Expertenstimme

Geschlechtsunterschiede : Lernen Mädchen und Jungen unterschiedlich?

Mädchen erzielen bessere Noten als Jungen, sie schätzen sich aber weniger gut ein als Jungen. Im sprachlichen Bereich hängen sie ihre männlichen Mitschüler ab, die wiederum sind in den MINT-Fächern in vielen Studien überlegen. Wie diese Unterschiede begründet sind und wie Lehrkräfte damit umgehen können, erläutert Bettina Hannover. Die Psychologin ist Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung an der Freien Universität Berlin.

Bettina Hannover
Junge Mädchen im Klassenraum
Mädchen und Jungen haben ein unterschiedliches Lernverhalten. Für Lehrkräfte ist es eine Herausforderung, Stereotypen entgegenzuwirken.
©Patrick Pleul/dpa

Egal, ob Mädchen oder Junge – die Gesetze des Lernens sind universell: Wir lernen durch Konditionierung, am Modell und durch Verstehen und Speichern neuer Information. Gleichwohl unterscheiden sich die Ergebnisse schulischen Lernens zwischen den Geschlechtern:

  • In standardisierten Testverfahren zeigen Mädchen im sprachlichen Bereich höhere Kompetenzen als Jungen, die wiederum den Mädchen – wenn auch nicht in allen Studien – in den MINT-Fächern überlegen sind.
  • Gemessen an ihren tatsächlichen Kompetenzen schätzen Mädchen sich selbst als weniger gut ein als Jungen. Diese Diskrepanz ist in den MINT-Fächern besonders deutlich.
  • Haben sie die Wahl – zum Beispiel bei Leistungskursen –, entscheiden sich Mädchen wahrscheinlicher für sprachliche und Jungen eher für MINT-Domänen.
  • Mädchen bekommen bessere Noten als Jungen, auch gemessen an ihren tatsächlichen Kompetenzen. Das ist der Grund dafür, dass sie an niedrigen Schulformen unter- und an höheren überrepräsentiert sind und höhere Bildungszertifikate erlangen.

Diese Unterschiede zeigen sich, obwohl Mädchen und Jungen im Mittel gleich intelligent sind. Sind sie also möglicherweise dadurch zu erklären, dass sich die Geschlechter in ihrem Lernverhalten unterscheiden? Empirisch besonders gut belegte Geschlechtsunterschiede sind die folgenden.

Geschlechtsunterschiede in der Nutzung von Lerngelegenheiten: In sozialen Interaktionen erwerben Kinder Geschlechtsstereotype, das heißt Vorstellungen, wie männliche und weibliche Personen – angeblich – sind oder sein sollten. Kinder wollen diesen Stereotypen entsprechen: Besonders im Vor- und Grundschulalter beschäftigen sie sich bevorzugt mit Dingen, von denen sie glauben, sie „passten“ zu ihrem Geschlecht. Damit ist die Grundlage gelegt für geschlechtsabhängige Selbsteinschätzungen und Präferenzen in der Schule, die dann zu Geschlechtsunterschieden in Kompetenzen führen.

Geschlechtsunterschiede in der Selbststeuerung: Mädchen handeln früher und wahrscheinlicher selbstgesteuert als Jungen. Selbststeuerung bedeutet, dass die betreffende Person sich eigene Ziele setzt (zum Beispiel: „Ich will eine gute Note schreiben“), Pläne zur Zielerreichung entwickelt („Ich lerne täglich bis zur Prüfung eine halbe Stunde“) und auf der Grundlage einer Selbstbeobachtung die Zielannäherung überwacht („Ich lasse mich abfragen, um gezielt nachzuarbeiten“).

Lernende müssen ermuntert werden, auch Interessen und Aktivitäten nachzugehen, die nicht ,typisch für ihr Geschlecht‘ sind.

Ein Mangel an Selbststeuerung geht nicht nur mit schlechten Schulnoten einher, sondern wird auch für aggressives Problemverhalten verantwortlich gemacht, das bei Jungen häufiger beobachtet wird als bei Mädchen: Hier wird ein Ärger-Impuls spontan in Verhalten übersetzt, ohne eigene Ziele und mögliche Konsequenzen abzuwägen. Die geringere Selbststeuerungskompetenz der Jungen kann also erklären, warum Mädchen bessere Noten bekommen und häufiger auf höhere Schulformen empfohlen werden, auf denen nicht nur selbstgesteuertes Lernen, sondern auch angepasstes Sozialverhalten erwartet wird.

Was können Lehrkräfte und Schulleitungen tun?

Eine Schule, in der Mädchen und Jungen uneingeschränkt von Geschlechtsstereotypen ihre individuellen Kompetenzen entwickeln können, erfordert Lehrkräfte und eine Leitung, die wissenschaftliche Erkenntnisse zu Geschlechtsunterschieden in ihrem beruflichen Handeln berücksichtigen: Sie wissen, dass Geschlechtsunterschiede maßgeblich durch Geschlechtsstereotype erzeugt werden und dass Lernende ermuntert werden müssen, auch Interessen und Aktivitäten nachzugehen, die nicht „typisch für ihr Geschlecht“ sind.

Dafür kann auch das zeitweise Unterrichten in monoedukativen Gruppen sinnvoll sein, wie zum Beispiel im naturwissenschaftlichen Anfangsunterricht oder im Sport. Erfahrungen zeigen, dass Selbsteinschätzungen in Bezug auf Fachdomänen oder Aktivitäten, die in den Augen der Schülerinnen und Schüler „nicht zu ihrem Geschlecht passen“, gestärkt werden, wenn Defizite im Vorwissen oder geringere Vorerfahrungen in getrenntgeschlechtlichen Gruppen kompensiert werden können, bevor gemeinsam weitergelernt wird.

Lehrkräfte sind wichtige Modellpersonen

Geschlechtersensibel arbeitende Lehrkräfte und Schulleitungen befragen auch kritisch sich selbst, ob sie unterschiedliche Erwartungen gegenüber Mädchen und Jungen haben. Sie sind sich darüber im Klaren, dass sie selbst wichtige Modellpersonen sind, die durch ihr eigenes Verhalten entweder Geschlechtsstereotype bestätigen oder aber zeigen, dass man auch in für das eigene Geschlecht untypischen Domänen kompetent und sozial akzeptiert handeln kann.

Gerade besonders gute Schulen wollen einen Unterricht anbieten, in dem intrinsische Formen von Motivation durch die Zurücknahme von Fremdsteuerung durch die Lehrkraft gefördert werden. Didaktische Entscheidungen, wie viel Fremdsteuerung erforderlich ist, sollten jedoch davon abhängig gemacht werden, wie stark die Selbststeuerungskompetenz des oder der jeweiligen Lernenden bereits entwickelt ist.

Eine realistische Selbsteinschätzung unterstützt das Lernen

Eine Voraussetzung für selbstgesteuertes Lernen ist eine realistische Selbsteinschätzung, die durch individuelles, kontinuierliches und auf den Lernprozess – statt auf das Lernergebnis – bezogenes Feedback der Lehrkraft gefördert werden sollte. Möglicherweise profitieren Mädchen von ihrer bescheideneren Selbsteinschätzung, die zum Beispiel erklären kann, warum sie mehr Zeit mit Hausaufgaben verbringen als Jungen.

Eine weitere Form der Stützung selbstgesteuerten Lernens stellt ein Lerntagebuch dar, dessen Verwendung von der Lehrkraft begleitet werden sollte. Und schließlich sollten Lehrkräfte auch in Lernarrangements, die von Schülerinnen und Schülern gesteuert werden, selbst Steuerungsfunktionen übernehmen, zum Beispiel indem sie Gruppenarbeitsprozesse vorstrukturieren oder explizit Aufgaben zu den verschiedenen Phasen der Selbststeuerung formulieren. Lernende mit noch geringen Selbststeuerungskompetenzen können von solchen Maßnahmen nicht nur beim Erwerb fachlicher, sondern auch sozialer Kompetenzen profitieren.

Mehr zum Thema

  • Hannover, B. & Kessels, U. (2011). „Sind Jungen die neuen Bildungsverlierer? Empirische Evidenz für Geschlechterdisparitäten zuungunsten von Jungen und Erklärungsansätze“, in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 25, S. 89–103.
  • Hannover, B. & Wolter, I. (2019). „Geschlechtsstereotype: wie sie entstehen und sich auswirken“ , in B. Kortendiek, B. Riegraf & K. Sabisch (Hrsg.), „Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung“, (S. 201–210). Springer VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Ophardt, D. & Thiel, F. (2013). „Klassenmanagement“, Kohlhammer Verlag.

Zur Person

  • Bettina Hannover ist Diplom-Psychologin und Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung an der Freien Universität Berlin.
  • Sie war viele Jahre Mitglied der Hauptjury des Deutschen Schulpreises und des Fachkollegiums Psychologie der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
  • In ihrer Forschung interessiert sie sich dafür, wie die schulische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen von Selbst und Identität beeinflusst ist. Forschungsfragen betreffen zum Beispiel den Einfluss des Selbstkonzepts eigener Fähigkeiten oder geschlechtsbezogener, kultureller und religiöser Identitäten auf die Entwicklung von Interessen und Kompetenzen.