Schule im Nordirak : Wie geht Bildung im Flüchtlingscamp und was können wir davon lernen?

Seit dem Völkermord des sogenannten IS im Jahr 2014 in Shingal ist der nordirakische Teil Kurdistans Schutzgebiet für viele geflohene Menschen. Schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche leben dort seither in Camps. Die Schule von „Our Bridge“ liegt direkt neben dem Flüchtlingscamp von Khanke. Eine Forschungsgruppe der Universität Tübingen hat die Schule wissenschaftlich begleitet. Thorsten Bohl, Erziehungswissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe, erzählt im Interview, was diese Schule so besonders macht, warum es wichtig wäre, mehr solche Einrichtungen für Geflüchtete aufzubauen, und welche Erkenntnis er von dort für Schulen in Deutschland mitgenommen hat.

Die Lehrkräfte erkundigen sich noch vor dem Unterricht, ob es den Kindern gut geht oder ihre Familien Unterstützung brauchen.
©Our Bridge
Die ganze Schulgemeinschaft auf dem Hof
Lehrkräfte und Kinder haben eine ganz besondere Verbindung.
©Our Bridge
eine Junge hüpft auf dem Schulhof
Schule und Schulhof wirken wie eine Gegenwelt zum chaotischen Flüchtlingscamp.
©Our Bridge

Schulportal: Sie waren zweimal vor Ort, wie haben Sie die Situation im Flüchtlingscamp in Khanke im Nordirak erlebt, was war Ihr erster Eindruck vom Leben im Camp und von der Schule „Our Bridge“?
Thorsten Bohl: Die Schule liegt in einer sehr fragilen Krisenregion, die politisch unübersichtlich ist. Wenn man dort hinfährt, muss das gut überlegt und vorbereitet sein. Man muss wissen, wie man sich zu verhalten hat, auf welchen Bahnen man sich bewegen kann.

Als ich dort ankam, war ich zunächst erschlagen von dem Flüchtlingscamp. Es ist riesig, staubig, dreckig und heiß. Wenn man dann zwei Kilometer weiterfährt und zur Schule „Our Bridge“ kommt, spürt man sofort, dass das ein sehr freundlicher, durchdachter Raum ist. Schulhof, Spielgeräte, Mobiliar – alles wirkt schön, strukturiert und einladend. Es ist wie ein Gegenentwurf zum Flüchtlingscamp und zur Krisenregion generell. Wenn man dann eintaucht in das Schulleben, braucht man eine Weile, um zu verstehen, wie das funktioniert. Ich habe das eigentlich erst bei meinem zweiten Aufenthalt richtig verstanden, was diese Schule im Kern ausmacht.

Was macht diesen besonderen Kern aus?
Es gibt dort eine ganz spezielle Lehrer-Schüler-Beziehung. Die Besonderheit ist, dass die Lehrkräfte eine ähnliche Biografie haben wie die Kinder und mit ihnen im selben Flüchtlingscamp leben. Die Lehrkräfte sind genauso glücklich wie die Kinder, dass sie mit dieser Schule einen Ort haben, an dem sie sich gern aufhalten. Das prägt auch die Pädagogik.

Wer arbeitet denn an der Schule?
Das Projekt ist hervorgegangen aus einer Initiative deutsch-kurdischer Studierender in Oldenburg, die von dem Studenten Paruar Bako 2015 ins Leben gerufen wurde. Gemeinsam mit einem Netzwerk in Nordirak haben sie nach dem Massaker des IS an den Jesidinnen und Jesiden im Shingal den Verein „Our Bridge“ gegründet und zunächst ein Waisenheim aufgebaut. Daraus ist dann später die Schule hervorgegangen. Formal handelt es sich um einen eingetragenen Verein in Oldenburg. Das macht die Schule vor Ort unabhängig von staatlichen Reglementierungen. Das Vorstandsmitglied und Mit-Schulleiter Michael Erk ist auf die Universität Tübingen zugekommen und hat uns gefragt, ob wir die Schule wissenschaftlich begleiten würden.

Mit welchem Forschungsauftrag sind Sie denn dorthin gegangen?
Das war gar nicht so einfach zu definieren. Wir können ja nicht mit den Qualitätskriterien, die für Schulen in Deutschland gelten, dort die Schule evaluieren und dann Empfehlungen für die weitere Schulentwicklung aussprechen. Das wäre ein unangemessenes Aufdrängen unserer Kultur. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, die Akteurinnen und Akteure vor Ort zu befragen, als eine Art Bestandsaufnahme – nicht aus unserer, sondern aus deren Sicht. Diese Interviews haben wir ausgewertet und systematisiert, um ein Bild über den Status quo und über die Entwicklungsziele aus Sicht der dortigen Akteure zu erstellen. Dabei haben wir dann natürlich auch unsere Interpretationen einfließen lassen.

Was konnten Sie beobachten, wie ist die Schule organisiert?
Um das Grundgerüst zu verstehen, muss man wissen, dass es sich um ein ergänzendes Schulangebot handelt. Deshalb gibt es Vormittags- und Nachmittagsblöcke. Wenn die Kinder nachmittags kommen, gehen sie vormittags in die staatliche Schule. An den staatlichen Schulen dort gibt es jedoch große Probleme, die Klassen sind riesig, die Mittel sehr begrenzt. Die Lehrkräfte sind schlecht bezahlt und wissen häufig nicht, ob sie überhaupt am Ende des Monats Geld bekommen. Deshalb gibt es eine große Fluktuation. Effektive Lernprozesse können dort kaum ablaufen. Das macht das ergänzende Angebot von „Our Bridge“ so bedeutsam.

Hier gibt es kleine Klassen von ca. 15 Schülerinnen und Schülern, um angemessen pädagogisch arbeiten zu können. Ethisch ist das nicht leicht, denn es gibt sehr viele Anträge von Kindern, die nicht aufgenommen werden können. In dem Flüchtlingscamp leben 4.000 Kinder und Jugendliche, an der Schule werden nur 400 aufgenommen. Der Bedarf wäre zehnmal höher. Am Zaun um das Schulgelände stehen ganz viele Kinder, die auch dort reinwollen. Für das Gelingen der Pädagogik aber sind kleine Klassen wichtig. Die Schülerinnen und Schüler sind zum Teil schwer traumatisiert. Die Vorkenntnisse sind oft sehr gering. In Deutschland würden diese Kinder vermutlich im Sonderschulbereich unterrichtet, wo die Klassen noch kleiner sind.

Wie sind die Lehrkräfte ausgebildet?
Die Lehrkräfte haben zum großen Teil ein fachwissenschaftliches Studium abgeschlossen, selten mit didaktischen oder pädagogischen Anteilen. Das ist ein grundsätzliches Strukturproblem, das allerdings im Unterrichtsalltag wenig auffällt. Der Schulleiter Michael Erk leitet die Lehrkräfte sehr gut an, sorgt für ein kluges gemeinsames pädagogisches Verständnis, obwohl er selbst keine pädagogische Ausbildung hat.

Natürlich ist eine gute Fachdidaktik aus deutscher Sicht wichtig, um die Lernprozesse voranzubringen. Aber auf der Basis der guten Lehrer-Schüler-Beziehung – die Kinder kommen gern und fühlen sich wohl – wird intensiv gelernt.

Wie lässt sich diese Lehrer-Schüler-Beziehung im Alltag beobachten?
Ein Beispiel: Als ich in einer Unterrichtsstunde hospitierte, war ich kurz vor der Pause mit einem Lehrer im Gespräch. Als dann die Pause begann, unterbrach der Lehrer abrupt unser Gespräch, sagte, es tue ihm leid, aber er müsse jetzt sofort mit den Kindern draußen spielen. Er ließ mich stehen und tobte mit den Kindern. Das habe ich in Deutschland so noch nicht erlebt.

Ebenso wichtig wie die intensiv genutzte Pausensituation ist die Zeit, bevor der Unterricht beginnt. Wenn die Kinder mit den Bussen eintreffen, spielen sie zunächst auf dem Hof, bevor das Gebäude geöffnet wird. Die Lehrkräfte stehen alle auf dem Pausenhof, begrüßen ihre Kinder und reden mit ihnen. Ganz oft sieht man einen Lehrer mit ein paar Kindern über den Hof schlendern. Wenn man dann genauer hinschaut, erkennt man, dass dabei eine ganz sensible Form der Diagnostik stattfindet. Die Lehrkräfte kennen ihre Kinder, können schnell erfassen, ob sie gerade Probleme haben, ob sie was gegessen haben, und wenn sie spüren, dass es jemandem schlecht geht, kümmern sie sich und besorgen beispielsweise etwas zu essen und zu trinken. Das sind nur kurze kleine Settings, aber von hoher Intensität. Sie sind sehr wichtig, damit Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler stabil sind, wenn die Unterrichtszeit beginnt. So haben sie sich gegenseitig versichert, dass sie arbeitsfähig sind. Dafür sind oft gar nicht viele Worte nötig, es gibt eine Art stilles Verständnis.

Die Schule führt uns vor, wie wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche gern in die Schule kommen.

 Worin besteht dieses gemeinsame Einverständnis?
Die gemeinsame Biografie, nämlich das Massaker in Shingal erlebt zu haben, verbindet auf eine Art, die man nicht aussprechen muss. Auch die gemeinsame schwierige Lebenswelt im Flüchtlingscamp muss nicht erklärt werden. Das Flüchtlingscamp existiert inzwischen im achten Jahr und war eigentlich immer nur als Übergang gedacht. Diejenigen, die dort seit Jahren leben, wissen, dass es diesen Übergang aber nicht gibt. Gleichzeitig ist von Jahr zu Jahr unklar, ob die UN das Camp weiter finanziert.

In dieser Situation gewinnt Bildung eine ganz besondere Bedeutung. Die Kinder wissen das. Sie wissen, dass sie in der Schule die Chance bekommen, etwas zu lernen, das ihnen irgendwann einmal den Weg raus aus dem Flüchtlingscamp in eine andere Welt öffnen könnte. Auch für die Lehrkräfte ist die Schule eine Perspektive, sie haben einen guten Arbeitsplatz und Job, der pünktlich bezahlt wird. Diese Verbindung einerseits über die Biografie andererseits über die Schule ist sehr besonders.

Diese besondere Sensibilität durch ein gemeinsames Erleben ist kaum auf andere Schulen übertragbar. Gibt es dennoch etwas, was aus Ihrer Sicht Schulen in Deutschland von der Schule „Our Bridge“ lernen könnten, zum Beispiel im Umgang mit geflüchteten Kindern?
Eigentlich erscheint es skurril, zu überlegen, was wir hier in Deutschland von einer Schule lernen können, die einige Studenten ohne pädagogische Ausbildung in dieser Krisenregion unter katastrophalen Bedingungen aufgebaut haben. Dennoch gibt es eine Erkenntnis, die auch für die Schulen hier von Bedeutung ist.

Die Schule führt uns vor, wie wichtig es ist, dass Kinder und Jugendliche gern in die Schule kommen. Schulzeit ist Kindheit und Jugendzeit und hat eine wichtige Entwicklungsfunktion. Wir sollten darüber nachdenken, ob dieses Sich-Wohlfühlen nicht einen höheren Stellenwert verdient als Voraussetzung für erfolgreiche Lernprozesse.

Wir tendieren in Deutschland bei all den Problemen schnell dazu, uns stark auf die Entwicklung der Kompetenzen zu fokussieren. Das ist auch nicht verkehrt, aber die Kompetenzen können erst dann entwickelt werden, wenn die Kinder am Tisch sitzen und aufnahmebereit sind. Wir unterschätzen dabei, wie viel da vorher passieren muss. Es gibt auch in Deutschland viele Schulen, in denen die Kinder und Jugendlichen mit extrem schwierigen Voraussetzungen kommen. Natürlich trifft das in besonderem Maße auf geflüchtete Schülerinnen und Schüler zu, aber nicht nur. Es gibt Schulen in sozial schwierigen Lagen, wo es auch darauf ankommt, dass die Kinder beispielsweise zunächst etwas essen und trinken, wenn sie morgens ankommen.

Wir müssen in diese Voraussetzungen investieren. Dabei spielt die Lehrer-Schüler-Beziehung eine große Rolle. Ich finde, es wäre hierzulande eine Diskussion wert, wie wir das Wohlbefinden stärken können. Wenn es darum geht, Bildungsziele für die Schule zu definieren, wie zuletzt beim Bildungsgipfel, dann sollten Wohlbefinden und Gesundheit einen genauso hohen Stellenwert bekommen wie die Kompetenzentwicklung und auch genauso systematisch zu evaluiert werden. Wenn es den Kindern nicht gut geht, wird auch eine gute Didaktik und Unterrichtsqualität nicht viel nutzen. Darüber müssen wir uns im Klaren sein.

Wäre es sinnvoll, das Modell „Our Bridge“ auch in anderen Flüchtlingscamps anzubieten? Wie könnte das finanziert werden?
Allein im Nordirak gibt es 20 Geflüchtetencamps für Menschen, die unter dem Massaker im Shingal gelitten haben. Weltweit gibt es 45 Millionen Geflüchtete. Es ist also tatsächlich eine bedeutsame globale Frage, wie sich Bildungsprozesse in Flüchtlingscamps aufbauen lassen, zumal die Fluchtbewegungen in Zukunft aufgrund von Klimaveränderungen eher noch zu- als abnehmen werden. „Our Bridge“ kann hier als erfolgreiches Modell gelten.

Vorstellbar wäre ein Konsortium von Expertinnen und Experten für Entwicklungszusammenarbeit, die im engen Verbund mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort solche Schulen aufbauen. Der Vorteil ist, dass in den Camps selbst Menschen mit großer Expertise leben, Lehrkräfte, die dabei helfen können. Das ist ein großes Potenzial. Zum anderen könnten auch digitale Möglichkeiten solche Konzepte ergänzen, beispielsweise, um international anerkannte Abschlüsse zu erreichen. Das könnte eine Chance für Geflüchtete weltweit sein.

Doch die Ausweitung eines solchen Modells ist nicht einfach. Die Schule „Our Bridge“ hat Spendenzusagen über mehrere Jahre hinweg. Das ist ungewöhnlich. Stiftungen, die in den Flüchtlingscamps besonders aktiv sind, finanzieren in der Regel nur Projekte über ein Jahr, denn die Camps selbst werden ja als befristete Unterbringungen gesehen. Um erfolgreiche Bildungseinrichtungen aufzubauen, bräuchte es aber eine stabile Finanzierungszusage etwa über mindestens zehn Jahre.

Zur Person

Bildungsforscher Thorsten Bohl
©Privat
  • Thorsten Bohl ist Erziehungswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Tübingen. Seit 2015 leitet er als Direktor die Tübingen School of Education. Arbeitsschwerpunkt: Unterrichts- und Schulforschung, Unterrichts- und Schulentwicklung, Lehrerbildung.
  • Er leitete die Tübinger Forschungsgruppe, die die Schule Our Bridge im Nordirak untersucht hat.
  • Seit September 2022 ist er Vorsitzender der Jury des Deutschen Schulpreises.