Urlaubserkenntnisse : Was wir von anderen Ländern lernen können
Sabine Czerny geht in ihrer aktuellen Kolumne für das Schulportal der Frage nach, warum die Kinder in vielen anderen Ländern offensichtlich mehr Freude an der Schule haben als in Deutschland. Ein Grund dafür könnte in der hierzulande oft bemühten Gaußschen Intelligenzkurve liegen.
Die Ferien sind zu Ende, ein neues Schuljahr hat begonnen. Ich habe – wie wohl viele von uns interessante Eindrücke aus dem Urlaubsland mitgebracht, das ich besucht habe. Wo immer ich hinreise, frage ich die Leute des Landes auch nach der Schule. Nach dem dortigen Schulsystem und wie es ihnen mit der Schule geht. Darüber spreche ich mit Erwachsenen und mit Kindern. In einigen Ländern habe ich auch Schulen besucht, dem Unterricht beigewohnt und das Schulleben auf mich wirken lassen.
Mit der Zeit hat sich dabei im Vergleich zu unserem Bildungssystem ein deutlicher Eindruck herauskristallisiert, der mich nachdenklich und sogar wütend macht: Wir in Deutschland haben wirklich alle Möglichkeiten: Uns stehen Technologien zur Verfügung, hervorragende Universitäten zur Lehrerausbildung, eine Vielzahl an Materialien und Anschauungsmitteln. Wir könn(t)en auf fundierte Erkenntnisse der Hirnforschung zurückgreifen, wissen an sich alles über Motivation und Anstrengungsbereitschaft. Unterrichts- und Arbeitsmethoden sind in ebenso hohem Maße entwickelt wie Erkenntnisse in Didaktik und Pädagogik. Und dennoch fühlen sich bei uns viele Kinder, Eltern und Lehrer von der Schule gestresst und die Fähigkeiten unserer Schulabgängerinnen und -abgänger lassen oft zu wünschen übrig.
In einem Hinterland des Balkan dagegen steht da dann dieses etwa 10-jährige Mädchen – barfüßig, arm wie viele dort – vor mir und erzählt mir strahlend und in perfektem Englisch, wie gerne es in die Schule geht und lernt.
Stress, in der Form, wie viele die Schule hierzulande erleben, ist mir in keinem der besuchten Länder begegnet, weder bei den Kindern, noch bei den Eltern. Gleichzeitig sind die Lernerfolge dort oft sogar besser. Woran liegt das? Was ist anders?
In anderen Ländern wird der Schule mehr Wertschätzung entgegengebracht
Zunächst mal habe ich festgestellt, dass in den anderen Ländern der Schule vonseiten der Eltern und Kinder Wertschätzung entgegengebracht wird – man ist dankbar für die Bildung, die man erhält. Das fehlt mir in Deutschland schon sehr – ich selbst bin froh, dass unser Staat diese Möglichkeit bietet und Geld dafür zur Verfügung stellt.
Zudem ist mir aufgefallen, dass in anderen Ländern die Kinder meist viele Jahre gemeinsam in die Schule gehen und eine richtungsweisende Entscheidung erst im Jugendalter getroffen wird – und zwar von den Schülern, nicht von der Schule! Die Kinder können sich also erst einmal in Ruhe entwickeln und werden in diesem Prozess, der bei jedem Kinde auch zeitlich anders verläuft, nicht gestört.
Und das selbst in selektiven Systemen: Österreichische Freunde haben mir zum Beispiel berichtet, dass die Kinder dort nach der vierten Klasse zwar in zwei verschiedene weiterführende Schularten gehen, ein Wechsel aber jederzeit möglich ist – ebenso wie der höchste Bildungsabschluss! –, und dass die Schüler der Mittelschule weit mehr gefördert werden als die auf dem Gymnasium, damit möglichst alle hervorragend ausgebildet werden.
Einen weiteren bedeutsamen Unterschied gibt es bei den Prüfungen – sowohl von der Anzahl her, als auch von der Art und den Aufgaben. Am interessantesten ist wohl, dass in den anderen Ländern geprüft wird, ob die Kinder das können, was sie im Unterricht gelernt haben. Bei uns müssen in jeder Prüfung Aufgaben dreier Anforderungsstufen enthalten sein, wobei nur die unterste Stufe sich auf das Gelernte im Unterricht bezieht und die zwei weiteren Stufen Fähigkeiten und Leistungen darüber hinaus erwarten.
Ein solcher Prüfungsansatz wirkt sich natürlich auf den Umgang mit Defiziten aus. Bei Prüfungen, die sich ausschließlich auf das Gelernte beziehen, kann man Defizite gut feststellen und dann gezielt fördern. In Finnland zum Beispiel haben Kinder einen Rechtsanspruch darauf, binnen 14 Tagen Unterstützung zu erhalten, damit sie den Anschluss zu den anderen halten.
Deutschland dagegen folgt dem Ansatz der „Gaußschen Normalverteilung“, mit der die vorgebliche Verteilung der Intelligenz, aber auch die der Leistungsfähigkeit dargestellt werden soll: Man geht davon aus, dass es einen Anteil „dumme“ Kinder gibt, die selbst das, was ihnen beigebracht wird, nicht lernen werden und dann eben noch ein paar intelligente, die durch die hiesige Art der Prüfungsstruktur herausgefiltert werden sollen.
In vielen anderen Ländern kennt man diese „Gaußsche Kurve“, nicht einmal. Mein Eindruck ist, dass man dort das Kind sieht, jedes für sich, dass man es sich entwickeln lässt, es unterstützt und fördert, ohne es in eine Schublade pressen zu wollen. Man gibt mit, was geht, und wenn die Kinder groß geworden sind, entscheiden sie, wie es weitergeht und wohin sie sich orientieren möchten.
In Deutschland wird exzesshaft gemessen und beurteilt
Nur in Deutschland, so mein Eindruck, wird exzesshaft gemessen, beurteilt, verurteilt, in Schubladen gesteckt und werden Wege vorgegeben. Das ist es, was den Schulstress erzeugt, den Druck, was die Freude am Lernen nimmt und die Leichtigkeit.
Und genau das macht mich wütend! In Deutschland sind wir so privilegiert durch unsere Möglichkeiten – wir könnten den weltbesten Unterricht machen, jedes Kind individuell fördern und ihm das Beste ermöglichen, wir könnten mit Freude lernen und lehren…
Und was ist uns stattdessen wichtig? Nicht das einzelne Kind. Nein! Diese dämliche Kurve!
Zur Person
- Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unterrichtet in einer Grundschule im Großraum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fachunterricht in anderen Klassen, auch in der Mittelschule.
- Vor gut einem Jahrzehnt machte Sabine Czerny bundesweit Schlagzeilen: Weil ihre Schülerinnen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie strafversetzt.
- 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivilcourage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, ausgezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
- Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.