Digitale Schule : Das Ørestad Gymnasium arbeitet ganz ohne Papier
Mit innovativer Architektur und konsequentem Einsatz von digitalen Medien sorgt das Ørestad Gymnasium in Kopenhagen weltweit für Aufsehen. Werner Klein, Gastautor des Schulportals, hat sich mit dem Programmteam der Deutschen Schulakademie vor Ort ein Bild von der außergewöhnlichen Schule gemacht. In seinem Gastbeitrag schreibt er über spannende Einsichten und offene Fragen.
New form follows new function – dieser leicht modifizierte Leitsatz aus dem Design, nach dem die äußere Form von Gegenständen sich aus deren Funktion ableiten soll, kommt dem Betrachter unmittelbar in den Sinn, wenn er das Ørestad Gymnasium in Kopenhagen betritt: eine riesige lichtdurchflutete Halle mit einer alles dominierenden geschwungenen Treppe, die ein ausgeklügeltes System von offenen Räumen, Nischen, Passagen, scheinbar schwebenden Lern- und Ruheinseln auf fünf Etagen verbindet.
Nach herkömmlichen Klassenräumen sucht man hier ebenso vergeblich wie nach Lehrerzimmern oder Fluren.
Dass Besucher eine Schule betreten haben, erkennen sie nur daran, dass das Gebäude mit großen Buchstaben an der Fassade als „Ørestad Gymnasium“ ausgewiesen ist. Nach herkömmlichen Klassenräumen sucht man hier ebenso vergeblich wie nach Lehrerzimmern oder Fluren. Nur wenige Bereiche sind abgetrennt, etwa für die Verwaltung und einige Fachräume.
Stattdessen freie Flächen und Schiebewände für ein flexibles Raumarrangement, das die Vorgabe der dänischen Gymnasialreform, die von neuen Schulbauten Offenheit und Flexibilität verlangt, in ungewöhnlicher Weise umsetzt. Das Ørestad Gymnasium sieht das Gebäude denn auch als besonders geeignet an, um gemäß ihrem Selbstverständnis „permanent neue Wege des Lehrens und Lernens zu gehen“.
Nach dem überraschenden visuellen Eindruck fällt bei näherem Hinhören auf, dass trotz des offenen Raumgefüges, in dem sich 1000 Schülerinnen und Schüler mit ihren etwa 200 Lehrkräften aufhalten, die Geräuschkulisse erstaunlich gering ist. Dies ist einerseits einem besonderen System raumakustischer Maßnahmen mit Akustikdecken, -wänden und -böden zu verdanken. Andererseits zeigt sich hier sicherlich auch der entspannte, wenig aufgeregte Umgang miteinander, der die dänische Schulkultur prägt.
Keine Hefte, Bücher und Stifte weit und breit
Für die Schülerinnen und Schüler im Alter von 16 bis 19 Jahren, die in Dänemark nach neun gemeinsamen Schuljahren auf der Folkeskole aufs Gymnasium wechseln, stellt das mehrfach ausgezeichnete Gebäude die Räumlichkeiten für eine Vielfalt von Lernaktivitäten bereit, die allein über digitale Medien vermittelt werden.
Alle Rechner im Schulnetzwerk haben freien Zugang zum Internet.
Weit und breit sind weder Stifte, Hefte noch Bücher zu sehen, sondern Schülerinnen und Schüler, die allein oder in Gruppen an ihren Laptops arbeiten – ein ungewohnter Anblick. Zu diesem Zweck ist die gesamte Schule mit den neuesten digitalen Medien ausgestattet. Alle Rechner im Schulnetzwerk haben freien Zugang zum Internet. Für die tägliche Wartung und Weiterentwicklung der digitalen Grundausstattung stehen eigens dafür angestellte Mitarbeiter der Schule bereit.
Nachdem sich Tablets für die verschiedenen Lehr- und Lernprozesse als wenig geeignet erwiesen haben, setzt die Schule auf Laptops, die von den Schülerinnen und Schülern privat angeschafft werden müssen. Für Schülerinnen und Schüler aus Elternhäusern, die sich die hohen Ausgaben dafür nicht leisten können, übernimmt die Schule auf Antrag ganz oder teilweise die Anschaffungskosten.
Wie für alle Gymnasien in Dänemark vorgeschrieben, hat sich das Ørestad Gymnasium neben einem allgemeinen Fächerkanon ein besonderes Profil gegeben, das sich aus dem Stellenwert digitaler Medien für diese Schule ableitet. Für den gewählten Schwerpunkt auf Medienkunde, Kommunikation und Kultur steht den Schülerinnen und Schülern neben verschiedenen medialen Lernangeboten auch ein professionell ausgestattetes Fernsehstudio zur Verfügung. Darüber hinaus gehört die Schule einem umfassenden Netzwerk von Firmen und Institutionen der Medien- und Kommunikationsbranche an.
Auf einer Schulplattform gibt es Materialien für alle Fächer
Neben der neuartigen Architektur ist es der innovative Einsatz digitaler Medien, der seit mehreren Jahren das Ørestad Gymnasium für Besucher aus aller Welt zu einem attraktiven Ziel macht:
- Als Organisationsmittel werden alle Informationen über Termine, Stundenpläne, Veranstaltungen oder sonstige Aktivitäten digital per Internet auf Laptop, Handy oder Bildschirm im Haus übermittelt. Auch die Arbeitsorganisation des Schulsekretariats, der Schulleitung und Lehrkräfte erfolgt digital.
- Auf einer Google-Plattform werden digitale Lehr- und Lernmittel für sämtliche Fächer und Lernvorhaben zur Verfügung gestellt. Die Schule hat über Jahre hinweg dafür geeignete Software eingekauft, die laufend durch selbst entwickelte Programme ergänzt oder ersetzt wird. Dazu gehören auch adaptive Lernprogramme, die am individuellen Kenntnisstand der Schülerinnen und Schüler ansetzen, um passgenaue Lernprozesse zu ermöglichen.
- Schülerinnen und Schüler nutzen digitale Medien als Werkzeug, um Aufgaben in den verschiedenen Fächern, Projekten und Vorhaben zu bearbeiten. Dazu lesen, schreiben, rechnen, experimentieren und recherchieren sie digital per Laptop, Handy oder Whiteboard. Zusätzlich werden alle Möglichkeiten digitaler Medien genutzt, um Bilder und Filme aufzunehmen und zu bearbeiten, Interviews zu führen, Arbeitsergebnisse zusammenzuführen und hochzuladen, sich zu bestimmten Themen in digitalen Foren auszutauschen.
- Digitale Medien sind Unterrichtsgegenstand, indem Schülerinnen und Schüler in die Benutzung der verschiedenen Medien systematisch eingeführt werden und vielfältige Unterstützung erhalten, um selbstständig mit den verschiedenen Programmen arbeiten zu können. Im Schwerpunkt Medienkunde produzieren die Schülerinnen und Schüler eigene Beiträge für ein schuleigenes Fernsehstudio, das regelmäßig auf Sendung geht.
Neue Lernarrangements und eine veränderte Rolle der Lehrkräfte
Die Lehrerinnen und Lehrer des Ørestad Gymnasiums nutzen die Potenziale digitaler Medien gezielt für verschiedene Lernarrangements, um die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler stärker zu individualisieren und deren Eigenverantwortung zu fördern. Damit einhergehend verändert sich auch die Rolle der Lehrkräfte, die vor allem lernbegleitende Funktionen übernehmen können.
Phasen des Unterrichts in herkömmlichen Klassen wechseln sich ab mit selbstständiger Arbeit in Gruppen, individueller Wissensaneignung insbesondere durch E-Learning-Angebote auch außerhalb der Schule und „Real Life Cases“ – also Besuche und Projekte in Zusammenarbeit mit externen Partnern. Dafür finden sich die Schülerinnen und Schüler in offenen Flächen, kleinen Nischen, Tischgruppen und Sofaecken zusammen oder verlassen die Schule regelmäßig für gemeinsame Unternehmungen.
Folgerungen und offene Fragen
Vor dem Hintergrund des sich rasant vollziehenden digitalen Wandels der Gesellschaft mit heute noch nicht absehbaren Folgen besteht der erweiterte Bildungsauftrag von Schule unzweifelhaft darin, die bisherigen analogen Kompetenzen um die Vermittlung von Kompetenzen für die digitale Welt zu ergänzen. Nur so können Schülerinnen und Schüler angemessen auf das Leben in der sich ändernden Gesellschaft vorbereitet und zu einer aktiven Teilhabe am kulturellen, politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben befähigt werden.
Gehen dadurch Möglichkeiten verloren, die allein analoge Medien bieten?
Ein Besuch des Ørestad Gymnasiums in Kopenhagen erweist sich als motivierender Anlass, um anhand eines beeindruckenden Beispiels die damit verbundenen Herausforderungen zu diskutieren. Dies schließt Fragen nach dem Sinn und Zweck digitaler Bildung, deren Möglichkeiten und Grenzen mit ein. Zeigte sich das Programmteam der Deutschen Schulakademie – wie sicherlich alle Besuchergruppen – allein schon vom architektonischen Ensemble beeindruckt, gab es auch kritische Nachfragen:
- In welchem Verhältnis steht der Erwerb von grundlegenden wissensbasierten Kompetenzen zu den Möglichkeiten digitaler Medien? Werden diese durch digitale Medien gefördert oder gefährdet?
- Welchen Einfluss haben digitale Medien auf die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden? Kommt die direkte Interaktion zwischen allen an Schule Beteiligten zu kurz, oder eröffnen sich neue Kommunikationsmöglichkeiten?
- Welche Vorteile bietet die ausschließliche Verwendung digitaler Medien für Lehr- und Lernprozesse? Gehen dadurch Möglichkeiten verloren, die allein analoge Medien bieten?
- Hat der Einsatz digitaler Medien im Unterricht einen empirisch nachweisbaren positiven Effekt auf die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler?
- Wie wird sichergestellt, dass die direkte sinnliche Erfahrung und Auseinandersetzung mit Natur, sozialer Umgebung und Gesellschaft insgesamt erhalten bleibt?
- Sind kreative Bildungsprozesse allein anhand digitaler Medien sinnvoll, oder fehlen dadurch wichtige Aspekte, die den Kern von „kreativer Weltaneignung“ ausmachen?
Unbefriedigende Bedingungen für digitale Bildung in Deutschland
Die Ausgangslage für einen um digitale Bildung erweiterten Bildungsauftrag von Schulen ist in skandinavischen Staaten deutlich günstiger als in Deutschland. Die internationale Vergleichsstudie ICILS 2013 (International Computer and Information Literacy Study) weist auf eine insgesamt unbefriedigende Situation in Deutschland hin. Besonders nachdenklich sollte stimmen, dass die Lehrkräfte in keinem anderen Land, das an ICILS teilgenommen hat, seltener einen Computer regelmäßig im Unterricht einsetzen als in Deutschland. Folgerichtig stellt ICILS ein Missverhältnis fest zwischen den Potenzialen, die das Lehren und Lernen mit digitalen Medien bietet, und dem, was in deutschen Schulen geschieht.
Dieses Bild dürfte bis auf wenige Ausnahmen nicht auf die fehlende Bereitschaft deutscher Lehrkräfte zurückzuführen sein, sondern auf eine mangelhafte Ausstattung der Schulen mit digitalen Technologien, auf unzureichende technische und pädagogische Unterstützung und fehlende geeignete Software.
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Zur Person
- Werner Klein leitete beim Sekretariat der Kultusministerkonferenz in Berlin die Abteilung Qualitätssicherung, internationale und europäische Angelegenheiten und Statistik.
- Zuvor arbeitete der Pädagoge im Bildungsministerium Schleswig-Holstein als Leiter des Referats Qualitätsentwicklung an Schulen und im Landesinstitut.
- Schwerpunkte seiner Arbeit sind systematische Schulentwicklung und Bildungsmonitoring.
Werner Klein gehört zum Programmteam der Deutschen Schulakademie.