Kolumne

Lernen zu Hause : „Innerhalb kürzester Zeit verwilderten wir“

Am Anfang der Corona-Krise war es schlimm. Als Schulportal-Kolumnistin Sandra Garbers ihrem Sohn klarmachen musste, dass es so etwas wie Schule jetzt auch zu Hause gibt, war das für den Erstklässler ein Schock. Doch während der Schulschließung hat sich die Familie im Ausnahmezustand eingerichtet. Sie hat zu einer gewissen Lässigkeit gefunden und Unerwartetes entdeckt. Jetzt freut sie sich darüber, dass die Grundschulen wieder für alle Kinder öffnen und damit ein Stück Normalität zurückkehrt – auch wenn sich das ein bisschen wie ein Abschied anfühlt.

Sandra Garbers
Kinder hüpfen auf Sofa
Am besten lässt es sich als Familie während der Corona-Krise aushalten, wenn man der Situation mit einer gewissen Lässigkeit begegnet und als Eltern nicht zu Superpädagogen wird.
©AdobeStock

„Oh Gott, fünf Wochen ohne Schule“, haben wir am Anfang sorgenvoll gesagt. In einem Tonfall, als würden fünf Wochen ohne Wasser, Brot und Crémant vor uns liegen. Wir waren noch so optimistisch und dachten, dass man den Alltag unmöglich länger als fünf Wochen aussperren könne. „Ist doch nicht so schlimm“, versuchte der Siebenjährige uns zu beruhigen. „Viel, viel schlimmer wären doch fünf Wochen MIT Schule.“

Der Anfang, also quasi meine Referendariatszeit, war, ich kann es nicht anders sagen, brutal. Einem Erstklässler, der ohnehin mit der Schule hadert, klarzumachen, dass wir so etwas jetzt auch zu Hause haben, nur ohne all die tollen Sachen wie Schulpausen, Schulfreunden und weltbester Klassenlehrerin, hätte ein Superpädagoge eventuell auch ohne Erpressungsversuche hinbekommen. Aber ich bin kein Superpädagoge. Also probierte ich es auf bewährte Weise: „Wenn du jetzt nicht endlich, endlich mit deinen Aufgaben anfängst, wirst du wohl nie wieder fernsehen dürfen …“ Immerhin arbeitete die Viertklässlerin emsig vor sich hin wie die Anwältin einer Großkanzlei: „Ich habe alle Matheaufgaben für die Woche schon fertig, kann ich jetzt aufs Trampolin?“ Das war montags.

Die Schulkleidung bestand plötzlich aus einem Pyjama, der eigentlich nur gewechselt wurde, wenn die Marmeladeflecken darauf zu groß geworden waren.

Währenddessen kämpfte ich mit dem Siebenjährigen ums Lesen. „Ich hasse die Bibel! Und jetzt soll ich auch noch Seite 115 lesen …“ Ich: „Ist die Seite 115 denn so schlimm?“ Er: „Jede Seite in der Bibel ist schlimm!“ Ich: „Kannst du euer Lesebuch bitte trotzdem Fibel nennen?“ Und wir kämpften ums Rechnen: „Ich möchte aber viel lieber mit Oktillionen rechnen. Der 20er-Raum ist so blöd.“

Innerhalb kürzester Zeit verwilderten wir. Nicht nur wegen der Haare, die der Siebenjährige sich eines vormittags mit der Bastelschere stutzte, als ich gerade mit dem Mittagessen beschäftigt war. Die Schulkleidung bestand plötzlich aus einem Pyjama, der eigentlich nur gewechselt wurde, wenn die Marmeladeflecken darauf zu groß geworden waren. Die Schlafenszeiten verschoben sich täglich eine Stunde weiter westlich. Mittlerweile näherten wir uns der Zeitzone von Neufundland. Die Neunjährige las alle Harry-Potter-Bücher in zwei Wochen. Die einzigen Konstanten des Tages: Frühstück, Zähneputzen, Schularbeiten, Mittag, Spielen, Abendessen, Zähneputzen. Alles andere war Freestyle.

Nun hatten wir auch noch Montessori-Elemente in unser Homeschooling-Programm eingebaut.

Ich weiß nicht, ob es an meinem Essen lag, jedenfalls fingen die Kinder plötzlich an, zu kochen. Sie wälzten Kochbücher, schrieben Einkaufslisten, und dann verwüsteten sie die Küche mit selbst gemachter Pizza, Karottensuppe, Kartoffelküchlein, Reispfanne, Brötchen und Brot, Kuchen und Keksen. Der Erstklässler begann mit großem Eifer, Kochrezepte auszurechnen. „Wenn ich für zwei Personen 250 Gramm Mehl brauche, sind es für vier Personen doch 500, oder?“ Ich war begeistert. Nun hatten wir auch noch Montessori-Elemente in unser Homeschooling-Programm eingebaut.

Als eher beunruhigend nahm ich dagegen den hauseigenen Sachkundeunterricht wahr. Siebenjähriger: „Mama, können wir nicht mal eine Flasche Propangas in die Mikrowelle stellen und ein Stück Alufolie als Zünder dazutun?“ Ich: „Ganz sicher nicht!“ Er: „Aber das explodiert nur ein ganz bisschen. Wirklich!“ Kurz darauf fand ich im Kinderzimmer unter einem Kissen ein fest verschlossenes Plastikröhrchen mit einer trüben, blauen Flüssigkeit, in der seltsame Dinge schwebten. „Was ist das?“, fragte ich die Neunjährige. „Das? Ach, das sind wohl abgeschnittene Fingernägel. Das Blaue ist Badezusatz. Und das Größere ein toter Käfer, den – rate mal, wer – durchgeschnitten hat. Er wollte sehen, ob sich das auflöst.“ Ach so. Na dann.

Die Lehrer gaben sich alle Mühe, den Kontakt zu den Kindern zu halten. Mit selbstgedrehten Videos und frechem Bauchsprechraben wurden neue Buchstaben eingeführt.

Die Lehrer gaben sich alle Mühe, den Kontakt zu den Kindern zu halten. Mit selbst gedrehten Videos und frechem Bauchsprechraben wurden neue Buchstaben eingeführt. Und in regelmäßigen kleinen Videokonferenzen wurden vor allem Schülerseelen gestreichelt. Die Kinder lernten mit Sofatutor („Voll langweilig!“) und Anton („Super! Vor allem die Spiele!“) Grammatik oder Mathe. Das Erstaunliche war: Je mehr wir zusammenrücken mussten, umso selbstständiger wurden die Kinder. Und umso virtuoser gingen sie mit Tablet und Computer um.

Wir warfen unsere gesamten Grundsätze über Bord: eine halbe Stunde am Tag vorm Bildschirm, keine blöden Computerspiele, nur Lern-Apps. Alles vergessen. Für die Kinder war es ein großer Spaß. Für uns Homeoffice-Eltern dagegen war es die große Freiheit, die wir uns mit Downloads in den App-Stores erkauften. Wir waren ja sicher: Hinterher bekommt man die Kinder wieder eingefangen. Ganz bestimmt. Dann spielen sie wieder Geige und Blockflöte.

Wir sahen Corona als Bedrohung und die Auswirkungen auf unsere Familie als Geschenk.

Wir führten abends gemütliche Lesestunden mit der ganzen Familie ein. Einer liest vor, alle anderen lümmeln sich in ihren Pyjamas auf dem Sofa. Wir begannen die neue Lässigkeit zu genießen, die Entschleunigung ohne Termine, ohne Tennis und Reiten, Chor oder Blockflötenunterricht. Einschlafen, wann wir wollen, aufstehen, wann wir wollen, lernen, wann wir wollen. Wir haderten nicht mehr mit der Situation, sondern freuten uns, den Kindern so nah zu sein wie zuletzt in der Kitazeit. Wir sahen Corona als Bedrohung und die Auswirkungen auf unsere Familie als Geschenk. Wir konnten das ewige Eltern-Lamento – sie werden so schnell groß, genießt die Zeit – stoppen. Nun hatten wir genau diese Zeit. Noch einmal kurz als Zugabe. Die Neunjährige, die beim Verfassen dieses Textes neben mir sitzt, sagt: „Nein, es ist wieder wie die Babyzeit. Nur dass wir dieses Mal sprechen können.“ (Ob das ein Vorteil ist, mag jeder selbst entscheiden.)

Zum ersten Mal seit der Einschulung freute sich sogar der Siebenjährige auf den Unterricht.

Natürlich machen wir uns, wie vermutlich alle Eltern, Sorgen, ob die Kinder den verpassten Stoff jemals wieder aufholen können. Und all den Stoff, den sie noch verpassen werden. Und wie froh wir doch waren, als endlich wieder die Schule öffnete und die Kinder zumindest für zwei Tage die Woche ein paar Stunden in die Normalität mit den neuen Abstandsregeln zurückkehren konnten. Und wir Erwachsenen auch. Zum ersten Mal seit der Einschulung freute sich sogar der Siebenjährige auf den Unterricht. Die fehlende Nähe holen wir zu Hause nach.

Vielleicht haben die Kinder nicht viel gelernt in den vergangenen Wochen. Jedenfalls nicht, wenn man den Lehrplan als Maß der Dinge betrachtet. Aber dafür haben sie etwas anderes gelernt: Die Welt kann von einem Tag auf den anderen plötzlich auf dem Kopf stehen. Ohne Vorwarnung und ohne Sicherheitsnetz. Irgendwie geht es weiter. Und wie genau es weitergeht, liegt auch ein ganz kleines bisschen in unserer Hand.

Zur Person

  • Sandra Garbers ist freie Autorin und lebt mit Mann, zwei Kindern, Hund und Katze in Berlin.
  • Ihre Tochter geht in die vierte, ihr Sohn in die erste Klasse.
  • Für die Tageszeitungen „Berliner Morgenpost“ und „Hamburger Abendblatt“ schrieb sie die Kolumne „Mamas & Papas“.
  • Nun blickt sie für das Schulportal aus Elternperspektive auf den Schulalltag.