Kolumne

Jannis Andresen : „Best Practice“ ist tot – es lebe „Best Practice“!

Warum die Auseinandersetzung mit „guten Schulen“ und pädagogischen Leuchttürmen dringend in die Lehramtsausbildung gehört – und weshalb sie dennoch mit Vorsicht zu genießen ist, erklärt Jannis Andresen in seiner Kolumne für Das Deutsche Schulportal.

Jannis Andresen
Kolumnist Jannis Andresen plädiert dafür, dass die Auseinandersetzung mit „guten Schulen“ Teil der Lehramtsausbildung ist.
Kolumnist Jannis Andresen plädiert dafür, dass die Auseinandersetzung mit „guten Schulen“ Teil der Lehramtsausbildung ist.
©iStock

Nachwuchs-Lehrkräften fehlt oft die Vorstellungskraft dafür, was an „guten Schulen“ für pädagogische Höchstleistungen möglich sind. Dabei gibt es sie: Schulen, die sich auf ungewöhnliche Wege begeben haben und damit beachtliche Erfolge erzielen. Das Problem: Bei der Ausbildung von Lehrkräften spielen diese Schulen meist keine Rolle.

In anderen Bereichen ist das anders. Nachwuchsfußballer wissen, wo Ronaldo oder Messi die Messlatte anlegen. Nachwuchsunternehmer und -unternehmerinnen kennen die genialen Geschäftsmodelle der erfolgreichsten Firmen und analysieren deren Erfolgsgeheimnisse – so wie Rhetorikstudierende die berühmtesten Reden der Weltgeschichte. „Best Practice“ lautet ein Stichwort, das immer wieder fällt. Oder, frei auf Deutsch: Von den Besten lernen.

Die Frage, was eine gute Schule ausmacht, haben wir nie diskutiert.
Jannis Andresen, Mitgründer der Studierenden-Initiative „Kreidestaub“

Woran aber orientiert sich eine junge Lehrkraft, die Schule gestalten will? Wie soll sie einschätzen, wie viel Luft – schulpädagogisch gesprochen – an ihrer Schule noch nach oben wäre? Wie soll sie eine Vorstellung von Qualität entwickeln, wenn sie sich nicht mit den Schulen beschäftigt, die als „gut“ gelten?

Es klingt paradox, aber in meinem Lehramtsstudium sprachen wir wenig über Schule. Auch die Frage, was eine gute Schule ausmacht, haben wir nie diskutiert. Stattdessen ging es viel um die Didaktik im Unterricht. Zweifelsohne ein wichtiges Feld, jedoch sind viele der Aspekte, die die Qualität einer Schule ausmachen, dem Unterricht noch vorgelagert: Es geht um die Rahmenbedingungen, in denen Unterricht stattfindet, und darum, wie er reflektiert und weiterentwickelt wird. Es geht um die gelebte Kultur einer Schule, um Formen des Zusammenlebens und des Zusammenarbeitens, um Organisationsmuster und Kooperationsstrukturen. Es geht darum, welche Entwicklungsspielräume eine Schule sieht und wie sie diese nutzt.

Ohne die Lernreise wäre ich bereits vor meinem ersten Arbeitstag an einer Schule betriebsblind gewesen.
Kommilitone von Jannis Andresen

Beim Thema Schulqualität wollte ich mich nicht mit Mittelmaß zufriedengeben. Ich wollte wissen, wie die besten Schulen arbeiten. Ich wollte erleben, tiefer einsteigen und wirklich verstehen. Was ich brauchte? Best Practice!

Deshalb engagiere ich mich in dem Lernreise-Projekt der Initiative „Kreidestaub“, die seit 2017 Projektpartner der Deutschen Schulakademie ist. Darin unterstützen wir deutschlandweit Lehramtsstudierende, sich auf selbst organisierte Reisen zu außergewöhnlichen Schulen zu begeben, um von ihnen zu lernen. Die Begegnungen mit diesen Schulen, das beobachte ich immer wieder, lassen die Studierenden – wie auch mich – nicht kalt! Mehr noch: Bei mir geriet damals etwas in Bewegung, das mich nachhaltig veränderte. Ich legte Scheuklappen ab und Schalter um, von denen ich nicht mal wusste, dass sie existierten. Ich spürte neue Energie und bekam richtig Lust auf meine Zukunft als ein Lehrer, der seine Schule zum Positiven gestalten und ungeliebte Zustände überkommen kann. Niemand konnte mir jetzt noch erzählen, es werde nicht gehen. Ich hatte es ja gesehen!

„Ohne die Lernreise wäre ich bereits vor meinem ersten Arbeitstag an einer Schule betriebsblind gewesen“, stellte ein Mitstudierender mal treffend fest. Ich bin deshalb überzeugt: Gute Schulen und die Expertise ihrer Akteure sollten im Lehramtsstudium eine stärkere Rolle spielen. Aber auch die Diskussion unterschiedlicher Verständnisse davon, was eigentlich „gut“ heißt. In beidem steckt großes Potenzial. Nicht nur als Mittel gegen Betriebsblindheit. Insofern: Ja, es lebe „Best Practice“!

Zur Person

  • Jannis Andresen ist Mitgründer von „Kreidestaub“ – einer bundesweiten Initiative von Studierenden aus dem Bildungsbereich.
  • Darin engagiert er sich vor allem für das Projekt „Prinzip Lernreise“. Dieses neue Format für die Lehramtsausbildung schickt Studierende auf selbstorganisierte Reisen zu den interessantesten Schulen Deutschlands. Dadurch hat er bis heute an 36 verschiedenen Schulen Hospitationen unternommen.
  • Jannis Andresen studierte an der Universität Hamburg und der Humboldt-Universität zu Berlin Lehramt für Gymnasien. Seine Fächer: Geographie und Englisch.
  • Seine persönlichen Interessenschwerpunkte galten dem Thema Schulentwicklung und – als Betroffener – der Lehrkräftebildung.

Doch Vorsicht! Das geflügelte Wort von „Best Practice“ ist nicht unproblematisch. „Best Practice“ suggeriert, es gebe allgemeingültige, rezepthafte, „beste“ Lösungen, die für jede Schule passen. Dieses Verständnis halte ich für gefährlich. Jede Schule ist anders! Schulpädagogische Maßnahmen sollten zum Kontext der Schule passen. Sie sollten aus dem Umfeld der Schule heraus entwickelt und von den Menschen vor Ort getragen werden. Nur selten lässt sich etwas eins zu eins von einer anderen Schule übernehmen.

Ich glaube, es braucht auch gar nicht „die Besten“, um Lehramtsstudierende zu elektrisieren, sondern es reicht eine vielfältige, gern widersprüchliche, aber anregende Mischung aus „gut und anders“. Ich nehme mir deshalb auch vor, den Begriff von „Best Practice“ fortan nicht mehr zu verwenden. Vielleicht eher noch „Good Practice“. Eine Professorin schlug mal vor, weder von „besten Schulen“ noch von „guten Schulen“ zu sprechen, sondern von „interessanten Schulen“. Für welchen Begriff mensch sich auch entscheiden mag: Die interessanten Schulen sind ein lohnendes Studienobjekt!

Ihr größter Wert liegt weniger in ihren konkreten Konzepten (im Sinne von „Patentlösungen“) als vielmehr darin, was diese Schulen bei uns bewirken können: Sie stellen lähmende Gewissheiten infrage, fordern Glaubenssätze heraus und erweitern unser inneres Bild darüber, wie Schule sein kann. Sie machen Lust, sich selbst direkt an die Arbeit zu machen.