Beziehungskultur : Macht(losigkeit) im Klassenzimmer
Zwischen Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern entwickeln sich unterschiedliche Machtkonstellationen im Klassenraum, die sich unter bestimmten Voraussetzungen auch stark verändern können. Es gibt dabei Situationen, in denen sich Lehrkräfte hilflos fühlen oder gar mit Gewalt konfrontiert werden. Die Bildungsforscherinnen Anne Piezunka und Jennifer Lambrecht beschreiben in ihrem Gastbeitrag für das Schulportal, welche Anforderungen sich an Lehrkräfte aus den bestehenden Machtverhältnissen im Klassenzimmer ergeben.
Die Frage danach, wer im Klassenzimmer mächtig ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Auf den ersten Blick sind es die Lehrkräfte: Sie entscheiden darüber, wie der Unterricht gestaltet wird, wie viel Mitspracherecht Schülerinnen und Schüler gegeben wird und sie bewerten das Verhalten und die Leistungen der Kinder und Jugendlichen.
Ihre Bewertungen, zum Beispiel in Form von Noten, haben zum Teil entscheidenden Einfluss auf den weiteren Lebensverlauf von Kindern und Jugendlichen. Beispielsweise, wenn es darum geht, welche weiterführende Schule empfohlen wird oder welche Schülerinnen und Schüler besonders gefördert werden. In der soziologischen Literatur werden Lehrkräfte daher häufig als „Gatekeeper“ (Türsteher) bezeichnet.
Lehrkräfte nehmen sich oft nicht als mächtig wahr
In der Praxis nehmen sich Lehrkräfte jedoch häufig nicht als mächtig wahr. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sie wegen eines außergewöhnlichen Vorfalls in der Pause den Unterricht nicht so realisieren können wie geplant. Anstatt des geplanten Unterrichtsentwurfs stehen sie nun vor der Herausforderung die aufgebrachte Klasse zu beruhigen. Oder wenn sie den Eindruck haben, dass sie einzelne Schülerinnen und Schüler mit ihren Ideen und Anweisungen nicht erreichen können, sondern diese ihre Zeit im Unterricht einfach absitzen oder sogar gar nicht erst auftauchen.
Das Gefühl der Machtlosigkeit tritt dann besonders stark ein, wenn sich Lehrkräfte von einzelnen Schülerinnen und Schülern bedroht fühlen. So berichten in einer Befragung des Verbandes Bildung und Erziehung 23 Prozent der Lehrkräfte, dass sie psychische Gewalt erfahren haben und sechs Prozent berichten von physischer Gewalt.
Veränderte Rollenverhältnisse im Unterricht?
In solchen Situationen entsteht bei Lehrkräften das Gefühl, dass sich die Rollenverhältnisse plötzlich verändert haben. Der Lehrkraft erscheint es so, als seien einzelne Schülerinnen und Schüler oder die gesamte Klasse in einer mächtigeren Position. Über dieses Gefühl der Machtlosigkeit von Seiten der Lehrkräfte wird im schulischen Alltag wenig gesprochen. Auch in der wissenschaftlichen Literatur spielt dies eher selten eine Rolle, zum Beispiel in Bezug auf Lehrergesundheit. Hierbei stellt sich die Frage, wie viele Lehrkräfte sich häufig machtlos fühlen und inwiefern sie in diesen Situationen genug Unterstützung erhalten.
Möglicherweise wäre eine Auseinandersetzung mit wahrgenommener Machtlosigkeit auch notwendig, wenn es darum geht, wie Lehrkräfte freiwillig ihren Schülerinnen und Schülern mehr Macht übergeben. So bedarf es in Bezug auf die demokratische Bildung von jungen Menschen eine ständige Reflexion darüber, in welchen Situationen es legitim ist, dass die Macht bei der Lehrkraft liegt und wann Schülerinnen und Schülern Macht übergeben werden kann, etwa in Form von Mitsprache bei der Unterrichtsgestaltung.
Zur Person
- Jennifer Lambrecht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologische Grundschulpädagogik an der Universität Potsdam. Ihr Forschungsinteresse gilt der schulischen Inklusion mit den Schwerpunkten Theorieentwicklung, Ressourcen, Leistungsbewertung und pädagogische Beziehungen. Darüber hinaus betätigt sie sich im Bereich Wissenschaftskommuniktion, unter anderem mit ihrem Blog „Essays aus dem Elfenbeinhochhaus“
- Anne Piezunka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt „Reckahner Reflexionen – zur Ethik pädagogischer Beziehungen“. Im Rahmen ihrer Forschung interessiert sie sich unter anderem für die Umsetzung von Inklusion sowie bewertungssoziologische Fragestellungen.
Mit Macht geht eine besondere Verantwortung einher
Darüber hinaus ist zwischen wahrgenommenen und strukturell verankerten Machtverhältnissen zu unterscheiden: Bei vielen (nicht bei allen) Lehrkräften sind es vermutlich Ausnahmesituationen, in denen sie sich machtlos fühlen, das heißt, im regulären Alltag zeigt sich ein ungleiches Machtverhältnis, bei dem die Schülerinnen und Schüler sich in der unterlegenen Position befinden. Dies lässt sich unter anderem dadurch begründen, dass das ungleiche Machtverhältnis zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern strukturell verankert ist, beispielsweise durch das Schulgesetz. Des Weiteren weisen Arbeiten, die sich mit dem Konzept des Adultismus’ auseinandersetzen, in Bezug auf das Machtverhältnis auf das besondere Verhältnis zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden hin, etwa in Bezug auf Wissensvorsprung und mögliche Handlungsräume.
Für die Lehrkraft geht daher mit der vorhandenen Macht – unabhängig davon, wie diese empfunden wird – eine besondere Verantwortung einher: Machtmissbrauch, der sich darin widerspiegelt, dass sie Schülerinnen und Schüler beleidigen und verletzen, ist ethisch nicht zulässig. Insbesondere nicht in den Situationen, in denen sie sich selbst machtlos fühlen.
Einfach formuliert: Auch wenn sie angegriffen werden und sich ohnmächtig fühlen, müssen Lehrkräfte in ihrer professionellen Rolle bleiben. Eine herausforderungsvolle Aufgabe!
Hierbei können im schulischen Alltag die Reckahner Reflexionen als Orientierung dienen. Die zehn Leitlinien beschreiben, was es bedeutet im pädagogischen Kontext Verantwortung zu übernehmen.
Weiterführende Literatur:
- Knauer, R., & Hansen, R.: Zum Umgang mit Macht in Kindertageseinrichtungen. Reflexionen zu einem häufig verdrängten Thema, erschienen in Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (8) 2010.
- Prengel, A.: Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz, erschienen im Verlag Barbara Budrich 2013.
- Demokratie und Vielfalt in der Kindertagesbetreuung