Kolumne

Grundschule : Lesen will gelernt sein

Es gibt viele Anstrengungen zur Leseförderung – doch warum bleibt der Erfolg so oft aus? Dieser Frage geht Sabine Czerny in ihrer März-Kolumne für das Schulportal nach. Wichtige Schritte zum Lesen­lernen kommen häufig zu kurz, meint die Grund­schul­lehrerin.

Sabine Czerny
Veranstaltung auf der Leipziger Buchmesse
Zur Buchmesse in Leipzig wird wie jedes Jahr wieder die Frage aufkommen: Was kann man tun, damit Kinder und Jugendliche mehr lesen?
©Leipziger Buchmesse

Fast jeder fünfte Viertklässler kann nicht richtig lesen. Dieses Ergebnis der aktuellen Studie zur Inter­nationalen Grund­schul-Lese-Unter­suchung (IGLU) allein ist erschreckend genug. Dabei geht es hier sogar nur um die reine Lese­fähig­keit und die Sinn­erfassung. Wie viele Kinder und Jugendliche derzeit über­haupt noch regel­mäßig lesen, teilt uns die Studie jedoch nicht mit. Dabei ist Lesen auch heute noch die wesentliche Grund­lage für die Ausbildung des eigenen mündigen Ichs. Lesen macht intelligent und kompetent und – wie eine Studie der britischen University of Liverpool ergab – auch zufriedener mit dem Leben.

Zur Buchmesse in Leipzig wird wie jedes Jahr wieder die Frage aufkommen: Was kann man tun, damit Kinder und Jugendliche mehr lesen? Oder über­haupt erst mal gut lesen lernen? Von über­all­her werden dann Tipps und Tricks in die Debatte geworfen, viel­fältige Möglichkeiten zur Unter­stützung werden vorgeschlagen und praktiziert.

Vom Bücher­bus bis zum Lese­wett­bewerb – die Bemühungen sind viel­fältig

So fahren beispielsweise manche Büchereien mit einem Bücherbus extra die Schulen an. Die Verlage bereiten die Bücher lese­fördernd auf, sei es, indem die Silben unter­schiedlich kontrastiert gedruckt werden, Bücher so illustriert werden, dass sie das Wort­bild­gedächtnis anregen oder sie ermöglichen Inter­aktion durch eingebaute Rätsel oder begleitende Online-Programme. Die Schulen offerieren Lese­wett­bewerbe, Autoren werden zu Lesungen eingeladen, die Lehrerinnen und Lehrer nehmen Hörspiele mit den Kindern auf, es gibt Bücher­basare, Schul­büchereien oder gar Bücher­schränke, aus denen Kinder sich kostenlos ein Buch mitnehmen dürfen. Und das ist nur eine kleine Auswahl der vielen Bemühungen.

Und trotzdem scheint das alles nur bedingt zu helfen. Warum nur?

Erst wenn der Lesevorgang an sich nicht mehr die volle Konzentration fordert – ab 100 Wörtern pro Minute – kann der Sinn des Gelesenen „nebenher“ erfasst werden.
Sabine Czerny, Grundschullehrerin

Letztlich sind nämlich all diese Maßnahmen schön und gut – aber selten bringen sie Kinder tatsächlich zum Lesen. Zum Lesen kommt man eben nur durch: Lesen. Und bis man das Lesen wirklich beherrscht und den Mehrwert aus­schöpfen kann – der letzt­endlich das Motiv ist, warum man liest –, kann Lesen auch ganz schön anstrengend sein. Es erfordert viel Übung und Routine, um leicht und flüssig lesen zu können. Erst wenn der Lese­vorgang an sich nicht mehr die volle Konzentration fordert – ab 100 Wörtern pro Minute – kann der Sinn des Gelesenen „nebenher“ erfasst werden. Und mit dem Begreifen kommt die Freude am Lesen. Aber so weit kommen viele Kinder und Jugendliche heute oft überhaupt nicht mehr.

Lesen lernt man nur, indem man selber liest

Mich als Lehrerin verwundert diese Problematik nicht, auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen nicht. Aber es scheint, als höre uns niemand zu. Denn: Lesen lernt man eben nur, indem man selber liest! Dafür ist inzwischen jedoch in der Schule kaum noch Raum und Zeit. Viel zu viele Lern­inhalte haben in den vergangenen Jahren Einzug in den Lehr­plan gerade der ersten und zweiten Klassen Einzug gehalten. Sach­nieder­schriften, Vorgangs­beschreibungen, Referate, umfassende Recht­schreibung … alles mittler­weile „normale“ Anforderungen an sechs- und sieben­jährige Kinder.

Da bleibt es nicht aus, dass für das fundierte Erlernen der Buchstaben und der zugehörigen Laute nicht mehr genügend Zeit ist und das Lesen-Üben nicht selten als tägliche Haus­auf­gabe und damit in den Verantwortungs­bereich der Eltern gegeben wird. Nur: Was ist, wenn da eben keine Eltern sind, die mit dem Kind lesen? Weil die Eltern beispiels­weise selbst nur eingeschränkt lesen können oder weil beide arbeiten und die Kinder­betreuungs­stätten diese Aufgabe eben nicht auch noch stemmen können?

Dazu kommt, dass den Kindern zunehmend die Vorerfahrungen fehlen, die für das Lesen notwendig sind: Lese­förderung beginnt nämlich schon damit, dass man bereits dem Klein­kind vorliest, sodass das Kind die komplexe Sprach­struktur der Schrift­sprache erfassen und sich sein Wort­schatz ausbilden kann. Wenn Eltern immer und immer wieder – spielerisch und nebenbei – einen Laut einem Schrift­zeichen zuordnen, lernen die Kinder so die Buchstaben zu unter­scheiden, und es entwickelt sich ein grund­sätzliches Verständnis von Schrift und Sprache.

Man liest „Apotheke“ hier und „Bank“ da, findet das „a“ im eigenen Namen wieder. Erfahrungen dieser Art können bei Schul­eintritt jedoch nicht mehr voraus­gesetzt werden – und das beschränkt sich keines­wegs nur auf die Kinder von Analphabeten, nicht deutsch sprechenden Migranten und von bildungs­fernen Eltern. Nur: Ohne diese Vorerfahrungs­viel­falt ist Lesen- und Schreiben­lernen noch mal ungleich schwerer.

Alles Lernen ist für Kinder ein Prozess – Schritt für Schritt wird bereits Bekanntes durch Neues ergänzt und das Gesamt­wissen erweitert. Ein Prozess, der Zeit, Erfahrung, eigenes Tun und Entwicklung braucht und liebevolle individuelle Begleitung mit direkten situativen Rück­meldungen.

In vielen Schulen versucht man sich nun selbst zu helfen und fragt die Eltern, ob sie beim Lesen­lernen unter­stützen können. Die „Lese­mamas“ und manchmal auch „Lese­papas“ kommen dann einmal oder mehr­fach pro Woche in die ersten Klassen und lesen mit einer möglichst kleinen Gruppe von Kindern. So kann ansatz­weise individualisiert und hin und wieder auch in der not­wendigen Einzel­betreuung gearbeitet werden. Es ist eben einfach nicht mehr so wie vor 20 Jahren, als die Kinder noch brav mit dem Finger die Text­zeilen mit­gegangen sind, während alle gemeinsam im Chor gesprochen haben. Da war Lesen­lernen auch noch in einer Gruppe mit 30 Kindern möglich.

Ob Kinder in der Schule Lesen lernen, hängt häufig von der Hilfs­bereit­schaft der Eltern ab

An einigen Schulen werden bereits sogenannte Lern­assistenten „ausgebildet“. Das sind Eltern oder ander­weitig Interessierte, die dann ehren­amtlich teils ganze Tage als Zweit­kraft in der Klasse sind und die Lehrerin oder den Lehrer unter­stützen, die die spezielle Mithilfe, die viele Kinder heute benötigen, alleine einfach nicht mehr leisten kann.

All diese Initiativen sind so wertvoll, anderer­seits ist es aber auch durchaus frag­würdig, dass es von der Hilfs­bereit­schaft anderer Eltern abhängen kann, ob Kinder in der Schule lesen lernen oder nicht.

Und trotz dieser Unterstützung bleibt der Zeit­raum zum Lesen zu klein. Viel öfter müsste mit Muße gelesen werden – auch in den höheren Klassen, damit die Kinder über diese „Das ist so anstrengend!“-Schwelle hinaus­kommen.

Denn erst dann eröffnet sich ihnen die Welt der Lesenden wahrhaftig, und sie erleben, welch besonderes Wissen man sich durchs Lesen aneignen kann, wie sich eigene Fantasie anfühlt oder wie es ist, wenn man ein Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, weil man es kaum noch aushält vor gespannter Erwartung, wie es weiter­geht. Und erst wenn Kinder diesen einzig­artigen Mehr­wert des Lese-Erlebnisses gegenüber Computer­spielen, Filmen oder Hör­büchern selbst erfahren haben, werden sie auch von allein lesen.

Zur Person

  • Sabine Czerny ist seit über 20 Jahren Lehrerin und unter­richtet in einer Grund­­schule im Groß­­raum München eine zweite Klasse in allen Fächern. Zusätzlich gibt sie Fach­­unter­­richt in anderen Klassen, auch in der Mittel­schule.
  • Vor gut einem Jahr­zehnt machte Sabine Czerny bundes­weit Schlag­­zeilen: Weil ihre Schüler­­innen und Schüler zu viele gute Noten erzielten, wurde sie straf­­versetzt.
  • 2009 wurde sie mit einem Preis für Zivil­­courage, dem Karl-Steinbauer-Zeichen, aus­gezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Buch „Was wir unseren Kindern in der Schule antun … und wie wir das ändern können“.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Sabine Czerny eine Kolumne.