Expertenstimme

Schulschließung : Lernen im Krisenmodus

Drei Väter, die normalerweise Politikdidaktik lehren, müssen sich während der Schulschließung neuen Herausforderungen stellen. In ihrem Gastbeitrag für das Schulportal schreiben sie über ihre Erfahrungen der ersten zehn Tage mit dem Lehren und Lernen zu Hause von insgesamt sechs schulpflichtigen Kindern.

Rico Behrens, Stefan Breuer und Peter Birkenhauer
Junge sitzt in der Zeit der Schulschließung zu Hause am Tisch und lernt
Das Lernen zu Hause während der Zeit der Schulschließung ist für viele Familien eine große Herausforderung.
©Antti Aimo-Koivisto/Lehtikuva/dpa

Als uns vor zwei Wochen die Nachricht der bevorstehenden Schulschließung erreichte, mischte sich unter die Befürchtungen hinsichtlich der anstehenden Herausforderung auch Hoffnung. Hoffnung, die Krisensituation würde dem System Schule einen Schub geben, digitale und moderne Lernmethoden würden Einzug erhalten, das Primat des strengen Lehrplanbezugs sich zugunsten offener, anwendungsbezogener Aufgaben verschieben. Von unterschiedlichen Seiten wurden wir mit Lernplattformen, kostenlosen Verlagsangeboten, täglichen Maussendungen und Politikstunden überschüttet. Leider fehlt aktuell, man möchte es kaum glauben, häufig die Zeit, all diese Angebote mit den eigenen Kindern zu erforschen.

Unsere im Folgenden dargelegten Beobachtungen und Einschätzungen aus der Schulschließung basieren, neben Gesprächen mit Lehrkräften und Eltern, auf unseren eigenen Erfahrungen mit derzeit sechs schulpflichtigen Kindern, die staatliche und nichtstaatliche Grund- und Oberschulen besuchen. Wir zeigen hier eine Momentaufnahme, in der wir erste Rückschlüsse skizzieren, die der Doppelrolle als Väter und wissenschaftlich-pädagogisch Forschende entspringen. Wir wollen ausdrücklich weder Lehrerinnen und Lehrer beschimpfen, noch in den vielerorts erklingenden Abgesang auf die mangelnden Fähigkeiten digitaler Lehre des Schulsystems einstimmen.

Das so genannte Homeschooling hat nur wenig mit dem Heimunterricht vergangener Zeiten gemein.

Mit der zeitweisen Schulschließung in Deutschland hat der Hausunterricht Einzug in die Familien gehalten. „Homeschooling“ ist in aller Munde und hat doch nur wenig mit dem Heimunterricht vergangener Zeiten gemein. Eltern ersetzen jetzt den Hauslehrer in all seiner Aufgabenvielfalt, oder werden zumindest zu Hilfslehrerinnen und -lehrern, die die schulischen Aufgaben verwalten und strukturieren müssen. Vor dem Hintergrund bildungsnaher und -ferner Milieus entfaltet die ohnehin bestehende Bildungsungerechtigkeit im deutschen Schulsystem eine unheilvolle Wirkung, die sich in der aktuellen Situation noch verschärft.

Gemeinsam ist den vielen kleinen Hausschulen hingegen, die stark reduzierten sozialen und physischen Kontakte außerhalb der eigenen Familie. Der tägliche, direkte Austausch mit anderen Kindern, die Auseinandersetzung mit verschiedenen Typen von Lehrerinnen und Lehrern sowie der motivierende Moment des gemeinsamen Arbeitens sind während der Schulschließung ersatzlos gestrichen. Eingetauscht gegen die Enge der eigenen vier Wände, dem ständigen Kontakt mit Eltern und Geschwistern, verschärft sich diese Form der Isolation zusätzlich durch den vielerorts entstehenden ökonomischen Druck auf die Eltern.

Spektrum reicht von einfühlsamen Briefen bis zu Ankündigungen von Klausuren

Unsere Erfahrungen der ersten Zeit der Schulschließung sind unterschiedlich. Und ebenso verschieden ist auch der von uns beobachtete Umgang der Lehrkräfte mit der Situation. Das Spektrum reicht von einfühlsamen persönlichen Briefen und guten Wünschen an die Schülerinnen und Schüler bis zu schroffen ersten Mitteilungen, in denen angekündigt wird, dass Aufgaben bewertet werden und Klausuren und Tests in der ersten Nach-Corona-Woche folgen.

Die Aufgaben, die von den Lehrerinnen und Lehrern während der Schulschließung nach Hause übermittelt werden, unterscheiden sich von unstrukturierten Stapeln mit Kopiervorlagen, über klare Pläne bis hin zu sehr freien, individuell zugeschnittenen Aufgaben. Öffentliche Lernplattformen kommen genauso zur Anwendung, wie eigene Schul-Clouds oder einfache E-Mail-Anhänge.

Beginnen wir mit den hoffnungsvollen Erfahrungen: In mehreren Fällen haben die Lehrkräfte sich und den Kindern Zeit gegeben, in dieser herausfordernden Situation anzukommen und einen probaten Weg für die Gestaltung der Lernzeit zu Hause zu finden. Dementsprechend war eine erste Aufgabe zunächst das Verfassen eines kurzen Briefes, in dem die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit hatten, ihren Gefühlen und Erlebnissen in der aktuellen Situation Ausdruck zu verleihen. Einige Pädagoginnen und Pädagogen betonen auch ihr Bestreben, miteinander in Kontakt zu bleiben.

Viele Lehrkräfte halten in einem ersten Reflex an ihren Fachstrukturen und Stoffverteilungsplänen fest und delegieren dadurch automatisch die Wissensvermittlung an die Eltern.

Eine weitere wichtige Beobachtung betrifft die Gestaltung der gestellten Lernaufgaben. Neben den üblichen Arbeitsblättern für unterschiedliche Themenbereiche, gibt es vor allem projektorientierte Aufgabenstellungen, die zu Selbsttätigkeit animieren. So verlangt etwa eine Aufgabe, dass sich die Schülerinnen und Schüler in Wohnortnähe eine Pflanze aussuchen, sie zeichnerisch erfassen und ein Beobachtungsprotokoll darüber anlegen, wie sich die Pflanze im Zuge des Frühlings verändert.

Leider gibt es auch weniger positive Erfahrungen aus der bisherigen Zeit der Schulschließung. Gespräche – auch mit anderen Eltern – haben gezeigt, dass in einzelnen Fächern zwar Pläne entwickelt wurden, es aber kein gemeinsames Ziel gibt, wie man diese Zeit produktiv nutzen kann, ohne dass beispielsweise Schülerinnen und Schüler, die Lernschwierigkeiten haben, auf der Strecke bleiben. Viele Lehrkräfte halten in einem ersten Reflex an ihren Fachstrukturen und Stoffverteilungsplänen fest und delegieren dadurch automatisch die Wissensvermittlung an die Eltern. Sie müssen nun eine sehr engmaschige Betreuung, nebst viel Motivation und erklärender Aufbereitung leisten.

Schulschließung kann sich negativ auf die Eltern-Kind-Beziehung auswirken

Diese Form der Aufgabenbeschulung, führt zu einem erhöhten Stresslevel in vielen Haushalten. Kinder und vor allem Teenager erleben ihre Eltern hier immer häufiger als verlängerten Arm der Schule. Neben den alltäglichen Konflikten dieser sozialen Sondersituation, treten nun noch schulischer Druck, der von den Eltern überwacht und aufrechterhalten werden muss. Unmittelbar negative Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung können eine Folge sein. Uns dämmert schon, dass es bei „Motivation” in vielen Haushalten nicht bleiben wird, sondern auch der Weg zu „Sanktionen und Strafen” in dieser Vorgehensweise angelegt ist.

Die ersten Berührungspunkte der neuen Lernsituation für Schülerinnen und Schüler unter einen Abgabe- oder Benotungsdruck zu stellen oder gar für die erste Präsenzwoche nach der Schulschließung Kontroll- und Klausurtermine in Aussicht stellen, ist deplatziert.

Der Lernerfolg entscheidet sich nicht in wenigen Wochen des Ausnahmezustands.

Aus diesen Beobachtungen lassen sich einige Kernelemente zusammenfassen: Nicht die Frage, was Schülerinnen und Schüler in vier Wochen der Schulschließung oder gar bis zu den Sommerferien an Wissen und Kenntnissen „verpassen” könnten, sollte hier die Hauptrolle spielen, sondern die Frage, was in der gleichen Zeit im sozialen Gesamtsystem des Miteinander-Lebens-und-Lernens passiert. Von Abschlussklassen abgesehen, für die gesonderte Maßnahmen erforderlich sind, entscheidet sich der Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern nicht in wenigen Wochen eines Ausnahmezustandes. 

Eine Beschulungskultur, die das analoge Lernen lediglich in die Küchen und Wohnzimmer nach Hause verlegt und dabei vernachlässigt, dass Lernen immer auch ein sozialer Prozess ist, zeigt, dass unser Bildungssystem im Bereich der Digitalisierung, des intelligenten und differenzierten Lernens nicht nur nicht auf eine solche Situationen vorbereitet ist, sondern in der Fläche auch im normalen Schulbetrieb zu wenig mitgedacht wird.

Kinder und Jugendliche sind wenig gewohnt, selbstständig zu arbeiten

Abgesehen von einigen positiven Beispielen wird aus unserer Sicht deutlich, dass Kinder und Jugendliche es eben in der Präsensschulzeit auch wenig gewohnt sind, ihre Zeit selbstständig einzuteilen und Aufgaben selbstständig zu wählen sowie zu bearbeiten. Insofern führt die Schulschließung auch manch methodisches Defizit der Schülerinnen und Schüler vor Augen, wie etwa die Fähigkeit angemessen zu recherchieren, digitale Medien kritisch und sinnvoll einzusetzen oder mit jetzt vorgegebenen Plänen selbstverantwortlich zu arbeiten.

Wie wir anfangs betonten, geht es hier nicht darum, Lehrerinnen und Lehrer zu schelten. Wir befinden uns auch erst in der ersten Phase dieser Ausnahmesituation. Viele Familien mussten sich zunächst um grundlegende Dinge kümmern. Da ist es völlig normal, dass sich vieles erst einspielen muss. Doch um grobe Fehler zu vermeiden und Chancen zu nutzen, führen wir hier einige aus unserer Sicht fruchtbare Wege auf:

Bedeutungsebene der Schulschließung

Alle Beteiligten sollten die aktuelle, besondere soziale Situation mitbedenken und das System Schule in den Zusammenhang mit anderen systemischen Herausforderungen – zum Beispiel Erwerbsarbeit, Gesundheit, Pflege-und Fürsorge – stellen. Dazu gehört auch, im Blick zu behalten, dass es für manche Schülerinnen und Schüler zunächst darauf ankommt, sicherzustellen, dass sie überhaupt an digitalen Formaten partizipieren können. Hier geht es auch um basale Fragen, wie viele Computer in einem Haushalt, für wie viele Menschen und mit welcher Bandbreite zur Verfügung stehen.

Möglichkeiten der Schulschließung

Die Zeit des „Krisenschooling” sollte aus unserer Sicht dazu dienen, Anregungen zur Eigeninitiative zu geben – allerdings nicht mit der ständig wiederkehrenden Aufforderung: „Recherchiere!”. Sie sollte die Selbstkompetenz fördern, sich mit Gegenständen zu beschäftigen. Das alles bedeutet, sich viel stärker als bisher auf die individuellen Gegebenheiten des Lernens und die Bedürfnisse der Lernenden einzulassen. In dieser Weise stellen die Förderung der Freude am Lernen und an der Erschließung neuen Wissens wichtige Ziele für die Planungsprozesse dar. Kleine Forschungs- und Beobachtungsaufgaben sind hier gut geeignet. Es bedeutet auch, die Situation als Chance für neue Lernerfahrungen zu sehen und nutzen zu wollen, statt den Wissenserwerbsdruck in die Familien zu verlagern.

Prinzipien des Lernens zu Hause

Die sozialen Aspekte des Lernens müssen einbezogen werden. Wenn Dinge erarbeitet, Poster gestaltet, Interviews geführt werden, müssen die Ergebnisse irgendjemandem präsentiert werden, sonst fehlt ein entscheidender sozialer Aspekt des Bildungsprozesses. Dieses Erfordernis wird auch nicht durch das Abgeben von Aufgaben eingelöst. Hier sind tatsächlich digitale Formate vonnöten, in denen man anderen Lernenden selbst begegnet und einen Austausch ermöglicht. Eine solche punktuelle Vernetzung ist im Übrigen nicht zu verwechseln mit einer ständigen Präsenzpflicht in „virtuellen Klassenzimmern” analog zur bisherigen Unterrichtszeit.

Qualität der Arbeitsaufträge und Methoden

Aufgaben, die während der Schulschließung gestellt werden, sollten nicht als Abarbeitungsliste verteilt, sondern kontextualisiert werden. Hierfür bieten klassische Lehrbuch- und Arbeitsblatt-Aufgaben, die sonst im Klassenunterricht genutzt werden, nicht die optimalen Bedingungen. Stattdessen sind Aufgabentypen zu wählen, die handlungs- und schülerorientiert zugleich sind. Das bedeutet etwa produktives Gestalten, Kreativität und kognitive Problemlöseanstrengung sollten möglichst zusammenfallen und an den Fähigkeiten und Interessen der jeweiligen Zielgruppe ausgerichtet sein. Dabei sollten Anteile von Wahl- und Differenzierungsaspekten sowie Anregungen zur freiwilligen Beschäftigung enthalten sein. Darüber hinaus ist die Einbindung entsprechender Feedbacks und die Ermöglichung eines wechselseitigen Austauschs zu den Aufgaben und deren Bewältigung unbedingt mitzudenken.

Zur Person

Rico Behrens, Peter Birkenhauer und Stefan Breuer forschen und lehren im Bereich Politischer Bildung an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Technischen Universität Dresden.

Rico Behrens ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde an der Katholischen Universität Eichstätt. Zuvor hat er das Modellprojekt „Starke Lehrer – Starke Schüler” geleitet. Das Projekt wurde von 2015 bis 2018 auf Initiative der Robert Bosch Stiftung von der Technischen Universität Dresden umgesetzt.

Stefan Breuer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik der politischen Bildung der TU Dresden im Modellprojekt „Starke Lehrer – Starke Schüler“ und an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er forscht und lehrt unter anderem zu den Themen Rechtsextremismus und Schule, Engagement und Beteiligung von Jugendlichen, sowie zu demokratischer Bildung in pädagogischen Kontexten.

Peter Birkenhauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Didaktik der politischen Bildung der Technischen Universität Dresden. Neben der Tätigkeit als Dozent beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von kultureller und politischer Bildung in außerschulischen Kontexten. Er promoviert zum Thema „Politische Bildung in sozialwissenschaftlichen Ausstellungen“.