Raumgestaltung : Zeitgemäße Lernräume in einem alten Gebäude – wie geht das?

Ganztagsschule, Inklusion, Digitalisierung – zeitgemäße Pädagogik braucht neue Räume. Spektakuläre Neubauten zeigen offene Lernlandschaften, Rückzugsräume und Wellbeing-Oasen. Doch wie geht das in alten Schulgebäuden, die noch unter ganz anderen Prämissen geplant wurden? Die niedersächsische Grundschule auf dem Süsteresch hat es geschafft, über Jahre aus einem veralteten und viel zu engen 1970er-Jahre-Gebäude eine moderne Ganztagsschule mit einer Study Hall und sehr vielfältigen Räumen zu machen.

Wie unter einer Zirkuskuppel hängt im Lichthof der geflügelte Stuhl, den die Schule 2016 für den Deutschen Schulpreis bekommen hat.
©Florentine Anders
In der Selbstlernzeit können die Kinder die Arbeitsplätze im Atrium für ihre Projekte nutzen.
©Florentine Anders
Nach der großen Pause, werden die leichten Tische mit Rollen weggeräumt.
Jeden Tag tanzt die gesamte Schule nach der großen Pause in dem wandelbaren Lichthof.
©Florentine Anders
Von außen ist das flache Schulgebäude aus den 1970er-Jahren eher unscheinbar.
©Florentine Anders

Am Montagmorgen um 7 Uhr stehen die ersten Schülerinnen und Schüler vor der Grundschule auf dem Süsteresch. Sie kommen aus dem niedersächsischen Städtchen Schüttorf oder den umliegenden Dörfern nahe der niederländischen Grenze. Alte rote Backsteinhäuser und grüne Wiesen prägen den Anblick. Aus rotem Backstein ist auch das Schulgebäude. Der Flachbau entstand 1971. Die Schüler strömen am Morgen durch einen kleinen gedrungenen Eingang in den Flachbau, vorbei an der Pförtnerloge und der Hygienestation: zum Atrium. Völlig unerwartet öffnet sich hier ein riesiger Raum mit einem aufgesetzten pyramidenförmigen Glasdach, das einer Zirkuskuppel gleicht.

„Lichtblick“ haben die Kinder das Atrium getauft, das nicht nur räumlich das Zentrum der Schule bildet. „Das ist unser Herz!“, sagt Schulleiter Heinrich Brinker. Hier fließt alles zusammen – und verteilt sich dann wieder bis in die kleinsten Zellen des Gebäudes, Nischen, in denen Kinder sich zu zweit oder zu dritt zum Lernen zurückziehen können. Ursprünglich war das Atrium ein Innenhof. Brinker erinnert sich an Zeiten, in denen er dort unter freiem Himmel mit seinen Schülerinnen und Schülern übernachtet hat.

Ein Besuch an Ganztagsschulen in Atlanta veränderte den Blick

Brinker ist seit 1995 Schulleiter der Grundschule auf dem Süsteresch. In den folgenden Jahren entwickelte er eine besondere Vision von Schule, die vor allem von einem Schulleitungsaustausch geprägt worden war. 1996 durfte er in Atlanta, Georgia, an verschiedenen Ganztagsgrundschulen hospitieren. „Ich konnte nur staunen, wie diese Schulen räumlich ausgestattet waren. Es gab immer eine Mensa, eine Bibliothek, eine Aula, Computer und vieles mehr, wovon Schulen in Deutschland nur träumen konnten“, sagt er. Als dann der US-amerikanische Kollege 1999 zum Gegenbesuch in die Grundschule nach Schüttorf kam, staunte sein Amtskollege über die Rückständigkeit des deutschen Schulsystems: keine Betreuung nach dem regulären Unterricht, kein Ganztagsangebot, keine Küche, kein Mittagessen, keine Aula …

„Was das Bildungssystem und auch die Ausstattung anging, lebten wir damals ja tatsächlich noch hinter dem Mond“, sagt Brinker. An der Grundschule auf dem Süsteresch wurden die Kinder damals nach dem Unterricht abgeholt, und wenn die Lehrerin oder der Lehrer krank war, reichte ein Anruf bei den Eltern, und sie blieben gleich zu Hause.

Wie rückständig Deutschland seinerzeit im internationalen Vergleich war, offenbarte dann auch die PISA-Studie im Jahr 2000. Die Grundschule auf dem Süsteresch sollte nun wie viele andere Schulen auch Verlässliche Grundschule – zunächst wenigstens bis 13.10 Uhr – sein. Doch die Räume waren dafür nicht ausgelegt. Mittagessen wurde von der Bürgerhilfe gekocht. Die Tische standen in den Gängen, daneben standen Eimer, weil es durch das undichte Flachdach des in die Jahre gekommenen Gebäudes tropfte. 2007 wurden dann 1,4 Millionen Euro in die Sanierung investiert. Brinker sah die Chance, endlich seine Vision von einer Ganztagsschule umzusetzen, die er seit Atlanta vor Augen hatte.

Gemeinsam mit einem Architekten neue Räume erschließen

Gemeinsam mit einem Architekten aus Schüttorf schmiedete er Pläne, wie sich in dem alten Gebäude neue Räume erschließen lassen. Eine Study Hall mit verschiedenen Arbeitsplätzen, eine Mensa mit Küche, eine Aula mit Bühne, eine Bibliothek, ein Forscherzimmer, Rückzugsräume für die individuelle Förderung, Computerarbeitsplätze, ein Malkabinett zum Klecksen und Kleckern, ein kleines Tonstudio für das Schulradio, eine Baubude als Bau- und Konstruktionsraum, ein Tanzraum mit Spiegelwand … Utopisch in einem Gebäude, das schon damals aus allen Nähten platzte?

Der Architekt nahm die Herausforderung an. Wenn der Schulleiter heute durch die Gänge und Räume führt, dann hat er immer auch die alten Grundrisse vor Augen. „Man kann sie gut an den Brüchen im Bodenbelag erkennen“, sagt er. Die gesprenkelten Terrazzofliesen waren ursprünglich nur auf den breiten, ungenutzten Fluren der Schule zu sehen. In den Klassenzimmern gab es Linoleumböden. Die Schülerbibliothek etwa wurde vom Flur abgetrennt – klar erkennbar an den Bodenfliesen –, ebenso die schuleigene Küche, wo gerade das Mittagessen vorbereitet wird. Im „Lichtblick“, für den die Mauern eingerissen wurden, sind die verschiedenen Fußbodenbeläge vereint. Für die Kinder spielen sie keine Rolle mehr.

Bis zur Hofpause stehen im Atrium Tische und Stühle mit Rollen, an den tragenden Säulen gibt es Computerarbeitsplätze, ebenso an den Wänden. Doch die meisten Kinder arbeiten ohnehin lieber mit Tablets, mit denen sie sich frei bewegen und nach Belieben den Arbeitsplatz wechseln können. In jeder Klasse gibt es einen Tresor mit acht solcher Tablets, die sich die Kinder nach Bedarf aushändigen lassen.

Im Lichthof sitzen die Zweitklässlerinnen Johanna und Leonie und recherchieren im Internet zu Flamingos. Das Thema haben sie sich selbst ausgesucht, weil sie die Vögel mögen. Sie wollen ein Plakat in Pink dazu gestalten und eine Präsentation halten. Hier können sie sich in Ruhe in ihr Thema vertiefen, sich austauschen, ohne andere zu stören. Und die Lehrerin sitzt auch nicht daneben.

In der Grundschule auf dem Süsteresch gibt es nach dem gemeinsamen Morgenkreis in der Klasse die Selbstlernzeit, in der die Kinder entscheiden, ob sie in der Baubude mathematische Probleme lösen oder etwa in der Bibliothek eine Buchvorstellung vorbereiten. „Wir vertrauen darauf, dass Kinder lernen wollen. Das bedeutet für die Lehrkräfte auch, ein Stück Kontrolle loszulassen und den Kindern Freiheiten zu bieten“, sagt der Schulleiter.

Leicht bewegliches Mobiliar für eine multifunktionale Nutzung

Zwei Stunden später verwandelt sich die Study Hall samt individuellen Arbeitsplätzen mit Internetzugang in eine große Tanzhalle. Innerhalb nur zehn Minuten sind alle Tische in einer Ecke gestapelt und alle höhenverstellbaren Stühle weggerollt. Das leicht bewegliche und robuste Mobiliar macht die so unterschiedliche Nutzung des Atriums möglich. Zwei Mal am Tag wird auf diese Weise das Atrium erst komplett leer und dann wieder eingeräumt.

Auf der Bühne steht jetzt eine Gruppe Kinder, die sich für den heutigen Tag eine Choreografie zu ihrem Lieblingssong ausgedacht hat. Aus den Boxen der Anlage schallt laute Musik. Die gesamte Schule stellt sich auf und tanzt die Choreografie nach. Sie hüpfen, werfen die Hände in die Luft, schütteln, dehnen und strecken sich. Alle machen mit – auch die Lehrerinnen und Lehrer – und starten dann in die sogenannte Trainingsphase.

Nach der Selbstlernzeit finden die Kinder wieder im Klassenraum zusammen. Wer sich traut und so weit ist, kann seine Arbeit präsentieren. Jeder Klassenlehrer hat seinen „Tresor“ im Klassenraum: eine Kiste, in der die Arbeitsergebnisse des Tages wie Schätze gesammelt werden. Nach dem Unterricht überarbeitet der Lehrer oder die Lehrerin den Tresor, gibt Tipps, Anregungen, verteilt Lob oder Verbesserungsvorschläge – Feedback eben – und überlässt so nichts der Beliebigkeit.

Zum Mittagessen verwandelt sich die Study Hall in die Mensa. Ruck, zuck sind die Tische wieder auf den 400 Quadratmetern verteilt.

Die Idee solch offener multifunktionaler Lernlandschaften ist schon in den Reformschulen der 1970er-Jahre entstanden. Die Laborschule Bielefeld, die sich auch Schulleiter Brinker vor Ort genau angesehen hat, ist beispielsweise nach dieser Idee entworfen worden. Eine zeitgemäße Pädagogik sollte in der Versuchsschule mit einer entsprechenden Architektur verbunden werden. Doch häufig haben sich die Ideen nicht durchgesetzt. Den Lehrerinnen und Lehrern fehlten Rückzugsräume für individuelle Förderung, Nischen für Gruppenarbeit. Auch die Laborschule Bielefeld hat das Raumkonzept inzwischen weiterentwickelt.

Offene Lernlandschaften brauchen Inseln und Rückzugsräume

An der Grundschule auf dem Süsteresch wurde dieser Bedarf an Inseln und Nischen bei der Sanierung gleich mitgedacht. „Wir haben einige Klassenräume dreigeteilt“, erklärt Brinker. Die Tür zum ehemaligen Klassenraum führt nun in einen Flur mit Computerarbeitsplätzen. Von dort gehen zwei Türen ab in kleine Gruppenarbeitsräume, die aussehen wie Konferenzräume: in der Mitte ein großer ovaler Tisch, drum herum bequeme gepolsterte Stühle.

Die Nutzungsmöglichkeiten sind vielfältig. Schüler können Projekte planen, Lehrkräfte können hier ihren Unterricht gemeinsam weiterentwickeln. Oder es gibt besondere Förderangebote für Kleingruppen. „Auch die Inklusion, die in Niedersachsen seit 2013 umgesetzt wird, hat zu einer Reihe räumlicher Veränderungen geführt, die der heterogenen Schülerschaft besser gerecht wird“, sagt der Schulleiter, während er weiter durch das Gebäude führt.

Die Vielfalt der Räume scheint unerschöpflich. Aus dem Geräteraum wurde eine Druckwerkstatt, aus einem kleinen Raum für Putzmittel die Mal-Oase. Über einen Coup freut Brinker sich noch heute ganz besonders: Die ehemalige Jungentoilette hat er mithilfe des findigen Architekten zum Forscherlabor umfunktioniert (dafür wurde in der viel zu großzügig bemessenen Mädchentoilette ein Jungen-Bereich abgetrennt). In den Regalen stehen nun Kästen mit Materialien fürs Experimentieren zu Themen wie „Brücken“, „Wetter“ oder „Wasser“. Der siebenjährige Orkun freut sich schon das ganze Schuljahr über auf diesen Raum. Der Erstklässler war noch nie da, erzählt er, denn wegen Corona waren all die freien Angebote bis vor Kurzem noch tabu.

Geplant sind ein Raum für Ergo- und Logotherapie und ein Ruheraum für Lehrkräfte

Die Entwicklung der Räume – sie werden in der Schule „Lernateliers“ genannt – ist noch lange nicht beendet, auch wenn der Grundriss des alten Flachbaus mittlerweile ausgereizt ist. Im Zuge des Ganztagsausbaus hat die Grundschule auf dem Süsteresch aber zwei weitere, auch auf dem Schulgelände befindliche Gebäude hinzubekommen, die früher von der katholischen Grundschule genutzt wurden. Hier werden inzwischen bei Bedarf die Kinder im Ganztag betreut. „Wir nennen sie ,Sonnenhaus‘ und ,Blumenhaus‘ – es soll eine richtige Wohlfühloase werden! Und nicht nur für die Kinder, auch für Kolleginnen und Kollegen“, sagt Brinker. Geplant seien beispielsweise ein Therapieraum für Ergo- und Logotherapeuten und ein Rückzugsraum, den man verdunkeln kann, mit einer Liege, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Mehr zum Konzept

An der Grundschule auf dem Süsteresch, Presiträgerschule des Deutschen Schulpreises, gibt es viel Raum für individuelles Lernen. Das Konzept sieht täglich Selbstlernzeiten und Trainingszeiten vor. Wie das geht, hat das Schulportal in einem Video veranschaulicht. Mehr zum Konzept erfahren Sie hier.