Flexibel zum Abitur : Die Debatte um G8 oder G9 führt am Ziel vorbei
An den Gymnasien in Deutschland wird viel Energie in das Hin und Her der Schulzeit-Reformen gesteckt. Matthias Förtsch, Kolumnist des Deutschen Schulportals, hält die Diskussion über G8 oder G9 für Unsinn. Was das Abitur wirklich braucht, sei mehr Flexibilität. Andere Länder machen längst vor, wie das funktionieren kann.
Liebe Bildungsschaffende,
stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Schuhgeschäft, in dem es nur Schuhe in Größe 38 zu kaufen gibt. Leider passt Ihnen aber nur die Größe 42. Der Inhaber reagiert darauf und stellt sein Geschäft so um, dass es fortan nur noch Ihre Größe zu kaufen gibt.
Ein unrealistisches Beispiel, meinen Sie? Dann betrachten Sie mal unser Schulsystem, in dem ziemlich ähnlich gedacht wird. Egal, ob eine in Mathematik hochbegabte Schülerin, ein von familiären Problemen psychisch belasteter Schüler oder ein junger, kurz vor dem Abschluss in seinem Heimatland Geflüchteter mit nur rudimentären Deutschkenntnissen: Alle haben die gleiche Schulzeit, fast die gleichen Kurse auf dem gleichen Niveau zu belegen, und am Ende steht für viele mit dem Abitur eine Abschlussprüfung an, die über viele Lebenschancen entscheidet.
Das ist auch vernünftig so, sagen Sie? Dann fragen Sie mal diejenigen Schülerinnen und Schüler, die zum Beispiel wegen einer Schwäche in Mathematik oder den Naturwissenschaften in diesem Jahr durchs Abitur gefallen sind und deshalb – zumindest in Deutschland – ein ganzes Jahr sinnlos wiederholen müssen. Neben der individuellen Zumutung entsteht ein nicht unerheblicher volkswirtschaftlicher Schaden: die weitere Beschulung, der gegebenenfalls verzögerte Nicht-Antritt des Studiums oder einer Ausbildung und/oder der verlagerte Eintritt ins Berufsleben verursachen Kosten, die in fast keiner bildungspolitischen Rechnung auftauchen.
In Kanada kann jede Prüfung wiederholt werden
Dabei ginge es durchaus anders, wie sich in vielen anderen Länder zeigt. Nur müsste man dafür bereit sein, das deutsche Bildungssystem nicht für das Maß aller Dinge zu halten, sondern es im Gegenteil in ein agiles System verwandeln, das dadurch dann Individuen bestmöglich fördert.
Der Blick nach Kanada zeigt: Hier ist der Zug nie abgefahren. Im Zweifel kann jede Prüfung wiederholt werden. Selbst eine bestandene – die bessere Prüfung zählt! Zwar wird eine Gebühr fällig, wenn man sich zur Wiederholung anmeldet, sie entfällt jedoch, wenn man sich um fünf Prozent verbessert. Einen Teil der für den Abschluss nötigen Credit Points kann man in flexiblen Programmen wie „Work Experience“ oder „Special Projects“ erwerben (siehe Flexible High School Completion, Alberta). In Kanada wird nicht final gesagt, ein Schüler oder eine Schülerin sei nicht „abiturabel“, sondern es wird gesagt: „not yet“ – die Schülerin oder oder der Schüler ist noch nicht bereit für den Abschluss, weil die Leistungsfähigkeit eben auch vom Reifegrad abhängen kann.
In Finnland erhält man einen dem Abitur vergleichbaren Abschluss nach zwei bis vier Jahren in der Oberstufe – je nachdem wie leistungsbereit man ist beziehungsweise welche Punktzahl man erreichen möchte. Auch hier dürfen bestandene Prüfungen einmal wiederholt werden, wobei die bessere Note zählt. Ein Zentralabitur wird alle sechs Monate auf verschiedenen Niveaustufen angeboten. Auch in Südkorea, Irland, Singapur oder Australien finden sich ähnliche flexible Wege.
Schülerinnen und Schüler sollen den Takt selbst entscheiden
Wir haben in einer Projektgruppe versucht, mit einem Konzept namens „Abitur im eigenen Takt“ die Veränderung des Denkens in Deutschland hin zur konsequenten Output-Orientierung anzustoßen. Schülerinnen und Schüler sollten durch die Anwahl modularisierter Kurse selbst entscheiden, ob sie die Kursstufe zum Abitur in zwei oder drei Jahren absolvieren wollen. Dabei könnte es auch ein Teilabitur geben, das Deutsch-Abitur also zum Beispiel in einem Jahr und das Mathe-Abitur im Jahr darauf absolviert werden. Eine Integration von Praktika oder Auslandsaufenthalten wäre in einer solchen Oberstufe problemlos möglich, längere Krankheiten könnten abgefedert werden, und ein außerschulisches Engagement würde erleichtert. Zaghafte Vorschläge im internationalen Vergleich – doch in Deutschland scheint eine solche Umsetzung undenkbar: Die Vergleichbarkeit sei gefährdet, heißt es aus den Kultusministerien.
Aber: Erstens waren die Abiturprüfungen der 16 Bundesländer zu keinem Zeitpunkt wirklich vergleichbar. Sogar innerhalb eines Bundeslands wie Baden-Württemberg gibt es Abiturprüfungen auf unterschiedlichem Niveau, die jedoch zu einem rechtlich absolut gleichwertigen Abschluss führen. Das Argument ist also vorgeschoben. Zweitens wird eine Leistung nicht durch den Zeitpunkt der Prüfung bestimmt, sondern dadurch, dass man diese Hürde nimmt.
Was viel eher gefährdet ist als die Vergleichbarkeit des Abiturs, ist die Qualität des deutschen Schulsystems, wenn es so starr und unflexibel bleibt und so daran scheitert, ein System für die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin zu sein.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Matthias Förtsch
Friedemann Stöffler, Matthias Förtsch (Hrsg.): „Abitur im eigenen Takt. Die flexible Oberstufe zwischen G8 und G9“, Beltz, 126 Seiten, 16,95 Euro. Erschienen im August 2014.
Zur Person
- Matthias Förtsch ist Lehrer für Englisch und Gemeinschaftskunde (Politik, Wirtschaft und Soziologie) an einem privaten, gebundenen Ganztagsgymnasium in Baden-Württemberg.
- Zusätzlich ist er hauptverantwortlich für die Schulentwicklung an seiner Schule.
- Die Zukunft der Schule interessiert ihn so sehr, dass er darüber auch twittert und regelmäßig in seinem Blog berichtet.
- Für Das Deutsche Schulportal schreibt Matthias Förtsch regelmäßig eine Kolumne.