Diversity-Tag : Wie ein transidentes Kind eine Schule verändert

Lange hat Lehrerin Anaïs D.* die Ursache des psychischen Leidens ihrer Schülerin nicht erkannt. Als Pauline sich outete und zu dem Jungen Simon wurde, war die Unsicherheit allseits zunächst groß. Simon hat die Schulkultur verändert und ein Thema auf die Agenda gesetzt, mit dem sich die meisten bis dahin noch nie beschäftigt hatten. Das Schulportal sprach mit der Lehrerin über den Lernprozess der Schule im Umgang mit Transidentität.

ein Junge und ein Mädchen stehen vor einem Baketballkorb
Schule sollte ein Ort sein, in dem Kinder erfahren, dass transidente Menschen zur Normalität gehören. (Symbolbild)
©GettyImages

Wenn Lehrerin Anaïs D. sich an ihren ehemaligen Schüler Simon erinnert, dann ist er von Anfang an ein Junge. Dass sie ihn in der zweiten Klasse als Mädchen mit einem weiblichen Vornamen kennengelernt hatte, spielt heute keine Rolle mehr. Dabei hat sie lange nicht erkannt, dass vor ihr ein Junge stand, in einem Körper mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen.

Simon hieß damals „Pauline“ und hatte lange Haare. „Es war schnell klar, dass das Kind ein Problem hat“, sagt die Lehrerin einer Schule in Brandenburg. Simon war in sich gekehrt, wirkte depressiv, ja geradezu lebensmüde. Hinzu kamen Essstörungen und Formen der Selbstverletzung. Der Schwimmunterricht löste Angstzustände und Tränen aus, Toilettenbesuche und Klassenreisen waren ein großes Problem.

Die Lehrerin führte Gespräche im Kollegium in sogenannten Fallkonferenzen, auch die anderen Lehrerinnen und Lehrer spürten, dass das Kind psychisch stark belastet war. „Aber niemand kam darauf, was die Ursache für diese Auffälligkeiten sein könnte“, sagt Anaïs D. Die Klassenlehrerin baute einen engen Kontakt zu den Eltern auf. Die Eltern suchten Hilfe und nahmen die Gespräche dankbar an, hatten jedoch selbst keine Erklärung für das offenkundige seelische Leiden ihres Kindes. Auch eine Therapie konnte den Lebensmut des Kindes nicht zurückbringen.

Die langen Haare wichen einer Kurzhaarfrisur

In Laufe der zweiten Klasse ließ sich Simon die langen Haare abschneiden und die Seiten kurz rasieren, auf dem Hof spielte er immer schon gern mit den anderen Jungen Fußball. Dass dieser Akt ein erster Befreiungsschlag war, merkten zu diesem Zeitpunkt weder die Eltern noch die Lehrkräfte. Als Anaïs D. die Klasse nach der dritten Klasse abgab, hatte sie für jedes Kind neben dem Zeugnis noch einen Text geschrieben. Darunter klebte ein Foto von der Einschulung. Simon war darauf mit langen Haaren zu sehen, wenn auch schon jungenhaft gekleidet. Für Simon war das ein Rückschlag – er hasste das Zeugnis, wollte es am liebsten verbrennen. Anaïs D. war überrascht von dieser heftigen Reaktion auf das eigentlich so wertschätzende Zeugnis.

Schließlich war es Simon selbst, der den seelischen Druck nicht mehr aushielt und sich outete. In den Sommerferien erklärte er seinen Eltern, dass er kein Mädchen sei, wie sie bisher annahmen, sondern ein Junge. Schon als Dreijähriger hatte er davon gesprochen, dass er lieber kein Mädchen wäre. Die Eltern sahen darin kein Problem. Dass es Mädchen gibt, die lieber mit Autos spielen, und Jungen, die sich gern mit Puppen beschäftigen, ist schließlich nicht ungewöhnlich. Erst als Simon im Alter von zehn Jahren immer noch – und immer ernsthafter und reflektierter – davon sprach, kein Mädchen zu sein, wurde den Eltern plötzlich klar, dass die geschlechtliche Identität Ursache seiner psychischen Belastung ist.

„Heute frage ich mich, wie wir so blind sein konnten. Aber von Transidentität hatte ich bis dahin überhaupt keine Vorstellung“, sagt die Lehrerin. Dass Jungen mal lange Haare und Mädchen auch mal kurze Haare habe, fand sie – genau wie Simons Eltern – ganz normal. „In meiner Vorstellung konnten Mädchen all das machen, was Jungen auch machen. Und umgekehrt. So bin ich als 68er-Kind groß geworden. Das Geschlecht spielte keine Rolle. Auch was die sexuelle Orientierung angeht. Schwul, lesbisch oder bi – alles ist möglich“, sagt sie.

Bei transidenten Kindern aber sei das anders. Das Geschlecht spiele eine sehr große Rolle – es ist das größte Problem überhaupt, denn es ist eben das falsche Geschlecht. Mit sexueller Orientierung habe das überhaupt nichts zu tun, deshalb solle man auch den häufig genutzten Begriff „transsexuell“ vermeiden.

Etwa einer von 200 Menschen ist transident

Transidente Kinder sind selten, und dennoch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass jede Lehrkraft mindestens einmal in ihrer beruflichen Laufbahn mit einem solchen Fall in Berührung kommt.

Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e. V. geht davon aus, dass etwa 0,6  Prozent der Menschen transident sind, sich also nicht ihrem angeborenen Geschlecht zugehörig fühlen. Darin enthalten sind auch etwa 15 Prozent nichtbinäre Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen keine Vornamens- oder Personenstandsänderungen anstreben. Auf 200 Menschen komme demnach im Durchschnitt etwa 1 transidente Person.

Simon hatte das Pech, dass er an seiner Schule der erste Fall war, der sich outete, sonst wäre die Ursache seiner psychischen Probleme möglicherweise schon früher erkannt worden.

„Ich habe mit den Erzieherinnen und Erziehern aus der Kita von Simon gesprochen. Auch da hatten sich schon deutliche Anzeichen gezeigt. Das wissen wir im Nachhinein“, sagt Anaïs D.

Zusammen mit drei weiteren Kolleginnen aus der Schule hatte sie nach Simons Outing zunächst eine Fortbildung besucht. „Wir wollten mehr über Transidentität erfahren und vor allem darüber, wie die Schule das Kind am besten unterstützen kann“, sagt sie. Diese Fortbildung habe bei ihr ein neues Bewusstsein für alle Transgender-Fragen geweckt. Vor allem darüber, dass die Schule ein Ort sein sollte, in dem Kinder erfahren, dass transidente Menschen zur Normalität dazugehören. Dass sie in einem Umfeld leben, in dem ein Outing kein Problem ist.

Als Lehrkraft nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen

Doch wie schafft man ein solches Umfeld? In der Fortbildung gab es auch dazu konkrete Hinweise. Lehrerin Sandra H. hatte die Klasse in der vierten Jahrgangsstufe übernommen. Auch sie hatte die Fortbildung besucht, denn schließlich hatte sie die Aufgabe, Simon, den alle bisher als Mädchen kannten, in der Klasse nun als Jungen einzuführen.

Ganz wichtig war – das hatte sie in der Fortbildung gelernt –, dass sie als Klassenlehrerin nicht den geringsten Zweifel aufkommen lässt. „Ich war sehr aufgeregt, wollte nichts falsch machen. Zusammen mit der Schulleitung habe ich mir den Text vorher überlegt und auswendig gelernt, um mich nicht zu verhaspeln und somit Unsicherheit auszustrahlen“, erzählt Sandra H. Die Klasse habe zunächst erstaunlich gelassen reagiert und auch den neuen Namen sofort angenommen. Es gab zwei bis drei Nachfragen, und dann sei das Thema erledigt gewesen.

Schnell gewöhnten sich die Kinder an den neuen Namen, den sich Simon selbst gewählt hatte. Möglichst keine Silbe sollte dabei an seinen alten Namen erinnern.

Die Formalien ließen sich relativ einfach regeln, nachdem die Eltern durch das sehr komplizierten Personenstandsverfahren gegangen waren. Auf den Zeugnissen stand nun der neue Name – Unsicherheiten, ob dies erlaubt sei, waren schnell ausgeräumt. „Ich habe ihm sogar die alten Zeugnisse bis zur dritten Klasse noch mal neu geschrieben, er wollte sie gern aufbewahren – und natürlich ohne das Einschulungsfoto“, ergänzt seine ehemalige Lehrerin Anaïs D.

Neuanfang  an einer anderen Schule

Mit der Zeit erwies sich jedoch, dass der Neuanfang für Simon komplizierter war als angenommen. Einige Jungen in der Klasse hatten Schwierigkeiten, Simon als ihresgleichen zu akzeptieren und in ihren Kreis aufzunehmen, sei es bei der Toilettenfrage oder bei der Zuteilung der Zimmer auf der Klassenfahrt. Simon bekam eine Extra-Toilette, doch diese Sonderbehandlung barg neue Probleme. Und auch einigen Lehrkräften fiel die Umstellung nicht leicht. „Wenn sich ein Lehrer oder eine Lehrerin versprach und das falsche Pronomen verwendete, war das für Simon ein Schlag ins Gesicht“, sagt Anaïs D.

In der siebten Klasse schließlich kam von Simon der Wunsch, an eine andere Schule zu wechseln. An eine Schule, wo ihn niemand unter seinem Mädchennamen kennengelernt hat. Wo seine Identität als Junge nicht infrage gestellt wurde.

„Wir haben versucht, ihn zu halten, und ihm auch den Wechsel in eine andere Lerngruppe angeboten“, sagt Anaïs D. „ Um ihm zu zeigen, wie sehr wir ihn schätzen. Aber das war zu kurz gedacht.“ Für Simon stand die Entscheidung fest. Er wollte das Thema abschließen, sich nicht mehr erklären, einfach nur der sein, der er ist.

Ein Versagen der Schule würde Anaïs D. heute darin nicht mehr sehen, auch wenn ihr sehr bewusst ist, wie viele Verletzungen Simon im Laufe seiner Zeit an ihrer Schule erlitten hat. Für viele transidente Kinder sei es einfacher, die Schule oder auch den Wohnort zu wechseln. Das werde vielleicht nicht mehr nötig sein, wenn in der Gesellschaft mehr über Transidentität bekannt ist. Und dafür setzt sich Anaïs D. weiter an ihrer Schule ein.

Gendergerechte Sprache in der Schule bietet Gesprächsanlässe zum Thema Transidentität

Mit ihren Schülerinnen und Schülern kommt sie auch nach dem Schulwechsel von Simon über das Thema ins Gespräch. Wie? Zum Beispiel über gendersensible Sprache. „Wenn ich den Kindern erkläre, warum ich bei ,Schüler:innen‘ eine Lücke spreche, dann kommt schon mal zur Sprache, dass männliche und weibliche Identitäten nicht unbedingt angeboren sein müssen, dass Menschen selbst darüber bestimmen können und es auch etwas dazwischen gibt“, sagt die Lehrerin.

Während sie vor dem Coming-out von Simon die gendergerechte Sprache eher als zu umständlich abgelehnt hatte, sieht Anaïs D. darin nun eine große gesellschaftliche Bedeutung. In den höheren Klassenstufen zeigt sie gern den Dokumentarfilm „Mädchenseele“, um mit den Schülerinnen und Schülern über die Thematik Transidentität ins Gespräch zu kommen. Die Lehrerin würde sich wünschen, dass auch in den Lehrbüchern und in Kinderbüchern ab und zu transidente Menschen vorkommen – einfach, um deutlich zu machen, dass es sie gibt und dass sie zur Normalität dazugehören.

Doch nicht nur die Kinder brauchen die Aufklärung, sondern auch Pädagoginnen und Pädagogen und natürlich Eltern. Die Schule von Anaïs D. organisiert in diesem Schuljahr im September zum ersten Mal einen Info-Tag für alle interessierten Lehrkräfte und Eltern, gemeinsam mit der Elterninitiative Trans-Kinder-Netz e. V., in der auch die Eltern von Simon aktiv sind.

Auch wenn Simon nicht mehr an der Schule ist, so hat er doch das Bewusstsein und die Sensibilität vieler Lehrkräfte und vieler Schülerinnen und Schüler dort nachhaltig verändert.

* Die Namen der Personen sind geändert

Auf einen Blick

  • Der Verein Trans-Kinder-Netz e.V. wurde von Eltern gegründet, um bei Menschen im Umfeld und in Institutionen ein besseres Verständnis für Transidentität zu erreichen. Der Verein bietet auch Fortbildungsangebote für Kitas und Schulen. Auf der Homepage sind zudem Buch- und Film-Tipps zum Thema zu finden.
  • Die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e. V. unterhält in einigen Bundesländern Beratungsstellen.  Auch hier gibt es Fortbildungsangebote für Pädagog:innen.
  • Der Dokumentarfilm „Mädchenseele“ wird in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung angeboten. Der Film zeigt die Entschlossenheit eines 7-jährigen Mädchens seine selbstgewählte Geschlechtsidentität zu leben und welche Herausforderungen sich dadurch in der Familie und im Umfeld ergeben.