Interview : Wie guter Ganztag gelingt
Bis 2025 soll der Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder kommen. Damit das neu aufgelegte Ganztagsprogramm der Bundesregierung ein Erfolg wird, fordern Wissenschaftler jedoch dringend verbindliche Qualitätsstandards. Erziehungswissenschaftler Stephan Bloße begleitet mit einem Experten-Team an der TU Dresden seit mehr als zehn Jahren den Ausbau des Ganztags in Sachsen. Das Deutsche Schulportal hat nachgefragt, welche Faktoren sich als erfolgreich erwiesen haben und wo die größten Schwierigkeiten liegen.

Bildungsforscher plädiert für mehr Kooperation an den Schulen
Deutsches Schulportal: Herr Bloße, in Sachsen gibt es bereits jetzt eine fast vollständige Bedarfsdeckung bei der Ganztagsbetreuung an Grundschulen. Ist das von der Bundesregierung vorgegebene Ziel damit schon erreicht?
Stephan Bloße: Tatsächlich können nahezu alle Grundschulkinder in Sachsen auch am Nachmittag betreut werden, ganz gleich, ob die Eltern berufstätig sind oder nicht. Die Bereitschaft dafür ist bei den Eltern groß, durchschnittlich etwa 83 Prozent aller Schüler nehmen das Angebot wahr, wobei die Teilnahmequoten entsprechend dem Alter der Schüler und der regionalen Lage variieren. Familienpolitisch ist damit das Ziel erreicht. Allerdings bedeutet der Anspruch auf Betreuung noch lange nicht, dass die Schüler alle eine echte Ganztagsschule besuchen. Da gibt es auch in Sachsen große Unterschiede. Das bundesweite Ziel sollte sein, dass alle Kinder einen Anspruch auf guten Ganztag haben.
Wie sehen die Unterschiede zwischen einer echten Ganztagsschule und einer Schule mit Nachmittagsbetreuung an Grundschulen aus?
In Sachsen gibt es im Primarbereich für die Nachmittagsbetreuung die traditionell gewachsenen Strukturen der Horte. Im Gegensatz zu den Schulen sind die Hort-Erzieher bei öffentlichen oder freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe angestellt. Eine gute Ganztagsschule kann aber nur gelingen, wenn die Sozialpädagogen, Erzieher und Lehrer eng miteinander kooperieren und Unterricht und Ganztagsangebote eng miteinander verzahnt werden. Zwar müssen Schulen und Horte für den Ganztag eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnen, doch das sagt mitunter wenig darüber aus, wie die Zusammenarbeit in der Praxis tatsächlich funktioniert und auch weiterentwickelt wird.
Zur Person:
Dr. phil. Stephan Bloße ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Berufspädagogik und Berufliche Didaktiken der TU Dresden. Dort forscht er im Auftrag des Staatsministeriums für Kultus mit einer Expertengruppe in dem Langzeitprojekt „Wissenschaftliche Begleitung und Evaluation der Förderung der Ganztagsangebote im Freistaat Sachsen“.
2017 promovierte Stephan Bloße im Fachbereich Erziehungswissenschaften zum Thema „Bildungspolitische Steuerungsimpulse und Schulentwicklung im Kontext des Ganztagsschulausbaus“.

Woran erkennen Sie, ob die Kooperation vor Ort gut klappt?
Wenn ich an eine Schule komme und mich für den Ganztag interessiere, sehe ich meist auf den ersten Blick, ob es eine echte Kooperation gibt oder ob diese nur auf dem Papier steht. Das beginnt schon damit, ob zum vereinbarten Termin neben Lehrkräften auch Erzieher und Sozialpädagogen als Ansprechpartner dabei sind. Wenn es einen Austausch gibt und Sozialpädagogen und Erzieher auch am Vormittag schon teilweise mit im Unterricht sind, können die Schüler tatsächlich davon profitieren. Das ist bei den gebundenen Ganztagsschulen oftmals der Fall. Etwa ein Drittel der Grundschulen in Sachsen zählt dazu. An einigen Schulen gibt es aber auch nur ein oder zwei Angebote pro Woche, die von den Schülern genutzt werden. Ganz schwierig wird es, wenn die Horte die Ganztagsangebote der Schule als Konkurrenz ansehen oder die räumliche Trennung der beiden Einrichtungen eine Zusammenarbeit erschwert.
„Die Vorgaben der Kultusministerkonferenz für Ganztagsschulen sind minimal“
Gibt es dafür keine festgelegten Standards?
Nein. Wie viele Angebote die Schulen machen und in welcher Form, entscheiden die sächsischen Schulen in Eigenverantwortung. Bundesweit gibt es große Unterschiede hinsichtlich der Vorgaben. Die Vorgaben durch die Kultusministerkonferenz sind minimal. Vorgeschrieben ist lediglich, dass eine Ganztagsschule an drei Tagen mindestens sieben Stunden geöffnet haben muss, dass es eine Schulspeisung gibt, dass die Verantwortung für den Ganztag bei der Schulleitung liegt und dass ein konzeptioneller Zusammenhang zwischen den Angeboten des Ganztags und dem Unterricht besteht.
Können die Bundesländer da nicht eigene qualitative Vorgaben machen?
In Sachsen gibt es seit Ende 2016 einen Qualitätsrahmen, der qualitative Ansprüche enthält und den Schulen nahelegt. Ich denke, die Eigenverantwortlichkeit der Schulen ist dabei ebenso wichtig. Der Ganztag funktioniert nur in den Schulen gut, wo das Konzept vom gesamten Kollegium und auch von den Eltern überzeugt mitgetragen wird. Auch das haben unsere Studien gezeigt.
Welche weiteren Faktoren zeichnen die guten Ganztagsschulen in Sachsen aus?
Neben der Kooperation ist auch die räumliche Gestaltung der Schule wichtig. Gute Ganztagsschulen sind daran zu erkennen, dass die räumliche Struktur aufgelockert und einladend ist. Dazu gehören auch Sitzgruppen außerhalb des Klassenzimmers, Räume, die sich zum selbstständigen Lernen eignen – wie etwa eine Bibliothek –, und natürlich ein Außengelände mit Sport- und Freizeitmöglichkeiten. Viele Schulen sind in dieser Hinsicht aber stark eingeschränkt.
Wie wichtig ist die Kooperation mit externen Partnern?
Am besten ist, wenn es externe und eigene Angebote an den Schulen gibt. Wenn die Lehrkräfte oder sozialpädagogischen Fachkräfte Förderkurse anbieten, kennen sie die Schüler viel besser und können tatsächlich individuell auf die Bedarfe eingehen. Ein externer Nachhilfelehrer für Mathe zum Beispiel findet am Nachmittag oft keinen Ansprechpartner mehr in der Schule und weiß nicht, welches Problem im Unterricht aufgetaucht ist. Die Vielfalt der Angebote wächst aber, wenn Schulen auch mit externen Partnern, wie Musikschulen oder Sportvereinen, zusammenarbeiten. Die Befürchtung, dass die Anbieter dadurch keine Kinder mehr in die Vereine oder Musikschulen bekommen, hat sich übrigens nicht bestätigt. Im Gegenteil. Die Studien haben gezeigt, dass die Vereine zum Beispiel durch die Angebote in den Schulen neue Mitglieder gewinnen können. Ähnlich ist es bei den Musikschulen. Eher als ungünstig hat sich erwiesen, wenn Eltern oder Einzelpersonen Angebote machen. In diesen Fällen ist es schwer, Kontinuität anzubieten oder auch Ersatz bei Krankheit zu finden.
Was sollte aus Ihrer Sicht bei einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung beim weiteren Ausbau des Ganztags beachtet werden?
Die eigentlichen Ziele des Ganztags – mehr individuelle Förderung, neue Zeitstrukturen und mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen – sollten dabei nicht aus dem Blick geraten. Auch entsprechende Rahmenbedingungen sind von Politik, Verwaltung und Träger dafür bereitzustellen. Es sollte nicht nur um eine Betreuung für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehen. Ein so hochgestecktes Ziel braucht aber auch Zeit und das Engagement aller an der Schule Beteiligten – das haben wir an der bisherigen Entwicklung gesehen.