Sozialarbeit : „Die Überforderung der Eltern führt zu Konflikten“

Während der Schulschließung stehen Familien vor großen Herausforderungen. Die Kinderbetreuung bei gleichzeitiger beruflicher Tätigkeit führt oft zu Überforderungen und Konflikten. Wie kann Schulsozialarbeit hier helfen, gibt es auch in den Ferien Unterstützung für die Familien, und wie wird der Kinderschutz in der Corona-Krise aufrechterhalten? Über diese Fragen sprach das Schulportal mit Sascha Mase, Leiter des Bereichs Schulsozialarbeit des gemeinnützigen Trägers tandem BTL in Berlin.

Ein Junge schaut Fernsehen und ist dabei eine Pizza
Kinderbetreuung und Homeoffice in Einklang zu bringen, ist für Familien eine große Herausforderung. Die Schulsozialarbeit bietet Unterstützung für Kinder und Eltern.
© Jesús Hellín/dpa

Schulportal: Während der Schulschließung drohen Kinder in krisenbelasteten Familien aus dem Blick zu geraten. Wie halten die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter Kontakt zu den Familien?
Sascha Mase: Schulsozialarbeit lebt ja eigentlich von der Präsenz in der Schule. Jetzt ist die Situation eine völlig andere, die Kolleginnen und Kollegen haben aber schnell kreative Lösungen gefunden, um darauf einzugehen. Viele nutzen Kontaktmöglichkeiten über digitale Medien und soziale Netzwerke. Es gibt Beratungsangebote über Skype oder ähnliche Anbieter für Schülerinnen und Schüler, aber auch für Eltern, die mit der Situation überfordert sind. Die Eltern können sich Tipps holen, wie sie jetzt mit ihren Kindern den Alltag gestalten. Es ist ja eine große Herausforderung, die Betreuung der Kinder in Einklang zu bringen mit den beruflichen Tätigkeiten. Kolleginnen und Kollegen von der Grundschule am Stadtpark in Steglitz haben zum Beispiel einen täglichen Brief entwickelt, der sich an die Kinder richtet. Eltern können diesen Brief von der Schul-Website herunterladen. In dem Brief schreiben sie aus der Perspektive der Giraffe „Raffi“  – es geht um Verhaltenstipps oder auch darum, bei den Kindern Verständnis für die Probleme der Eltern zu entwickeln, die ja weiter arbeiten müssen. Die Figur „Raffi“ kennen die Kinder bereits, weil sie durch die Schulsozialarbeit schon im normalen Schulalltag nach dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation eingeführt wurde. Der Link mit den Briefen der Giraffe hatte in den vergangenen Tagen über 400 Aufrufe – das Angebot wird also stark genutzt.

Erreichen Sie die Schülerinnen und Schüler nur über die Elternhäuser?
Nein, gerade bei den älteren Schülerinnen und Schülern ist der direkte Kontakt unabhängig von den Eltern wichtig, um Vertrauen aufzubauen und auch um die Probleme besser zu erfassen. Dabei sind Kanäle wie Messenger-Dienste oder Instagram wichtig, die sonst von der Schulsozialarbeit nicht genutzt werden. Die Kolleginnen und Kollegen der Konrad-Wachsmann-Schule – einer Integrierten Sekundarschule in Marzahn-Hellersdorf zum Beispiel – nutzen derzeit Instagram, um Kontakt zu Schülerinnen und Schülern aufzubauen, die vor der Schulschließung in Kleingruppen von der Schulsozialarbeit gefördert wurden, weil sie Schwierigkeiten haben, mit dem Schulalltag zurechtzukommen. Für diese Kleingruppen soll es nun zum Beispiel gemeinsame Videokonferenzen geben. Um die Schülerinnen und Schüler überhaupt in diese Konferenzen einzuladen, ist der Kontakt über Instagram wichtig. Schulsozialarbeit muss lebensweltorientiert sein, und der Kontakt über E-Mail funktioniert bei den Jugendlichen häufig nicht.

Können die Kolleginnen und Kollegen der Schulsozialarbeit auch trotz Kontaktsperre Hausbesuche machen?
Wir haben natürlich auch Kinder aus krisenbelasteten Familien, die wir jetzt nicht mehr sehen. Hier gibt es die Möglichkeit der Hausbesuche oder die Option, sich direkt mit den Jugendlichen zu treffen, um sie im Blick zu behalten. Die Kolleginnen und Kollegen versuchen, die Jugendlichen – zum Beispiel in unserer Tagesgruppe in Marzahn – zwei- bis dreimal pro Woche zu sehen, etwa bei einem Spaziergang im Park, um zu erfahren, wie sie mit der Situation klarkommen und ob sie Hilfe brauchen. Die Tagesgruppe ist ein schulersetzendes Angebot für Jugendliche, die bisher gar keinen Zugang mehr zu ihrer Schule gefunden haben.

Es lastet ein hoher Druck auf den Kolleginnen und Kollegen, wenn sie die Kinder nicht sehen und nur über den Telefonkontakt einschätzen müssen, welche Maßnahmen jetzt richtig sind.

Auch bei Kindern und Jugendlichen, die ursächlich wegen des Verdachts der Kindeswohlgefährdung in Angeboten der Sozialarbeit sind, muss man jetzt genau hinschauen. Es gibt Familien, die rufen die Kolleginnen und Kollegen täglich an, um dann sensibel, oft auch nach Gefühl – weil keine andere Möglichkeit besteht –, zu entscheiden, ob ein Hausbesuch nötig ist oder das Jugendamt mit einbezogen werden sollte. Es lastet ein hoher Druck auf den Kolleginnen und Kollegen, wenn sie die Kinder nicht sehen und nur über den Telefonkontakt einschätzen müssen, welche Maßnahmen jetzt richtig sind.

Es gibt doch sicher auch Familien, die telefonisch gar nicht erreichbar sind. Wie stellen Sie in diesen Fällen den Kontakt her?
Neben der Schulsozialarbeit haben wir bei tandem BTL noch einen Bereich „Ambulante Hilfen“, wo die Kolleginnen und Kollegen im Auftrag des Jugendamtes Familienhilfe leisten, etwa weil es eine Kindeswohlgefährdung in einer Familie gibt. Hier ist es tatsächlich schon vorgekommen, dass Eltern sagen, sie wollen jetzt keinen Besuch der Familienhelferin oder des Familienhelfers, weil sie Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus hätten. In diesen Fällen ist es wichtig, wieder Vertrauen aufzubauen und recht schnell in die Familien reinzukommen. Falls das nicht möglich ist, arbeiten wir mit dem Jugendamt zusammen, wenn zum Beispiel Gefahr in Verzug ist. Das Jugendamt hat die Möglichkeit, die Auflagen zu verstärken, bis hin zur Anrufung des Familiengerichts.

Kooperieren Lehrkräfte mit der Schulsozialarbeit während der Schließzeit?
Ja, es gibt einen engen Austausch mit den Lehrkräften. Wir sind mit 130 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern an 45 Schulen in Berlin aktiv, und wir haben mit allen Schulen spezielle Konzepte für die Schulschließungen erarbeitet. Gerade bei Kindern, die es in der Schule sehr schwer haben, mitzukommen, beraten die Kolleginnen und Kollegen gemeinsam mit den Lehrkräften, wie sie unterstützt werden können. Und natürlich wird in den Konzepten auch abgestimmt, was in den Kinderschutzfällen jetzt am besten gemacht werden sollte.

Angesichts der Ausnahmesituation treten sicher auch in Familien, die bisher nicht im Blick der Sozialarbeit waren, Krisen auf. Melden sich diese Familien bei der Schulsozialarbeit?
Wir befürchten, dass es da eine hohe Dunkelziffer gibt. Die Überforderung ist ja da, das sieht jeder, der Kinder hat, bei sich zu Hause. Das führt zu Konflikten. Wenn Familien nicht stabil sind und Konflikte eskalieren, kann das schlimme Auswirkungen haben. Diese Familien melden sich aber leider in der Regel nicht. Der Zugang ist schwierig, wir sehen ja die Kinder derzeit nicht.

Wenn Familien nicht stabil sind und Konflikte eskalieren, kann das schlimme Auswirkungen haben. Diese Familien melden sich aber leider in der Regel nicht. Der Zugang ist schwierig, wir sehen ja die Kinder derzeit nicht.

Auf den Schulhomepages der Schulen die Kolleginnen und Kollegen mit ihren Kontakten zu finden. Hier wird immer wieder auf das alternative Beratungsangebot der Schulsozialarbeit hingewiesen. Allerdings wird dieses Angebot von überforderten Eltern eher selten wahrgenommen. Hier kann ich nur ermutigen, über den eigenen Schatten zu springen und sich an die Profis zu wenden, die sich mit solchen Konflikten auskennen und helfen können.

Ist die Schulsozialarbeit auch in den Ferien für die Familien da, oder sind diese jetzt auf sich allein gestellt?
Die meisten Kolleginnen und Kollegen haben normalerweise während der Ferien frei. In der jetzigen Situation haben sich aber schon einige Kolleginnen und Kollegen bereit erklärt, die Familien, mit denen sie einen intensiven Kontakt haben, auch in den Ferien weiter zu begleiten. Wenn wir einen großen Bedarf an sozialpädagogischen Angeboten während der Ferien sehen, soll dieser auch gedeckt werden. Einige helfen auch in den Notbetreuungen aus, die in den Ferien aufrechterhalten werden.

Zur Person

  • Sascha Mase ist Leiter des Bereichs Schulsozialarbeit der tandem BTL gGmbH. In diesem Bereich arbeiten etwa 130 Menschen an insgesamt 45 Schulen in ganz Berlin. Die Angebote reichen über Schulsozialarbeit, Schulstationen, temporäre soziale Gruppenangebote bis hin zu schulersetzenden Projekten.
  • Die tandem BTL gGmbH gehört zum sozialen Unternehmensverbund des Sozialverbandes VdK Berlin-Brandenburg. Zentrale Arbeitsfelder der gemeinnützigen Trägers sind Schulsozialarbeit an 45 Schulen Berlins, Kindertagesbetreuung an Grundschulen (3), Förderzentren (3) und Kitas (3), ambulante Hilfen sowie die Förderung von arbeitssuchenden Menschen.