Sabine Czerny : Wie Kinder über sich selbst hinauswachsen
Kinder sind wie Pflanzen: Sie wollen wachsen, groß und stark werden. Dafür brauchen sie ein Umfeld und ein Klima, in dem sie gut gedeihen. Warum die Schule Kinder in ihrer gesunden Entwicklung nicht immer nur fördert und fordert, sondern oft auch hemmt und bremst, erklärt die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny in ihrer ersten Kolumne.

„Das sind keine Kinder, das sind Schüler!“ Diesen Satz bekam ich neulich zu hören, als ich mal wieder darlegen durfte, warum ich so unterrichte, wie ich es für richtig halte, und von „meinen Kindern“ sprach. Statt Verständnis folgte eine Belehrung: „Und Sie – Sie haben einen Sozialisationsauftrag. Sie geben Anweisungen, und die Schüler führen diese aus!“
Schüler – keine Kinder! Ist denen bewusst, was sie da sagen? Eine ganze Woche habe ich gebraucht, um das zu verdauen. Recht häufig bin ich auf Fortbildungen und Veranstaltungen zumThema Schule. Wie oft wird da nur noch über Leistung und deren Messung gesprochen. Und „von oben“ gibt es immer neue und schärfere Vorgaben und Forderungen, was Kinder erbringen müssen, leisten müssen: Referate hier, Portfolio da, Lapbook, Themenrolle, mündliche, praktische und schriftliche Leistungsnachweise … und das wöchentlich mehrfach. Über Kinder und Jugendliche wird gesprochen, als ob man über sie verfügen könnte. Als wenn es nur darum ginge, ihren Ertrag zu optimieren – so wie bei Pflanzen in einem Gewächshaus. Der Gedanke, Raum zu lassen dafür, was diese Kinder, diese Jugendlichen eigentlich möchten, scheint total abwegig. Die Frage danach, welchen Sinn und welche Aufgabe Schule im Kontext des Lebens eines Kindes hat und inwieweit das alles schon meilenweit entfernt ist davon – ist das etwa irrelevant?
Der Schultag ist ein Miteinander mit unterschiedlichen Aufgaben
Vor wenigen Wochen haben meine Kinder ihre Traumberufe vorgestellt. Und ja, ich sage ganz bewusst „meine“ Kinder, wenn ich von den Schulkindern in meiner Klasse spreche. Sie sind mir für zwei Jahre anvertraut. Mit durchaus professioneller Distanz, aber dennoch in Beziehung zu ihnen und von ganzem Herzen zugewandt gestalte ich gemeinsam mit ihnen ihren Schultag. Es ist ein Miteinander, mit unterschiedlichen Rollen und Aufgaben: einbringen, strukturieren, lehren, fordern und begegnen, lernen, üben, erstellen – in jedem Fall ein Miteinander-Lebenszeit-Verbringen-und-Gestalten. Ihre Traumberufe – was wollen sie nicht alles werden: Polizist, Krankenschwester, Schreiner, Tierärztin … Und was für ein Glänzen in den Augen! Und sie wissen sehr genau, was sie dafür gut können müssen: schnell sein, nett und hilfsbereit sein, gut messen können, alle Krankheiten kennen und, und, und. Sie sind mehr als bereit, das alles und noch viel mehr zu lernen.
Sich selbst bereichern macht Freude! Kein Gefühl ist großartiger und motivierender, als zu merken, dass man selbst fähiger geworden ist und etwas kann! Dass man sein Leben ergreifen und es leben und gestalten kann! Ist uns dieser Unterschied bewusst? Dieser Unterschied zwischen „müssen und immer wieder nur müssen“ einerseits und „selbst wollen, können und dürfen“ andererseits? Kinder wollen nicht immer nur „müssen“: leisten müssen, Ertrag bringen müssen, beweisen müssen, aushalten müssen … Zumindest nicht die ganze Zeit – und schon gar nicht, dann auch immer und immer wieder beurteilt zu werden und sowieso nichts wirklich recht machen zu können. Unsere Schulen fordern immer nur, sie motivieren nicht. Wer nicht alle anderen immer und immer wieder übertrifft, wird abgeurteilt.
Individuelle Zuwendung ist wichtig
Kinder wollen lernen, Jugendliche wollen lernen. Sobald sie spüren, es geht um sie, sie gewinnen etwas, bekommen etwas für sich, sie bereichern sich, sind sie dabei. Wenn sie merken, es geht ihren Mitmenschen darum – um das Bild mit den Pflanzen aufzugreifen –, eine gesunde, große, starke Pflanze zu werden, eigenständig und frei, der es gut geht, die in der Sonne stehen und auf fruchtbarem Boden gedeihen darf, versorgt wird mit Wasser und in schönem Miteinander leben darf mit den anderen Pflanzen, wachsen sie über sich hinaus. Aber in einem tristen Gewächshaus auf Styropor zu stehen und mit Nährlösungen angereichert zu werden, ausgerichtet an einem Stab, um möglichst dicke Früchte zu tragen, das geht auf Kosten ihrer Substanz, der Stängel dünn, die Blätter welk. Sie wollen sich nicht aussaugen lassen, ihre Lebenszeit mit diesen oder jenen Arbeiten verbringen, weil es eben so sein muss. Sich beurteilen und kritisieren zu lassen, um bewertet und verglichen zu werden … da streiken immer mehr.
Ich kann es verstehen. Ich möchte das auch nicht. Und es ist auch schwer genug für mich, das von mir abzuschütteln, denn mir als Lehrerin geht es ja zunehmend nicht anders. „Sie müssen dies und das und jenes auch noch“, heißt es so oft. Und bitte alles in immer noch kürzerer Zeit – und immer mehr – und auf diese Art und Weise und nicht anders! Wo bleibe ich als Mensch? „Sie sind Lehrerin“, hieß es da, „und nicht als Mensch in der Schule.“
Zur Person
- Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unterrichtet in einer Grundschule im Großraum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fachunterricht in anderen Klassen, auch in der Mittelschule.
- Vor gut einem Jahrzehnt machte Sabine Czerny bundesweit Schlagzeilen: Weil ihre Schülerinnen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie strafversetzt.
- 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivilcourage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, ausgezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
- Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.