Lehrerarbeitszeit : Die Unterrichtsstunde ist eine überholte Maßeinheit
Seit gefühlt mehr als hundert Jahren wird die Lehrerarbeitszeit in Deutschland nach den zu unterrichtenden Unterrichtsstunden berechnet. Ist das noch zeitgemäß? In seinem Gastbeitrag für das Schulportal fordert Schulentwicklungsforscher Claus G. Buhren eine grundlegende Reform der Berechnung der Arbeitszeit. Entwicklungs- und Kooperationsarbeit sind wesentliche Bestandteile professioneller Tätigkeit von Lehrkräften und keine Freizeitbeschäftigung.
In Arbeitszeituntersuchungen hat man seit mehr als 25 Jahren versucht, die Arbeitszeit von Lehrkräften zu bestimmen, zu vermessen und zu objektivieren. Vielleicht – oder auch gerade weil – ein Ex-Bundeskanzler Lehrer mal öffentlichkeitswirksam als „faule Säcke“ beschimpft hat. Die jüngste Arbeitszeitstudie für Lehrkräfte fand – wie sollte es anders sein – im Heimatland dieses Ex-Kanzlers, in Niedersachsen, statt. Im November 2018 wurde die Studie samt den Empfehlungen des Expertengremiums der Öffentlichkeit vorgestellt. Und, allen markigen Worten Herrn Schröders zum Trotz: Lehrkräfte arbeiten nicht nur viel, sie arbeiten im Durchschnitt sogar zu viel.
Mehr als die Hälfte der Lehrkräfte überschreitet die vorgeschriebene Wochenarbeitszeit
Das heißt: Mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte überschreiten die vorgeschriebene Wochenarbeitszeit von 46,38 Stunden (hier sind die Ferien eingerechnet), 17 Prozent sogar deutlich, da sie dauerhaft die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche überschreiten. Allerdings sind es auch knapp 40 Prozent der Lehrkräfte, die die vorgeschriebene Wochenarbeitszeit unterschreiten, manche sogar erheblich. Die Varianz liegt bei fast einem Drittel Anteil einer Vollzeitstelle. Eine Vollzeitstelle, das sind in Deutschland 24,5 bis 28 zu erteilende Unterrichtsstunden pro Woche – und genau hier beginnt das Dilemma! Denn genau diese Berechnungsgrundlage ist denkbar ungeeignet, um die reale Arbeitszeit von Lehrkräften abzubilden.
An deutschen Schulen haben wir die 45-Minuten-Unterrichtsstunde. Sie wurde 1911 vom preußischen Kultusminister August von Trott zu Solz gesetzlich verankert, ihre Sinnhaftigkeit ist bis heute unklar. Man munkelt, dass Herr von Trott aufgrund seiner religiösen Sozialisation die 15 Minuten pro Stunde fürs Beten vorgesehen habe, genau weiß man’s aber nicht. Seit fast ebenso vielen Jahrzehnten wird die Lehrerarbeitszeit mit Unterrichtsstunden pro Woche berechnet. Eine denkbar ungenaue und auch ungerechte Maßeinheit! Denn je nach Unterrichtsfach, Vor- und Nachbereitungsaufwand, Jahrgangsstufe oder Klassenstärke unterscheidet sich die individuelle und objektive Bemessungsgröße für eine Unterrichtsstunde. Das führt zu großen Ungleichheiten, wie auch die niedersächsische Studie belegt hat.
Unterricht macht nur 70 Prozent der Arbeitszeit aus
Wenn wir einmal genauer in die Tätigkeitsprofile von Lehrkräften in der niedersächsischen Studie schauen, wird deutlich, dass Unterricht nebst Vor- und Nachbereitung nur etwa 70 Prozent der Arbeitszeit (nach eigenen Angaben) ausmacht. Der Rest verteilt sich auf pädagogische Kommunikation (sieben Prozent), Funktionen (acht Prozent), Fahrten/Veranstaltungen (fünf Prozent), Arbeitsorganisation (vier Prozent) etc. Auffällig ist, dass für Konferenzen und Arbeitsgruppen lediglich vier Prozent der Arbeitszeit aufgewendet werden.
Wie wollen wir also ernsthaft von Lehrkräften verlangen, dass sie sich um Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung kümmern, wenn dies als zusätzliche Arbeitszeit empfunden wird? Wie wollen wir sicherstellen, dass Kooperation in multi-professionellen Teams stattfindet, wenn nicht einmal genug Zeit für Teamarbeit im eigenen Kollegium zur Verfügung steht? Wie kann Schulentwicklung dem Dilemma entrinnen, dass jede Form der Projektarbeit, der Teamarbeit, der Evaluationsarbeit etc. als zusätzliche Arbeit wahrgenommen wird und eigentlich in der Freizeit liegt?
Reform der Lehrerarbeitszeit ist lange überfällig
Kurzum: Eine Reform der Lehrerarbeitszeit wäre mehr als überfällig. Schauen wir auf andere europäische Länder, so wird dort beispielsweise nach unterrichtsgebundener und unterrichtsungebundener Zeit unterschieden. Hier wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Entwicklungs- und Kooperationsarbeit wesentliche Bestandteile professioneller Tätigkeit von Lehrkräften sind. Entsprechend gibt es Arbeitsplatzbeschreibungen von Lehrkräften, die unterschiedliche Tätigkeiten auflisten und diese auch mit einem durchschnittlichen Zeitumfang ausweisen.
Der „Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz“ ist hier vorbildlich, da er bereits 2014 mit seinem neuem Berufsverständnis Leitlinien gesetzt hat: „Während in der Vergangenheit der Berufsauftrag von Lehrpersonen vor allem über die Anzahl Pflichtstunden definiert war, setzte sich in den letzten fünfzehn Jahren die Erkenntnis durch, dass die Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern vielfältiger und anspruchsvoller geworden ist. Neben dem Unterricht sind neue Tätigkeitsfelder von erheblichem Ausmaß dazugekommen, die in den Berufsauftrag integriert werden müssen.“
Vor einer weiteren Arbeitszeitstudie sollte also erst mal die heilige Kuh der Lehrerarbeitszeit geschlachtet werden. Dies ist seit Langem überfällig.
Quelle: Niedersächsisches Kultusministerium: Bericht des Expertengremiums Arbeitszeitanalyse. Hannover 22.10.2018.
Zur Person
- Claus G. Buhren ist Professor für Schulsport und Schulentwicklung an der Deutschen Sporthochschule Köln in der Abteilung Schulsport und Schulentwicklung.
- Er gibt Fortbildungen für Lehrkräfte und Schulleitungen und berät Schulen in Fragen der Schulentwicklung.
- Zurzeit leitet er ein dreijähriges Forschungsprojekt mit dem Ziel, eine E-Learning-Plattform für Schulleitungen an deutschen Schulen im Ausland zu entwickeln.
- Als Experte für Schulentwicklung schreibt Claus G. Buhren regelmäßig Gastbeiträge für das Schulportal.