Expertenstimme

Leistungsbeurteilung : Lernen ohne Noten

Die Debatte um Noten als Weg der Leistungsbeurteilung ist ein Streitthema der Bildungspolitik. Seit Jahrzehnten wird dazu geforscht und ebenso alt ist die Kritik, dass die Vergabe von Noten nicht gerecht ist, dass sie Beurteilungsfehlern unterliegt und dass sie sich negativ auf die Lernförderung von Schülerinnen und Schülern auswirkt. Das neue Buch „Lernen ohne Noten“ von Silvia-Iris Beutel und Hans Anand Pant zeigt Lehrerinnen und Lehrern Möglichkeiten auf, wie eine Leistungsbeurteilung ohne Noten begründet und in der Praxis gestaltet werden kann. Ein Auszug aus dem Einleitungskapitel.

Silvia-Iris Beutel und Hans Anand Pant
Mann und Frau in historischem Klassenraum
Silvia-Iris Beutel und Hans Anand Pant würden gern Noten zur Leistungs­beurteilung ins Museum packen. Das Schulportal hat zum Erscheinen des Buches „Lernen ohne Noten" mit dem Autoren­team ein Video-Interview in fünf Teilen zum Thema geführt (siehe weiter unten).
©Lars Rettberg (Die Deutsche Schulakademie)

Leistungsbeurteilung und Notengebung gehören zusammen. Wenn wir über die Schule als biographische Erfahrung in unserer Gesellschaft nachdenken, werden sich diese beiden Grundelemente der Schule zwangsläufig verbinden. Lernen, Leistungserbringung und Noten erscheinen dabei als eine Einheit, zumindest als zwei Seiten einer Medaille. Dieses Begriffs- und Konzeptpaar ist in der Erfolgsgeschichte der modernen Schule ein kennzeichnendes und auffallend stabiles Merkmal und zugleich bis heute ein anhaltender Streitpunkt in den pädagogischen Reformdebatten sowie in der Bildungspolitik. Als Streitpunkt bindet und trennt es zugleich zwischen zwei elementaren Funktionen und Aufgaben der Institution Schule: dem individuellen Anspruch jedes Kindes und Jugendlichen auf Förderung und dem staatlichen Berechtigungswesen, das schulischen Lernerfolg mit der Aspiration weiterer staatlich finanzierter akademischer Bildungsleistungen und einem möglicherweise höheren Berufs- und Lebenserfolg verknüpft.

Zeugnisse und Noten gelten bis heute als die entscheidende ,Währung‘ schulischer Bildungsergebnisse.

Ungeachtet einer inzwischen fast fünfzigjährigen erziehungswissenschaftlichen Forschungstradition zu den Noten, den Zeugnissen und den Schulabschlüssen sind diese idealtypischen institutionellen Funktionen und Leistungen der Schule bis heute der Dreh- und Angelpunkt von Anerkennung und Misserfolg beim Schulbesuch und in jeder Bildungsbiographie. Zwischen Erfolg und Versagen, Fairness und fehlender Gerechtigkeit, Subjektivität und Sachbezogenheit bewegen sich die Wahrnehmungen und Zuschreibungen der Menschen zur Leistungsbeurteilung in der Schule. Zeugnisse und Noten gelten bis heute als die entscheidende „Währung“ schulischer Bildungsergebnisse. Dabei dominiert die Überzeugung, dass die Beurteilung schulischer Lernleistungen bei den Schülerinnen und Schülern durch die anscheinend objektive oder wenigstens objektivierbare Ziffernbenotung von sich aus eine valide Beschreibung von Lernen und damit die Berechtigung des Vergleichs begründet – im bundesdeutschen Berechtigungswesen etwa beim Zugang zu den durch den Numerus Clausus begrenzten Hochschulstudiengängen.

Warum gibt es immer noch Ziffernnoten?

Wie hängen Lernen und Leistungsbeurteilung zusammen?

Wie können Zeugnisse ohne Noten aussehen?

Was zeichnet eine alternative Lern- und Feedbackkultur aus?

Warum ist Lernen ohne Noten die Zukunft?

Ganz aktuell blüht dieser Diskurs im Koalitionsvertrag der zweiten schwarz-grünen Landesregierung in Hessen auf, indem 150 „Pädagogisch selbstständige Schulen“ im Verlaufe dieser Regierungsphase auch „Rückmeldungen über den Lernfortschritt und den Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler in Form einer schriftlichen Bewertung geben“ können. Diese eher beiläufige kleine Reform zur Stärkung der Schulvielfalt und zur pädagogischen Profilierung wird kurz nach Regierungsantritt zu einem publizistischen Diskurs, wie er für die Ambivalenz der Notenfrage seit Jahrzehnten nicht typischer sein könnte: „Tschüss Notenstress! Hessens Schulen gehen `pädagogisch neue Wege’“ titelt der Stern (Heft 6 v. 31.1.2019), „Note in Not“ kommentiert die FAZ am selben Tag, die bundesdeutsche Presse folgt diesen Leitmedien. Aus einer Nebenbestimmung eines umfassenden Regierungsprogramms ist publizistisch sofort die Infragestellung eines Grundpfeilers der deutschen Schule geworden.

Der neuere Diskurs zu differenzierenden Formen der Leistungsbeurteilung stellt die Lernenden als Akteure ihrer Bildungswege in den Mittelpunkt.

So ist in der FAZ auf der Titelseite der Ausgabe vom 6. März 2019 im Leitseiten-Kommentar, einem prominenten allgemein-publizistischen Ort, unter dem Titel „Hessischer Holzweg“ zu lesen: „Wer den Ziffernnoten den Rücken kehrt, muss wissen, dass er sich damit gegen alle empirische Evidenz auf den Holzweg begibt. Es ist nichts Neues, dass sich Länder aus ideologischen Gründen über alle Forschungserkenntnis hinwegsetzen und so tun, als gehe sie die Bildungsforschung nichts an. Es bleibt allerdings erstaunlich, dass solche Feldversuche mit ganzen Schülergenerationen in der Schulpolitik toleriert werden, während sie in der Medizin als schwerer Kunstfehler bewertet würden“. Die Leistungsbeurteilung durch Ziffernnoten bleibt ein Politikum und eine Essenz der modernen Schule!

Im Fokus der aktuellen pädagogischen Debatten in Wissenschaft und Praxis zur Leistungserbringung und Leistungsförderung in der Schule stehen verschiedene Fragestellungen. Das sind vor allem das Zusammenspiel der Qualität von Lehren und Lernen, die Individualisierung von Lernen und Bildung, die Inklusion, die Förderung von Resilienz und die gesellschaftlich funktionale Integration der Kinder und Jugendlichen in die Demokratie, die Berufswelt und den Markt in einer offenen Gesellschaft in Freiheit und Verantwortung. Vor diesem Hintergrund stellt der neuere Diskurs zu differenzierenden Formen der Leistungsbeurteilung die Lernenden als Akteure ihrer Bildungswege in den Mittelpunkt. „Lernen ohne Noten“ ist dann zwar das Stichwort, gemeint ist dabei jedoch nicht das prinzipielle Abschaffen von rationalisierten Formen der Leistungsbeurteilung, sondern eine besonders effiziente Form der Förderung des Lernens durch Verständigung und Mitverantwortung der Lernenden für ihren Erfolg und die hierfür notwendige Motivation und Kommunikation – die dann nach differenzierten Formen der Rückmeldung und Verständigung fragt und damit vorzugsweise über Sprache stattfinden soll.

Lernen ohne Noten ermöglicht es aus dieser Perspektive im Idealfall, Schülerinnen und Schülern einen inklusionsstarken Partizipationsraum zu eröffnen und mitzugestalten.

Denn ebenso klar wie die Tatsache, dass Noten nur scheinbar evident und objektiv sind, dürfte auch die These sein, dass ein „Lernen ohne Noten“ nicht in einen vermeintlichen Schonraum ohne Leistungsanforderung zu unverbindlicher Gleichmacherei führen muss. Eine Gesellschaft, die Vielfalt als Wesensmerkmal kultiviert, benötigt Konkurrenz, unterschiedliche Leistungsartikulation sowie damit zusammenhängend Erfolg und Misserfolg – auch dies müssen Kinder und Jugendliche lernen, das kann die Schule als Schonraum nicht fernhalten. Es geht also nicht um die Alternative zwischen „harten“ und „weichen“ Formen der Leistungsbeurteilung, sondern um die Frage nach der sachbezogenen Effizienz der für diese zentrale schulische Aufgabe gewählten Formen, die sich im professionellen Vollzug in der Schule als angemessen erweisen müssen.

„Lernen ohne Noten“ ermöglicht es aus dieser Perspektive im Idealfall, Schülerinnen und Schülern einen inklusionsstarken Partizipationsraum zu eröffnen und mitzugestalten, indem ein positives Konzept von Lernen und Leistung zugrunde gelegt und als lebenspraktisch wirksame Handlungskompetenz gefördert wird. Eine solche Form leistungsförderlicher und auf Beteiligung setzender notenfreier Leistungsbeurteilung benötigt bei den Lehrerinnen und Lehrern professionelle Fähigkeiten der Lernförderung, der Leistungsdiagnose und der Konzeption von diagnostischen Instrumenten. Lerndiagnose und Leistungsbeurteilung müssen in schulischen Kollegien als Berufskompetenz vorausgesetzt und im Verlaufe der Berufsausübung stetig und standardbezogen gepflegt werden. Dabei spielen aktuelle und innovative Konzepte der Kompetenzmessung sowie eines professionalitätsstärkenden und systematisch in die Schulentwicklung integrierten Schülerfeedbacks eine tragende Rolle. Eine solche Beurteilungspraxis in der Schule zu etablieren, hat mehrere Voraussetzungen und Konsequenzen:

  • Es bedeutet, erstens eine systematisch entfaltete, diagnostisch (in Blick auf die Lernenden) wie didaktisch (in Blick auf das Lernen) ausgewiesene Lernbegleitung von Schulbiographien kollegial zu ermöglichen, stetig zu reflektieren und langfristig zu kultivieren – von der Bezugsnormanwendung bis zur kritischen Reflexion der eigenen schulischen Leistungsbiographie.
  • Dazu benötigt es zweitens vielfältiger Instrumente und Verfahren einer Feedbackkultur, die zugleich in den Handlungs- und Professionskontext der jeweiligen Schule individuell einzubetten und zu adaptieren sind.
  • Drittens ist dabei die Schülerbeteiligung als Grundlage einer Strategie individueller und gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme und Lernförderung zu verstehen. Anders gesprochen: Eine entwicklungsgerechte Leistungsbeurteilung ohne kommunikative und substanzielle Beteiligung der „Beurteilten“ ist nicht realisierbar. Sie setzt zudem eine entwickelte Lesekompetenz voraus. Diese Anforderung richtet den kritischen Blick auf jüngere Analysen, denen zufolge 17 Prozent der Absolventinnen und Absolventen der Grundschulen diese jedoch gar nicht haben.

Mit der Schule ohne Noten verbindet sich das Schulentwicklungsziel, die verbreiteten einseitigen, oftmals intransparenten Beurteilungsrituale zu überwinden.

Insgesamt werden bei einer wirksamen Strategie zur Implementation einer lern- und entwicklungsgerechten Leistungsbeurteilung „ohne Noten“ die schulischen Binnenverhältnisse am erkennbaren Grad von Sozialität, Selbstwirksamkeitserleben, Partizipation, Kompetenz und Kommunikation sowie fachlich fundierter Entwicklung von Beurteilungsinstrumenten und -standards im Kollegium – ggf. mit professioneller Unterstützung – bemessen.

So gesehen verbindet sich mit der „Schule ohne Noten“ das Schulentwicklungsziel, die verbreiteten einseitigen, oftmals intransparenten Beurteilungsrituale zu überwinden. Denn diese stellen meist eine Erwartung an die alleinige Bringschuld des Lernens und der Leistungspräsentation der Schülerschaft in den Mittelpunkt. Sie orientieren sich dabei überwiegend an curricular begründeten Erträgen eines Lernens, das weder Verständigung pflegt, noch Förderziele zuordnet. Dies gilt ebenso für die mehrheitliche Praxis rein zensurenbezogener Beurteilung und der entsprechenden Dominanz von Ziffernzeugnissen.

Deshalb ergibt sich aus schultheoretischer Perspektive die These, dass die Schule ihrer Aufgabe individuell erfolgreicher Zuweisung (Allokation) von Funktion, Beruf, Studium und in dessen Folge sozialer Position in der Gesellschaft dann besonders gerecht wird, wenn sie eine konstruktive und vielfaltsbezogene Lernkultur, bestmögliche Entwicklungschancen für ihre Schülerschaft und grundlegende Demokratieerfahrungen zu Grundelementen der stetigen Veränderung von Schul- und Lernkultur macht.

Auf einen Blick

Silvia-Iris Beutel, Hans Anand Pant: „Lernen ohne Noten. Alternative Konzepte der Leistungsbeurteilung“, 219 Seiten, 29 Euro. Erschienen im Kohlhammer Verlag.

Zur Person

  • Silvia-Iris Beutel ist Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, Schwerpunkt Lehr-/Lernprozesse und empirische Unterrichtsforschung an der Technischen Universität Dortmund.
  • Sie ist Mitglied des Programmteams der Deutschen Schulakademie und leitet das Regionalteam West des Deutschen Schulpreises und der Deutschen Schulakademie.
  • Außerdem ist die Bildungswissenschaftlerin Mitglied der Vorjury des Deutschen Schulpreises.
  • Hans Anand Pant ist seit 2010 Professor für Erziehungswissenschaftliche Methodenlehre an der Humboldt-Universität zu Berlin.
  • Gemeinsam mit Petra Stanat leitete Hans Anand Pant bis Mitte 2015 das Institut zur Qualitäts­entwicklung im Bildungs­wesen.
  • Seit 2011 ist er Mitglied in der Jury des Deutschen Schulpreises, und seit 2015 verantwortet er als Geschäftsführer das Programm der Deutschen Schulakademie.