Kolumne

Bittschrift : Ach, du liebes Abitur!

Schulportal-Kolumnist Matthias Förtsch findet, dass das Abitur eine Generalüberholung nötig hat. Allein die Prüfungen wirken wie aus der Zeit gefallen. Dabei zeigen Schulreformen wie in Finnland oder das Format „Besondere Leistungen“, wie es besser geht. Förtsch wünscht sich Mut zu Veränderungen, damit das Abitur nicht bedeutungslos wird.

Matthias Förtsch
Abiturienten sitzen bei der Prüfung an einzelnen Tischen
Bei den Abiturprüfungen müssen die Schülerinnen und Schüler mit Wörterbüchern arbeiten und per Hand schreiben.
©dpa

Liebes Abitur,

Du trägst einen schönen Namen, einen Namen, der Bewegung andeutet. Denn das lateinische Verb „abiturire“ bedeutet „abgehen wollen“, sozusagen den finalen Schritt hinaus aus den Zwängen der Schule wagen. Bei Wikipedia lässt sich nachlesen, dass mit dem Abitur die Studierfähigkeit nachgewiesen wird. Du berechtigst zum Studium an allen Hochschulen Deutschlands. In Dir steckt zwar der Weg nach vorne, was toll ist! Und doch hat sich in den letzten Jahren bei Dir selbst so wenig bewegt.

In Dir steckt zwar der Weg nach vorne, was toll ist! Und doch hat sich in den letzten Jahren bei Dir selbst so wenig bewegt.

Okay, die Kompetenzorientierung hat Einzug gehalten: (träges) Wissen ist etwas weniger bedeutsam für das Bestehen der Prüfungen geworden, die Abiturientinnen und Abiturienten müssen schon zeigen, dass sie mit ihrem Wissen auch etwas anfangen können. In den Fremdsprachen wird jetzt auch mündlich geprüft, und der Seminarkurs bietet mehr Freiheiten und die Möglichkeit zu wirklichem wissenschaftspropädeutischen Arbeiten, das dann zu besagter „Studierfähigkeit“ führen soll.

Noteninflation führt zu fehlendem Vertrauen bei Universitäten und Arbeitgebern

Dennoch wirst Du heftig kritisiert. Es wird Dir zum Beispiel vorgeworfen, dass Du immer leichter zu werden scheinst: Die Zahl der Einser-Abiturientinnen und -Abiturienten hat rasant zu- und damit angeblich Deine Bedeutung abgenommen. Gab es im Jahr 2006 rund 2.500 Abiturientinnen und Abiturienten mit dem Notendurchschnitt von 1,0, so hat sich die Zahl bis 2017 mehr als verdoppelt (auf etwa 5.700). Das zeigt zumindest eine Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). Manch einer vermutet aber auch, dass die Schülerinnen und Schüler immer schlauer werden.

Diese viel zitierte Noteninflation führt jedenfalls dazu, dass Universitäten und Arbeitgeber Dir schon länger nicht mehr ganz vertrauen, da sie in zunehmendem Maße ihre eigenen Aufnahmeprüfungen und Assessment-Center gestalten. Und, seien wir ehrlich, dieses fehlende Vertrauen ist ja auch durchaus verständlich, sind doch die Anforderungen an die Abiturientinnen und Abiturienten in den Bundesländern sehr unterschiedlich.

Die Abiturprüfungen wirken wie aus der Zeit gefallen

Auch Deine Organisation wirkt wie aus der Zeit gefallen: Da sitzen die Schülerinnen und Schüler in den meisten Prüfungssituationen getrennt voneinander und still an Einzeltischen und schreiben 8 bis 20 Seiten mit der Hand. Kommunikation und Kollaboration sind unerwünscht. Alle internetfähigen Geräte müssen ausgeschaltet vor der Prüfung abgegeben werden. Weltweit gesammelte Informationen zu nutzen ist ebenfalls unerwünscht. In den Fremdsprachen dürfen die Abiturientinnen und Abiturienten Wörterbücher aus Papier verwenden, die nur noch ihre Großeltern heutzutage nutzen – wenn überhaupt.

Da sitzen die Schülerinnen und Schüler in den meisten Prüfungssituationen getrennt voneinander und still an Einzeltischen und schreiben 8 bis 20 Seiten mit der Hand.

Wie bereiten so altmodisch anmutende Abiturprüfungen auf die Welt da draußen vor, in der Kommunikation und Kollaboration gefordert sind und insbesondere der Umgang mit der Masse an verfügbaren Informationen eine der größten Herausforderungen darstellt? Und in welchen beruflichen Situationen wird denn wirklich noch regelmäßig von Hand geschrieben?

In Finnland können die Schülerinnen und Schüler das Abitur am Laptop schreiben

Liebes Abitur, sag doch bitte Deinen Organisatoren, dass Dir ein frischer Anstrich allein nicht mehr reicht, dass Du entkernt, umgebaut und neu eingerichtet werden möchtest. Sie könnten sich ein Beispiel an Finnland nehmen, wo seit der Schulreform in den Jahren 2014 bis 2016 alle Schülerinnen und Schüler ihr Abitur am Laptop schreiben (was für sich gesehen noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann). Oder sie könnten sich am Format der deutschlandweit vorgesehenen „Besonderen Lernleistung“ (BLL) orientieren, mit der ein Prüfungsfach im Abitur bereits jetzt durch die Teilnahme an einem Wettbewerb, durch eine Jahres- oder Semesterarbeit, durch ein fachübergreifendes Projekt oder ein umfassendes Praktikum ersetzt werden kann.

Liebes Abitur, keine Angst, Du bist noch nicht bedeutungslos, solange die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern zu Dir aufschauen. Aber Du wirst Dich ändern müssen, wenn das so bleiben soll.

Viel Erfolg dabei wünscht Dir

Matthias Förtsch

Zur Person

  • Matthias Förtsch ist Lehrer für Englisch und Gemeinschaftskunde (Politik, Wirtschaft und Soziologie) an einem privaten, gebundenen Ganztagsgymnasium in Baden-Württemberg.
  • Zusätzlich ist er hauptverantwortlich für die Schulentwicklung an seiner Schule.
  • Die Zukunft der Schule interessiert ihn so sehr, dass er darüber auch twittert und regelmäßig in seinem Blog berichtet.
  • Für Das Deutsche Schulportal schreibt Matthias Förtsch regelmäßig eine Kolumne.