Aus der Elternperspektive : Warum Schreiben nach Gehör mich auf die Palme bringt
Der Blutdruck steigt, sobald von Schreiben nach Gehör die Rede ist. Selbst die lahmsten Unterhaltungen kommen dabei wieder in Gang, und zurückhaltende Gesprächspartner werden zu feurigen Rednern. Schulportal-Kolumnistin Sandra Garbers erklärt, warum kaum ein anderes Thema die Gemüter der Eltern so sehr erhitzt wie dieses.
Wenn ich mich auf einem Geburtstagsbrunch oder abends im Restaurant mal langweile, habe ich eine tolle Möglichkeit gefunden, ein bisschen Stimmung in den Laden zu bringen. Ich muss nur mal so ganz beiläufig einen Begriff fallen lassen: Schreiben nach Gehör.
Und schon haben die Eltern unter den Gästen einen ordentlichen Adrenalinausstoß. Der Blutdruck steigt. Wir sind wieder im Gespräch. Es ist nicht so, dass wir Fachleute wären. Aber wir sind oft alarmiert. Wenn es um die Länge der Frühstückspausen geht oder ob die Kinder mit neun Jahren schon allein die 500 Meter zur Schule gehen können, oder ob Mathearbeiten wirklich eine Woche vor den Ferien geschrieben werden müssen. Aber niemals sind wir so alarmiert wie bei den Unterhaltungen über Rechtschreibung.
Wir würden ja still sein, wenn wir das Gefühl hätten, dass es läuft. Haben wir aber nicht.
Eine Generation partieller Analphabeten wächst heran
Kürzlich war die neunjährige Tochter einer Bekannten zu Besuch bei ihrem gleichaltrigen Cousin in Luxemburg. In deutscher Rechtschreibung war er ihr weit überlegen. Wohlgemerkt, für ihn ist es eine Fremdsprache! Deshalb haben wir Meinungen zu so Dingen wie Schreiben nach Gehör, Lesen nach Schreiben, Rechtschreibwerkstatt und wie es alles heißt. Die Meinungen dabei reichen vom dramatischen „Verbrechen an den Kindern“ bis zum resignierten „Zur Not gibt’s doch in jedem Computer Rechtschreibprogramme“. Ich gehöre eher zur dramatischen Fraktion. Zu den Leuten, die glauben, dass da eine Generation von partiellen Analphabeten herangezogen wird, denen man spätestens in der fünften Klasse ihre Anlauttabellen um die Ohren hauen wird, weil man ihre seltsamen Texte eigentlich nur noch mit einem Übersetzungsprogramm versteht. „Wie konnte das bloß passieren?“, wird in regelmäßigen Abständen nach irgendeinem PISA-, Vera- oder Sonstwas-Test gefragt. Und das ist dann die Stunde von uns Zweiflern.
Keine Angst vor Frustration, bitte!
Für alle fortschrittlich denkenden Menschen sind wir Zweifler diejenigen mit dem geistigen Rohrstock. Weil eines ja eigentlich allen – außer uns Zweiflern – klar sein müsste: Kinder dürfen nicht mit zu vielen Regeln frustriert werden, damit man ihnen nicht die Freude am Schreiben verdirbt. Wer so argumentiert, muss erstens eine sehr schlechte Meinung von den Fähigkeiten der Grundschullehrkräfte haben, dass sie anders als mit Wischiwaschi-Methoden ihre Schülerinnen und Schüler nicht begeistern können. Zweitens: Warum eigentlich nicht auch mal frustrieren? Ist etwa auch die gute alte Frustrationstoleranz mit der korrekten Rechtschreibung abgeschafft worden? Nein, keine Angst, Frustrationstoleranz steht nur etwas später im Rahmenlehrplan. Der Sohn einer Bekannten lernt es gerade in der fünften Klasse auf dem Gymnasium – im Crashkurs. Jahrelang durfte er schreiben, wie er wollte, seit den Sommerferien wird allerdings von ihm eine einigermaßen korrekte Rechtschreibung erwartet. Kann er natürlich nicht, was bei fast jeder Klassenarbeit zu einer Note Abzug führt. Aber zum Glück ist er nicht schon in der Grundschule demotiviert worden.
Lesen und Schreiben lernen nach Steinzeit-Methoden? Einverstanden!
Als meine Tochter eingeschult wurde, haben die Kinder gleich in der zweiten Woche das erste Diktat geschrieben. Dann gab es Lernwörter. Die mussten tatsächlich gelernt werden. Jeden Montag Diktat. Anschließend die Berichtigung. Das klingt nach Steinzeit, scheint aber genauso gut zu funktionieren wie in all den Jahrzehnten davor. Sie schreibt gut und gern. Das ist nicht repräsentativ? Was ist schon repräsentativ?
Jetzt fällt es mir ein: Repräsentativ ist die Studie mit über 3.000 Schulkindern über dreieinhalb Jahre, nach deren flüchtiger Lektüre man die ganzen neumodischen Rechtschreibmethoden eigentlich nur dahin befördern kann, wo schon das andere Zeug liegt: die Früheinschulung, das jahrgangsübergreifende Lernen oder das Abitur nach 12 Jahren, das lauter Kinder produziert, die keinen blassen Schimmer haben, was sie einmal werden wollen, wenn sie groß sind.
Und nun also dieses Schreiben nach Gehör und Co. Nach flüchtiger Recherche – aber das reicht, um uns Eltern so richtig auf die Palme zu bringen – scheint es keinerlei wissenschaftlichen Beweis zu geben, dass diese Methoden funktionieren, außer blumigen Beteuerungen. Dafür aber jede Menge Studien, die das Gegenteil beweisen. Die wenigen Beispiele, wo es doch funktioniert hat, wurden in Gegenden gemacht, in denen das Gelingen vielleicht weniger mit der Methode oder der schnellen Auffassungsgabe ausgerechnet dieser Kinder zu tun hat, sondern damit, dass die sehr bürgerlichen Eltern dort eben doch korrigieren. Spaß her oder hin. Und wenn die Mütter und Väter das leider nicht können? Sei es, weil sie keine Zeit haben oder die Rechtschreibung eventuell noch schlechter beherrschen als ihre Kinder? Dumm gelaufen.
Schreiben nach Gehör – wenn das Gehirn auf der falschen Fährte ist
Das Problem, so meinte kürzlich eine Bekannte, die auf dem Gebiet forscht, sei, dass das Gehirn einmal falsch Gelerntes niemals wieder verlernen könne. Sie und eine Reihe von Gehirnforschern nennen es „Gedächtnisspuren“. Einfach gesagt könne das Gehirn dann zwar eine weitere Spur mit dem richtigen Wort über die Spur mit dem falschen legen, aber bei Stress oder nach längerer Zeit werde eben doch die erste aktiviert. Stress? Vermutlich meint sie Diktate.
Ich gehöre zu den Eltern, die nicht verstehen können, wie man etwas so Großes wie eine Methode zum Erlernen des Schreibens ohne vorherige Studien einfach mal so einführen konnte, sie aber nicht genauso einfach wieder abschaffen kann, wenn sich herausstellt, dass sie nicht funktioniert. Erste Bundesländer tun es oder prüfen zumindest ein Verbot. Und schon kommen wieder Kritiker der Kritiker und sagen, man müsse nun wirklich mal den Grundschullehrern überlassen, wie sie unterrichten wollten. Wirklich? Hat man das bei der Einführung der Methoden auch so gesagt?
Elternwunsch: Bitte weniger Ideologie und wieder mehr Empirie!
Das ist es, was uns Eltern wirklich wütend macht. Schulversuche. Siehe eben auch „JüL“ („Jahrgangsübergreifendes Lernen“) oder Früheinschulung. Lauter bahnbrechende Dinge, die bestimmt gut gemeint sind und in Einzelfällen vielleicht sogar funktionieren: in kleinen Klassen, mit genügend Lehrern, hoch motivierten Schülern. Aber eben auch nur dann.
Wir Eltern sind gar nicht so. Wir freuen uns, wenn unseren Kindern das Leben leichter gemacht werden soll. Aber doch nicht so leicht. Und wenn ich mir noch etwas wünschen dürfte: weniger Ideologie, mehr Empirie. Sonst sind das alles keine Reformen, sondern lediglich Versuche am lernenden Objekt.
Zur Person
- Sandra Garbers ist freie Autorin und lebt mit Mann, zwei Kindern, Hund und Katze in Berlin.
- Ihre Tochter geht in die dritte Klasse, ihr Sohn noch in den Kindergarten.
- Für die Tageszeitungen „Berliner Morgenpost“ und „Hamburger Abendblatt“ schrieb sie die Kolumne „Mamas & Papas“.
- Nun blickt sie für Das Deutsche Schulportal aus Elternperspektive auf den Schulalltag.