Kolumne

Mehrarbeit : Warum sich Lehrkräfte in Bayern so aufregen

Im Januar überraschte das bayerische Kultusministerium die Lehrkräfte mit der Ankündigung von Maßnahmen gegen den Lehrermangel. Darunter unter anderem eine erhöhte Stundenanzahl für Lehrkräfte an Grundschulen und ein späteres Eintrittsalter in den Vorruhestand. Sabine Czerny, Grundschullehrerin in Bayern, ist über diese Ansagen empört. In ihrer Kolumne beschreibt sie, warum sie diese Maßnahmen für kontraproduktiv hält, und schlägt stattdessen andere Wege vor.

Sabine Czerny
Die Anforderungen an Lehrkräfte hätten sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten – ganz besonders in den letzten Jahren – noch mal massiv verändert, schreibt Sabine Czerny.
©dpa

Was für eine Nachricht zum Schulbeginn im neuen Jahr! Vorbei an allen Lehrerverbänden und der Gewerkschaft veröffentlichte das bayerische Kultusministerium seine fixfertigen Maßnahmen, um dem akuten Lehrermangel zu begegnen: Mehrarbeit, starke Einschränkungen in Sachen Teilzeit und ein späteres Eintrittsalter in den Vorruhestand.

„Eine Unterrichtstunde mehr.“ Das klingt für viele Außenstehende harmlos – sind doch nur 45 Minuten! Auch die anderen Maßnahmen scheinen ja lediglich Rücknahmen von außergewöhnlichen Privilegien. So ist es für viele Unbeteiligte nicht nachvollziehbar, warum sich die betroffenen Lehrkräfte über diesen Maßnahmenkatalog so aufregen – oder schlichtweg daran verzweifeln.

Ich sehe ein großes Problem darin, dass kaum jemand in der Gesellschaft und noch weniger in den Ministerien wahrnimmt und anerkennen möchte, was die Arbeit gerade in Grundschulen den Lehrkräften wirklich abverlangt.

Man mag anderes vermuten, aber die Gedanken der Lehrerinnen und Lehrer – zumindest um mich herum – gelten den Kindern. „Ich kann nicht mehr jedem Kind gerecht werden!“ Das ist es, was der Verzweiflung zu Grunde liegt. Ich sehe ein großes Problem darin, dass kaum jemand in der Gesellschaft und noch weniger in den Ministerien wahrnimmt und anerkennen möchte, was die Arbeit gerade in Grundschulen den Lehrkräften wirklich abverlangt.

Lehrkräfte arbeiten üblicherweise mehr Stunden, als sie bezahlt bekommen

Es geht schon lange nicht mehr um die Zeit, die Lehrer aufwenden müssen. Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, dass Lehrerinnen und Lehrer – ferienbereinigt! – weit weit mehr Stunden arbeiten, als sie bezahlt bekommen. Das Institut für Interdisziplinäre Schulforschung (ISF) in Bremen hat sogar aufgezeigt, dass die Aufgaben von Lehrkräften rein zeitlich gar nicht mehr zu schaffen sind – auch wenn das in der Öffentlichkeit nach wie vor kaum angekommen ist und gerade Grundschullehrer sich nach wie vor anhören, dass sie ja nur mit den Kindern spielen und mittags frei haben.

Was aber völlig übersehen und auch selten thematisiert wird, ist, dass die Arbeit an der Schule – unabhängig vom zeitlichen Einsatz – auch rein kräftemäßig gar nicht mehr zu schaffen ist. Lehrer und Lehrerinnen sind kräftemäßig  schon seit Langem über dem Limit, wenn sie sich denn überhaupt noch den Anspruch an sich selbst und ihre Gesundheit erlauben, Ihre Aufgaben erfüllen und jedem Kind einigermaßen gerecht werden zu wollen.

Viele unterrichten seit Jahren notgedrungen Teilzeit, damit die zur Verfügung stehende Energie ausreicht und die über den Unterricht hinaus anstehenden Aufgaben und Arbeiten in der verbleibenden Tageszeit überhaupt ansatzweise noch zu schaffen sind. Dass auch das oft nicht reicht, zeigen die Zahlen zum Krankenstand bei Lehrkräften und zu den vielen Kolleginnen und Kollegen, die früher in den Ruhestand gehen und damit auf viel Geld verzichten.

Anforderungen an den Lehrerberuf haben sich massiv verändert

Die Anforderungen an Lehrkräfte sind seit Langem extrem und haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten – ganz besonders in den letzten Jahren – noch mal massiv verändert: Zu bewältigen sind Inklusion, Ganztag, die Arbeit mit Flüchtlings- und Migrationskindern, veränderte Lebensbedingungen der Kinder mit oft wenig Beziehung, stark veränderte pädagogische und didaktische Ausrichtungen unserer Schulen und vieles mehr. All das bringt einen deutlich erhöhten Personalbedarf mit sich – immer mehr Kinder benötigen stark variierende individuelle Begegnung und Begleitung.

Jeder Arzt hat zu einem bestimmten Zeitpunkt einen einzigen Patienten, jeder Rechtsanwalt einen einzigen Klienten – und dazu Assistentinnen und Assistenten, die ihnen die Arbeit drum herum abnehmen. Lehrkräfte haben bis zu 27 Kinder in einer Klasse, unterrichten zudem häufig mehrere Klassen und Lerngruppen, und die Gesellschaft und der Arbeitgeber erheben dennoch wie selbstverständlich den Anspruch, dass die Lehrkraft sich um jedes einzelne Kind kümmern soll, sich dessen möglicherweise vielfältiger Probleme annehmen soll (die mittlerweile nahezu jedes einzelne Kind mit sich bringt!), mit ihm in Beziehung gehen soll und sowohl individuellen Bedürfnissen als auch stark divergierenden Lernvoraussetzungen und Lernständen gerecht werden soll. Und „natürlich“ soll die Lehrkraft dem Aufmerksamkeitsbedürfnis, das jedes einzelne Kind, oft unkontrolliert und impulsgesteuert, zigfach am Tag einfordert, nachkommen und die immer häufiger nicht vorhandene Lernbereitschaft erzeugen. Dies alles bitte gleichzeitig für alle – als einzelne Person, mit verhältnismäßig wenig Zeit, einem irren Lehrplan sowie einer erdrückenden Zahl abzuhaltender Prüfungen.

Und dies alles immer öfter mit Eltern, die zahlreiche Forderungen stellen, aber sich selbst teils nicht mal um die grundlegendsten Dinge kümmern (dass beispielsweise Elternbriefe zurückgegeben werden oder Kinder mit den notwendigen Unterrichtsmaterialien ausgestattet werden). Und die sich mitunter auch schon zuvor, in den ersten Lebensjahren ihres Nachwuchses, so wenig um ihre Kinder gekümmert haben, dass die häufig bereits mit stark defizitärer struktureller Alltagskompetenz in die Schule eintreten und oft nicht mal mehr über die notwendigsten Grunderfahrungen und Selbststeuerung verfügen, um dem Anfangsunterricht zu folgen oder selbstständig tätig zu werden.

Nicht von ungefähr werden in vielen Schulen inzwischen Eltern notgedrungen als Lesehelfer oder Lernassistenten  angefragt, um zumindest Grundlegendes bei jedem Kind noch einigermaßen gewährleisten zu können.

Und all das soll ein einzelner Lehrer, eine einzelne Lehrerin ohne irgendeine offizielle oder nennenswerte Unterstützung schaffen! Nicht von ungefähr werden in vielen Schulen inzwischen Eltern notgedrungen als Lesehelfer oder Lernassistenten  angefragt, um zumindest Grundlegendes bei jedem Kind noch einigermaßen gewährleisten zu können.

Das Ganze funktionierte in den vergangenen Jahren trotzdem so einigermaßen, weil den meisten Lehrkräften ihre Schulkinder am Herzen liegen und sie ihnen reichlich Zeit und Energie widmen – weit über das Maß hinaus, für das sie bezahlt werden. Es ist ihnen bewusst, welch besondere Bedeutung sie für das Leben dieser Kinder haben, und von daher können sie es kaum vor sich selbst verantworten, nicht alles für diese Kinder zu tun, was irgend möglich ist.

Es wäre dringend nötig, die Unterrichtsverpflichtung herabzusetzen

Wie Hohn klingt es dann, wenn alles nun so dargestellt wird, als gehe es um einen kurzfristigen Engpass, der überbrückt werden müsse – und all das sei nicht vorhersehbar gewesen. Den  Personalbedarf an Grundschulen gibt es bereits seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten, und man hätte ihn erkennen können, wenn man wahrgenommen hätte, was Kinder tatsächlich brauchen, statt lediglich rechnerisch jeder Klasse eine Lehrkraft zuzuordnen. An allen Ecken und Enden fehlen in der Klasse Zweitkräfte, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, sich individuell mit einem Kind auch mal kurz allein zu beschäftigen; und es wäre dringend geboten, die Unterrichtsverpflichtung auf 20 Stunden herabzusetzen und ausreichend für Krankheitsvertretungen zu sorgen.

Statt aber dem Personalbedarf Sorge zu tragen, wurden fertig ausgebildete Junglehrer jahrelang auf Wartelisten verfrachtet und gezwungen, sich umzuorientieren oder unter unwürdigen Umständen Kurzzeitverträge anzunehmen. Hätte man nicht schon jahrelang nur ein Minimum an Personal eingestellt, könnte man jetzt kurzfristig auf gut ausgebildete Zweitkräfte zurückgreifen und den Engpass überbrücken.

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt

Angesichts der geringen Wertschätzung, die Grundschullehrkräfte für ihren Einsatz erfahren, und der Erfahrung, mit dieser Vielfalt von Aufgaben allein gelassen zu werden, sowie der an sie gerichteten Erwartung, ihre Arbeit mit altruistischer Hingabe, wenn nicht gar Aufopferung zu tun, ist in letzter Zeit zunehmend spürbar, dass viele Lehrerinnen und Lehrer immer weniger bereit sind, sich selbst und ihre Gesundheit zu opfern. Viele können auch einfach nicht mehr und finden sich damit ab, nicht  genügen zu  können. Teilweise ist die Tagesenergie einfach nach wenigen Stunden dieser intensiven Arbeit aufgebraucht. Und da ist dieser Maßnahmenkatalog des Bayerischen Kultusministeriums einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Die jetzt angekündigten Maßnahmen für die nicht wegzudiskutierende Not sind völlig falsch, denn sie zeigen überdeutlich, dass eben nicht einmal im Ansatz die tatsächliche Arbeit von Grundschullehrern gesehen wird. Das untergräbt Moral und Motivation. Zudem gilt: Wer erschöpft ist, ist erschöpft und kann einfach nicht mehr. Das kann nicht gut gehen.

Jede Lehrkraft sollte eine Zweitkraft zur Seite bekommen

Was man jetzt tun müsste? Es braucht dringend Maßnahmen, die den derzeitigen und zukünftigen Grundschullehrkräften zeigen, dass man endlich die Dimensionen ihrer Aufgaben wahrnimmt – und die extremen Anforderungen, denen die Lehrkräfte ausgesetzt sind.

Die Gehaltsgruppe A13 sollte selbstverständlich sein. Jetzt notwendige Mehrarbeit muss freiwillig sein und müsste unbedingt sofort finanziell ausgeglichen und darüber hinaus höher vergütet werden.

Das sollte auf mehreren Ebenen erfolgen. Einerseits zeigt sich Wertschätzung in unserer Gesellschaft eben monetär. Das heißt: Die Gehaltsgruppe A13 sollte selbstverständlich sein. Jetzt notwendige Mehrarbeit muss freiwillig sein und müsste unbedingt sofort finanziell ausgeglichen und darüber hinaus höher vergütet werden.

Insbesondere benötigt es aber dringend auch personelle Unterstützung für jede Lehrkraft. Es müssten umgehend gegebenenfalls auch nicht-pädagogisch ausgebildete Zweitkräfte eingestellt werden, die in der Klasse auf Anweisung des Lehrers unterstützen und die vielen Situationen auffangen, in der sich ein Lehrer zweiteilen müsste. Solch eine Zweitkraft sollte zudem folgende Aufgaben übernehmen: organisatorische und bürokratische Aufgaben – wie Schriftverkehr, Korrekturen, Ablage, Kopieren, den Einkauf und das Herstellen von Unterrichtsmaterialien, Recherche und Vorbereitung diverser Veranstaltungen, Projektthemen, Ausflüge, den Entwurf von Probearbeiten und deren Auswertung, die Planung und Protokollierung von Gesprächen und Schülerbeobachtungen, die Sichtung, Instandhaltung und Pflege digitaler und analoger Medien, die Klassenzimmergestaltung und Schulhaus-Dekoration und all die anderen „Nebenher-Aufgaben“.

Dann könnten sich Lehrkräfte wieder auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren und hätten auch genug Kraft für die kindgerechte und vielseitige Gestaltung eines Schultags, das professionelle Unterrichten und Gestalten einer Lernumgebung, die soziale, erzieherische, pädagogische und psychologische Arbeit mit jedem einzelnen Kind und der Gruppe und die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Eltern.

Unter diesen Umständen würde sich womöglich auch mancher Lehrer, manche Lehrerin zu freiwilliger Mehrarbeit bereiterklären, und manch ein Pensionär, eine Pensionärin oder eine Lehrkraft in Elternzeit beziehungsweise familienpolitischer Beurlaubung würde, bei selbstgewählter Stundenzahl, in die Schule zurückkehren. Das wäre wichtig, denn letztlich fehlen zwar, rechnerisch, Stunden – aber tatsächlich eben „Köpfe“, die man durch die angeordneten Maßnahmen nicht bekommt.

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­schule im Groß­raum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fach­unter­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundesweit Schlag­zeilen: Weil ihre Schüler­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für das Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.