton des Mobiltelefons, eine Kraftfigur oder ein Logo, ein motivierendes Motto oder ein cooler Spruch. Als bewusste Zielauslöser sollen sie helfen, das neue Handeln zu aktivieren.

Wie können andere Menschen helfen?

Eine wichtige Ressource stellen andere Menschen dar. Ich frage im sechsten Schritt nach, wer die Schülerin oder den Schüler unterstützen und auf welche Art das geschehen könnte. „Wie können dir diese Leute helfen?“ Indem sie Ideen zur Umsetzung einbringen, Mut zusprechen, nachfragen, wie es geklappt hat, an die neue Fähigkeit erinnern oder auch Trost spenden, wenn es mal nicht funktioniert hat.

Neben einem attraktiven Ziel spielt die Aussicht auf Erfolg eine wichtige Rolle für die Motivation. Entsprechend fordere ich die Schülerin oder den Schüler im siebten Schritt auf, mit Menschen, die sie oder ihn kennen, ins Gespräch zu kommen. Das Kind soll herausfinden, warum diese glauben, dass es die neue Fähigkeit lernen kann. Ich sammle Wissen über das Kind, das hilft, Zuversicht aufzubauen: „Was hast du bisher schon alles gelernt und geschafft, sodass du glaubst, auch diesen Schritt gehen zu können?“

Mit der Planung einer Feier im achten Schritt ist die Frage verbunden, woran ich bei der Schülerin oder bei dem Schüler merken würde, dass sie oder er soweit ist: „Wie gut sollst du die Fähigkeit beherrschen, damit sie gefeiert werden kann?“

Mit der Schülerin oder dem Schüler wird im neunten Schritt ein Handlungsplan entworfen: „Was machst du genau, wenn du deine Fähigkeit gelernt hast? Wer wird es woran merken, dass du sie beherrschst? Mach es mal vor und tu so, als ob du sie schon gelernt hättest.“

Indem Öffentlichkeit hergestellt wird, bekommt das Handlungsziel im zehnten Schritt eine größere Verbindlichkeit. Ich frage, wem die Schülerin oder der Schüler von der Fähigkeit erzählen möchte: „Wie wirst du ihnen das mitteilen? Was glaubst du, werden sie dazu sagen?“

Nun gilt es die erarbeiteten Schritte im Alltag zu üben. Dabei ist es wichtig, diese möglichst klein und erreichbar mit der Schülerin oder dem Schüler zu gestalten.

Zum Lernen neuer Fähigkeiten gehört, dass die Schülerin oder der Schüler diese auch mal vergisst und auf die gewohnte, zu verändernde Art und Weise handelt. Deswegen kann es entlastend wirken, wenn vorher solche Rückschläge bedacht werden: „Was kannst du machen, wenn du es mal vergisst? Wie können deine Unterstützer dich daran erinnern?“

Am Ende des Programms stehen die Feier und der Dank an die Helferinnen und Helfer (Schritt 13 und 14). Und im besten Fall wird die neu erworbene Fähigkeit im fünfzehnten und letzten Schritt an andere weitergegeben.

Damit hat es mein Zweitklässler schließlich geschafft, mutiger zu werden und sich in schwierigen Situationen zu behaupten. An seine neue Fähigkeit, die er „Ausprobieritis“ genannt hat, erinnerte ihn die Figur eines Archäologen, der auch nur große Entdeckungen machen kann, wenn er mal schwere Steine beiseiteschafft. Gemeinsam haben wir einen Stufenplan mit kleinen für ihn erreichbaren Etappen entwickelt, vom Leichten zum Schweren, vom Besuch beim nahen Bäcker, den er sich schon zutraute, bis hin zum Melden in dem für ihn schwierigsten Unterrichtsfach. Schließlich würde Fahrradfahren, so stellt Ben Furman fest, auch nicht am steilen Hang gelernt, sondern auf einer flachen Strecke.

Mehr zum Thema

Ben Furman: „Ich schaffs! Spielerisch und praktisch Lösungen mit Kindern finden – Das 15 -Schritte-Programm für Eltern, Erzieher und Therapeuten“. Carl Auer Verlag, Heidelberg. Erschienen 2005.

Ben Furman: „,Ich schaffs!‘ in Aktion: Das Motivationsprogramm für Kinder in Fallbeispielen“. Carl Auer Verlag, Heidelberg. Erschienen 2010.

Ben Furman: „Gut gemacht! Das ,Ich schaffs!‘-Programm für Eltern und andere Erzieher“. Carl Auer Verlag, Heidelberg. Erschienen 2012.

Thomas Hegemann und Birgit Dissertori Psenner (Hrsg.): „,Ich schaffs!‘ in der Schule: Das lösungsfokussierte 15-Schritte-Programm für den schulischen Alltag“. Carl Auer Verlag, Heidelberg. Erschienen 2018.

Eine von Ben Furman kostenlose App Kids‘ Skills gibt Anregungen zur Umsetzung des Programms „Ich schaff’s!“.

 

Zur Person

  • Robert Roedern ist Grundschullehrer in München.
  • Außerdem arbeitet er als Schulpsychologe an der Staatlichen Schulberatungsstelle in München.
  • Seine inhaltlichen Schwerpunkte liegen in der lösungsorientierten Arbeit, der Kooperation zwischen Schule und Eltern sowie im Umgang mit Vielfalt.