Inklusion : Wie aus den Kindern der Utopie Erwachsene werden
In dem neuen Dokumentarfilm „Die Kinder der Utopie“ treffen sich sechs junge Erwachsene wieder, die gemeinsam in einer der ersten inklusiven Schulen zusammen gelernt haben. Inklusions-Aktivist Raúl Krauthausen war selbst Schüler dieser Berliner Grundschule. Mit einer ungewöhnlichen Kampagne will er gemeinsam mit dem Filmemacher Hubertus Siegert dafür sorgen, dass am 15. Mai ganz Deutschland über den Film spricht und darüber wie die einst gesellschaftliche Utopie der Inklusion zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention Wirklichkeit wird.
In der großen Pause stürmen die Kinder der Fläming-Grundschule auf den Pausenhof mit der großen Kletterspinne. Raúl Krauthausen, der Inklusions-Aktivist, steht gemeinsam mit Filmemacher Hubertus Siegert vor der Pforte zum Schulhof und reist in Gedanken in die Vergangenheit. Wir sind mit den beiden an der Schule im Berliner Stadtteil Friedenau verabredet, um mit ihnen über den Dokumentarfilm „Die Kinder der Utopie“ zu sprechen, der am 15. Mai in ganz Deutschland in den Kinos laufen wird.
Raúl Krauthausen, der in seinem Elektrorollstuhl gerade mal auf eine Höhe von 1,20 kommt, und der Zwei-Meter-Mann Hubertus Siegert kennen sich erst seit einem Jahr, doch sie wirken wie vertraute Freunde. Nicht nur dieser Ort verbindet die beiden, sondern auch das Ziel, das Thema Inklusion aus der problembehafteten Ecke zu holen und den Blick auf das große gesellschaftliche Ziel zu richten, das sich dahinter verbirgt.
Vor 30 Jahren war es selbstverständlich, dass behinderte Kinder an die Sonderschule gehören
„Als Kind kam mir hier alles viel größer vor“, sagt Krauthausen, als er über den Schulhof rollt. „Das ist erstaunlich – du bist ja heute kaum größer als damals“, antwortet Regisseur Siegert amüsiert. Das bedeute wohl, dass diese Wahrnehmung gar nichts mit der Körpergröße zu tun hat, sondern eher mit dem Erfahrungshorizont, stellt Siegert fest. Krauthausen hat von 1987 bis 1993 an der Fläming-Grundschule gelernt und gehörte vor gut 30 Jahren zu jenen Schülerinnen und Schülern, die Teil des seinerzeit mutigen Versuchs wurden, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam an einer Schule zu unterrichten. Bis dahin war es selbstverständlich, dass behinderte Kinder an die Sonderschule gehören.
Hubertus Siegert hatte vor zwölf Jahren in einer fünften Klasse der Fläming-Grundschule den Dokumentarfilm „Klassenleben“ gedreht, der ein überraschend großer Kinoerfolg wurde und bis heute häufig Lehramtsstudierenden an den Universitäten gezeigt wird, damit sie sich ein Bild davon machen können, wie der Alltag an einer inklusiven Schule aussehen kann.
Zehn Jahre später sind die damals Elf- oder Zwölfjährigen auf dem Sprung ins Erwachsenenleben. Der neue Dokumentarfilm „Die Kinder der Utopie“ bringt die Filmhelden von damals wieder zusammen und zeigt, wie sie sich entwickelt haben. Es ist ein leiser und sehr emotionaler Film über das Erwachsenwerden und über die Inklusion.
Raúl Krauthausen, der bundesweit zu den wichtigsten Fürsprechern der Inklusion gehört, war sofort bereit, die besondere Kampagne zum Film zu unterstützen: „Wir wollen, dass am 15. Mai ganz Deutschland über diesen Film spricht“, sagt er.
Einen Aufzug gab es an der Fläming-Grundschule damals nicht
Warum der Film für ihn so wichtig ist? Das erfahren wir bei einem gemeinsamen Spaziergang auf dem Weg, den er als Schüler täglich zusammen mit den anderen Kindern von der Schule zum einstigen Kinderladen zurücklegte. Zuvor wagt Krauthausen aber noch einen Blick in das Gebäude. Mit einem Aufzug kommt er in den Klassenraum in der dritten Etage. „Einen Aufzug gab es damals nicht, nur einen unfassbar langsamen Treppenlifter. Meinen kleinen Rollstuhl damals haben die Kinder die Treppen hochgetragen“, erzählt er. Als er durch die Gänge fährt, wird er von vielen Lehrkräften überrascht begrüßt. Im Klassenraum schaut er sich um: „Eine Kuschelecke hatten wir auch – aber gab es damals schon so viele Stühle und Tische?“
Früher seien in einer Klasse 18 bis 20 Schülerinnen und Schüler gewesen, heute seien es 25, erklärt die Schulleiterin Christiane Wendt. Die Bedingungen seien in vielen Bereichen heute schwieriger geworden. Die Zahl der Kinder in Berlin wachse, gleichzeitig gebe es einen großen Fachkräftemangel. In Gesprächen mit Eltern, die sich die Schule für ihre Kinder anschauen, spüre sie zunehmend, dass die Euphorie für die Inklusion häufig erloschen ist. Dabei seien die Konzepte inzwischen gut erprobt und weiterentwickelt. Nur weil die Ressourcen nicht reichten, werde gleich die ganze Idee über Bord geworfen, sagt die Schulleiterin.
Die Initiative für den inklusiven Schulversuch kam von den Eltern
Krauthausen und Siegert wollen das ändern. „Was schon vor 30 Jahren geklappt hat, funktioniert noch immer. Das wollen wir der Welt zeigen“, sagt Krauthausen. Auf dem Weg Richtung Kinderladen erzählt Krauthausen von den Anfängen. Es waren die Eltern der integrativen Kitagruppe des nahe gelegenen Kinderhauses Friedenau, die ihre Kinder damals gern als geschlossene Gruppe an die Fläming-Schule wechseln lassen wollten. Seine Mutter habe sich bis dahin gar nicht mit reformpädagogischen Konzepten befasst, sie vertraute einfach den anderen Eltern. Und die Schule habe sich auf die Eltern eingelassen. Das gesamte Kollegium war hoch engagiert – dabei habe es kaum Konzepte gegeben, wie der Unterricht funktioniert.
„Hier gab es eine Eisdiele“, sagt Krauthausen und zeigt auf ein Dessous-Geschäft. Vieles auf dem Weg hat sich verändert – der ehemalige „Plus“-Markt ist heute ein Bio-Markt, und auch die vielen Shisha-Bars hatte es damals nicht gegeben. „Natürlich war auch bei uns nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen“, sagt Krauthausen. Wie in jeder Klasse habe es Kinder gegeben, die auch mal genervt haben; es habe auch Schlägereien gegeben und natürlich auch manchmal gestresste und überforderte Lehrerinnen und Lehrer. Schulgarten sei für ihn ein Albtraum gewesen, weil er nicht mit anfassen konnte, und Sport habe er ab der fünften Klasse nicht mehr mitmachen können.
Wie man in der Leistungsgesellschaft mit Schwächen umgeht
Der damalige Film „Klassenleben“ zeigte den Alltag so, wie er war, ohne etwas zu beschönigen oder zu erklären. Und dabei standen immer die Kinder im Fokus. „Für mich ging es auch immer um die Frage, wie man in der Leistungsgesellschaft mit Schwächen umgeht“, sagt Regisseur Siegert auf dem Weg entlang der Rheinstraße. Das betreffe jeden, nicht nur behinderte Menschen, und so erkläre er sich auch, dass sich von dem Film so viele Menschen emotional angesprochen fühlten. Eine Fortsetzung war nie geplant, bis der Regisseur zufällig Denis wieder traf, einen der Hauptprotagonisten von „Klassenleben“.
Der Fünftklässler von damals war inzwischen Tänzer und Sänger an einer Musicalbühne und erzählte, was die anderen mittlerweile machten. Die eine studierte, der andere arbeitete in einer Behindertenwerkstatt, und der nächste hatte gerade sein Coming-out gehabt. So entstand die Idee, für einen neuen Dokumentarfilm die Klasse von damals noch mal zusammenzubringen. Diesmal stand nicht das Schulgeschehen im Vordergrund, sondern die Schritte ins Erwachsenenleben. In den Zusammenschnitten mit den Szenen von damals werde sichtbar, wie die Kinder sich entfalten und dennoch sie selbst bleiben, sagt Siegert. „In der so aufgeheizten Debatte um Inklusion wollen wir mit dem Film ,Die Kinder der Utopie‘ dazu einladen, die Perspektive der Kinder und Jugendlichen einzunehmen. Denn die werden selten gefragt“, sagt Hubertus Siegert.
Bereits 10.000 Menschen sorgen dafür, dass der Film in vielen Städten gezeigt wird
Raúl Krauthausen ist überzeugt, dass die Erfahrung an der Fläming-Grundschule ihn entscheidend geprägt hat. Er selbst habe sich immer an den besten in der Klasse orientiert, das sei sein Ansporn gewesen. Eine Schlüsselerfahrung für ihn war, als eine geistig behinderte Schülerin aus der Klasse unbedingt schreiben lernen wollte, wie alle anderen auch. Alle hätten ihr gesagt, das müsse sie nicht lernen, doch sie sei hartnäckig geblieben. Am Ende des Schuljahrs konnte sie schreiben. „Uns allen hat das gezeigt, dass man Grenzen verschieben kann“, sagt Krauthausen.
Der 15. Mai soll ein bundesweiter Aktionsabend werden, den die interessierten Menschen vor Ort selbst organisieren. Und der Plan geht offensichtlich auf: „Es ist schon etwas Außergewöhnliches, dass eine Handvoll Leute rund um diesen Film eine Graswurzelbewegung in Gang bringt und dass bundesweit schon 10.000 Leute dafür sorgen, dass der Film in sehr vielen Städten gezeigt wird und zum Anlass für Gespräche und Diskussionen über Inklusion wird“, betont Krauthausen.
- Der Film „Die Kinder der Utopie“ wird nur an einem einzigen Abend in den deutschen Kinos gezeigt: am Mittwoch, dem 15. Mai 2019.
- An diesem Aktionsabend wird es im Anschluss an die Filmvorführung Gesprächsrunden geben, um Raum zum Nachdenken und Erfahrungsaustausch über Inklusion zu schaffen.
- Wo der Film überall laufen wird und wie man selbst dafür sorgen kann, dass der Film in die eigene Stadt kommt, erfährt man im Internet unter www.diekinderderutopie.de.